Recht und Justiz

Die Inanspruchnahme von Sonderrechten durch Zivilkräfte der Polizei

Von PK Christian Arndt, Altenholz

Die durch § 35 StVO eingeräumten Sonderrechte gewährleisten in vielen Fällen erst eine sachgerechte Aufgabenwahrnehmung hoheitlich handelnder Organisationen. In diesem Beitrag geht es um die Inanspruchnahme von Sonderrechten durch Zivilkräfte der Polizei und damit durch Personen, die in der Regel nicht als Hoheitsträger zu erkennen sind.

1 Inhalt und Auslegung des § 35 StVO


Zunächst ist festzustellen, dass Sonderrechte gemäß § 35 StVO trennscharf vom Wegerecht gemäß § 38 StVO abzugrenzen und unabhängig davon zu prüfen sind.2 Die Sonderrechte befreien die dort aufgeführten Berechtigten in unterschiedlichem Maße von den Verhaltensvorschriften der StVO. Die Inanspruchnahme der Rechte muss der Erfüllung hoheitlicher Aufgaben dienen und dringend geboten sein. In § 35 Abs. 1 StVO wird u.a. auch die Polizei von den Vorschriften der StVO befreit. Der Terminus „Polizei“ist weit auszulegen und umfasst die Polizei im funktionellen Sinne.3

Keinesfalls geht es um den Polizeibegriff im materiellen Sinne und damit um eine Beschränkung auf die hoheitliche Gefahrenabwehraufgabe.4 Die Bestimmung beinhaltet ein personenbezogenes Privileg5, so dass es nicht auf die Art der Verkehrsbeteiligung (Kfz-Führer, Fahrradfahrer, Fußgänger) oder das Tragen einer Uniform ankommt.6 Eine hoheitliche Aufgabe ist mit jeder Diensthandlung verbunden, die der jeweiligen Organisation obliegt.7 Als dringend geboten ist eine Handlung stets dann anzusehen, wenn die Nichtbeachtung der Verkehrsregeln zur Erreichung des Einsatzzieles unerlässlich und zugleich angemessen ist.8 Hier ist eine Abwägung zwischen der Bedeutung und Dringlichkeit des Einsatzes mit den durch die Inanspruchnahme von Sonderrechten entstehenden Gefahren geboten.9 Das Ziel des Einsatzes muss ohne den Gebrauch von Sonderrechten gefährdet sein.10 „Dringend geboten im Sinne des § 35 Abs. 1 StVO meint nicht nur eine in der Vorstellung des Beamten tatsächlich vorhandene Eilbedürftigkeit, sondern räumt diesem einen Beurteilungsspielraum ein, innerhalb dessen er sein Handeln als zur Erfüllung seiner dienstlichen Aufgabe geboten werten darf.“11 Die Ausnahmeregelung des § 35 StVO betrifft sämtliche Vorschriften der StVO,12 setzt die Verkehrsregeln jedoch nicht vollständig außer Kraft,13 so dass der Einsatzfahrer unter besonderer Vorsicht und Umsicht agieren muss.14 „Den Erfordernissen der Verkehrssicherheit kommt stets Vorrang gegenüber dem Interesse des Einsatzfahrzeuges am raschen Vorwärtskommen zu.“15 Zudem ist die Sorgfaltspflicht umso größer, je mehr sich die Unfallgefahr durch die Fahrweise erhöht.16 Es muss eine objektive Bewertung der zu Beginn des Einsatzes bekannten Informationen stattfinden (ex ante). Der tatsächlich am Einsatzort vorgefundene Sachverhalt (ex post) ist ohne Relevanz.17

2 Bedeutung des § 35 Abs. 8 StVO


Eine wichtige Einschränkung der Rechtsposition enthält § 35 Abs. 8 StVO, indem dort festgestellt wird, dass Sonderrechte nicht schrankenlos gelten. Der Einsatzfahrer muss vielmehr alles dafür tun, um Schäden und Gefährdungen anderer Personen zu verhindern.18 Wörtlich ist von einer „gebührenden Berücksichtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ die Rede. Somit können lediglich Belästigungen und Behinderungen Unbeteiligter gerechtfertigt sein.19 Zutreffend hat das OLG Braunschweig dargelegt, dass Einsatzfahrer Gefährdungen anderer Personen auch dann vermeiden müssen, wenn sie zur Rettung von Menschenleben unterwegs sind und es unter keinen Umständen zulässig ist, gefährdete Menschen auf Kosten anderer zu retten.20

3 VwV-StVO


Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV-StVO) stellt zu § 35 Abs. 1 StVO fest, dass die Inanspruchnahme von Sonderrechten – soweit möglich und zulässig – durch blaues Blinklicht zusammen mit dem Einsatzhorn angezeigt werden soll. Die Vorschrift zielt hier auf eine bessere Erkennbarkeit ab. Durch das Abweichen vom normgerechten Verhalten ergeben sich Gefahrenquellen, die durch eine bessere Sichtbarkeit des Einsatzfahrzeugs minimiert werden können. Es handelt sich um eine Soll-Vorschrift, die Einfluss auf das Ermessen des Einsatzfahrers hat.21 Abweichungen von dieser Regelung können nur in Ausnahmefällen begründet werden, zu denen vor allem taktische oder sich aus § 38 StVO ergebende rechtliche Hürden gehören.22

4 Rechtsfolgen


§ 35 Abs. 1 StVO hat den Charakter einer eigenständigen Ermächtigung bzw. einer im Einzelfall ergänzenden Verfahrensvorschrift23 und befreit die Polizei beim Vorliegen der bestehenden Voraussetzungen von den Vorschriften der StVO. Damit gilt die Bestimmung zugleich als Rechtfertigungsgrund für ein ordnungswidriges Handeln.24 Ein Normadressat, der unberechtigt Sonderrechte in Anspruch nimmt, weil keine hoheitliche Aufgabe bzw. keine besondere Dringlichkeit im Sinne des § 35 Abs. 1 StVO vorliegt oder aber ein deutliches Missverhältnis zwischen missachteter Verkehrsregel und Einsatzanlass besteht, wird entsprechend der jeweiligen Regelverletzung sanktioniert.25 Liegen hingegen die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 StVO vor und werden allein die Grenzen des § 35 Abs. 8 StVO überschritten, erfolgt die Ahndung nach § 49 Abs. 4 Nr. 2 StVO.26 Unabhängig davon können in beiden Fallkonstellationen im Einzelfall erhebliche strafrechtliche Konsequenzen drohen.27

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