Kriminalitätsbekämpfung

Mafia als Staatsmacht?

– Russische Perspektiven –

Kapitalismus als Humus


Die ROK blüht seit Beginn der 1990er Jahre auf. Die damals zunehmende Schwäche des russischen Staatswesens war eine der Voraussetzungen für ihren Erfolg. Erst allmählich begannen die USA und die EU zu begreifen, welche Gefahren damit auch für die Interessen der westlichen Welt verbunden sind. Dennoch konnte die ROK in den vergangenen mehr als 20 Jahren weiter wachsen und gedeihen. Die Versuche der USA und der EU, dieser Entwicklung entgegenzuwirken sind fast alle gescheitert. Die ROK hat weiter Fuß gefasst, weil die Geschwindigkeit des ökonomischen Wandels sehr viel höher war als die aller gesetzgeberischen Anstrengungen. Die russischen Regierungen konnten das nach dem Fall der Sowjetunion entstandene legale Vakuum nicht ausfüllen. Es entstand eine ganz besondere Art des Kapitalismus, der durch umfassende Regelungsdefizite privilegiert wurde, während im Westen und der übrigen Welt allerdings schon ein „Finanzkrieg“ ausgebrochen war.7
Wie auch immer: Die ROK hatte freie Bahn. Kriminelle Netzwerke konnten sich in einen schwarzen Markt einbetten, der immer mehr und immer schneller um sich griff. Schon in der Sowjetunion unter Breschnjew war die ROK infolge allgegenwärtiger und sogar zunehmender Korruption weit verbreitet. Schon damals kam es zu einem „Waffenstillstand“ mit den sowjetischen Regierungen. Nach den von Gorbatschow verfügten Liberalisierungen wechselten die ROK-Gruppen einfach vom schwarzen Markt auf die neu entstehenden legalen Märkte. Es entstand das Konzept der „Diebe im Gesetz“. In organisierten kriminellen Netzwerken schufen „Mafia-Bosse“ ein System, das Anfang der 1990er Jahre noch viel hierarchischer strukturiert war als zehn und mehr Jahre später („Gulag-Schule“). Der gegenwärtige amerikanische Außenminister John Kerry hatte damals noch als Senator behauptet, dass die wirkliche Macht bei den russischen „Paten“ und ihren Verbündeten liege. Dazu zählten ehemalige KGB-Angehörige, die in wichtige Positionen in der privaten wie in der staatlich kontrollierten Wirtschaft gelangten, und Politiker in hohen Ämtern. Er sprach nachdrücklich von einer „Allianz“ zwischen russischen Amtsträgern und der ROK.
Diese Entwicklung ist nicht allzu überraschend, verloren doch viele staatliche Bedienstete ihre Arbeit und wähnten sich zum Anschluss an kriminelle Gruppierungen gezwungen. Es wechselten auch viele, die ihren Job zunächst noch behalten hatten, in das kriminelle Milieu, weil sie aus ihrer Sicht nicht mehr genug verdienten. Die ROK konnte so aufgrund weitverbreiteter Korruption Macht und Einfluss über Regierungsangestellte gewinnen, die bereit waren, ihre Dienste anzubieten, um ihr Einkommen aufzubessern. Zu jener Zeit hatte die ROK schon die Fähigkeit entwickelt, in jeden Sektor der Wirtschaft und der Regierung einzudringen. Sie war durch die Korrumpierung der politischen Macht und der Strafverfolgungsbehörden und durch den Ehrgeiz geprägt, monopolistische Strukturen in Territorien und in der Eigentumsordnung zu schaffen. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Städten St. Petersburg und Moskau. Dort wurden Schutz- und Einflusszonen aufgebaut. Es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Gruppen, von denen es einige schafften, durch Schutzversprechen sogar die Loyalität der örtlichen Wählerschaft zu erhalten. Dies lag allerdings auch daran, dass es damals für private Geschäftsleute nicht möglich war, mit rechtlichen Mitteln für die Erfüllung geschlossener Verträge zu sorgen. Man konnte sich nicht darauf verlassen, dass die Polizei Bürger und Geschäftsleute vor physischen Bedrohungen schützt.
Die Anfang der 1990er Jahre beginnende Infiltration von Regierungsbehörden war ein großer, wenn nicht der entscheidende Schritt auf dem Weg zur „Legitimierung“ der ROK. Korrupte Beamte begannen, die kriminellen Syndikate mit Exportgenehmigungen, Zollabfertigungsdokumenten, Steuerausnahmebescheiden und Regierungsaufträgen zu „beliefern“. Mitte der 1990er Jahre konnte man sich auch der Dienste von Mitarbeitern von Abgeordneten des Parlaments (Duma) für 4- 5000 Dollar versichern. Die ROK hatte so die Möglichkeit, jede Entscheidung zu ihren Gunsten zu beeinflussen, die auf eine Bekämpfung von Kriminalität und Korruption abzielte. Am Ende des Jahrzehnts verfügte die ROK aufgrund ihrer Allianz mit den Oligarchen in den strategisch wichtigen Bereichen der Wirtschaft über noch mehr Einfluss im Regierungsapparat und unterstützte den illegalen und korrupten Verkauf russischer Ressourcen ins Ausland. Zugunsten der Oligarchen beteiligte sich die ROK am Schmuggel von Öl, Gas und anderen strategischen Gütern.8 Durch die Vermeidung von Exportsteuern wurden den russischen Bürgern und Steuerzahlern viele Milliarden Dollar widerrechtlich entzogen.
Der ROK ist es auch gelungen, in den Banksektor vorzudringen. So konnte sie den Geldfluss ins Ausland effizient kontrollieren. Nachrichtendienstlichen Quellen zufolge hatten schon damals 25 der größten Banken direkte Verbindungen zu Gruppen der ROK. Nach Feststellungen der russischen Zentralbank verstießen im Jahre 1995 71 Prozent der Banken in Moskau gegen einschlägige gesetzliche Bestimmungen. Die ohnehin nur rudimentär ausgebildeten Vorschriften wurden permanent verletzt, um illegale Gewinne außer Landes zu schaffen. Dennoch widmete man sich im Westen keineswegs dem rechtswidrigen Vorgehen russischer Banken. Die Erklärung ist einfach. Westliche Banken und Finanzinstitute überall haben enorm von den Vermögen in Milliardenhöhe profitiert, die gewaschen und überall im Westen deponiert wurden. Ein Jahr vor dem wirtschaftlichen Kollaps, also im Jahre 1997, standen zwei Drittel der russischen Wirtschaft unter der Kuratel krimineller Organisationen. Während die normalen russischen Bürger sich auf den Straßen nicht mehr sicher fühlen konnten, waren Politiker und Oligarchen mit der Plünderung der Schätze des Landes beschäftigt und beraubten ihre Landsleute, die kaum soziale Unterstützung erhielten und keine Infrastrukturleistungen genießen konnten.
Die ROK verschärfte die Problematik, indem sie den Transfer von Geld und Ressourcen ins Ausland organisierte und das rechtswidrig erlange Kapital korrupter Amtsträger schützte. Nach Schätzungen aus dem Jahre 1996 wurden 30-50 Prozent des von der ROK erzielten Einkommens an korrupte Bedienstete weitergeleitet bzw. „rückerstattet“.9 Erst Mitte der 1990er Jahre schien man im Westen ganz allmählich zu begreifen, dass man Gegnern aus einem Land gegenüberstand, das durch Kontrollverlust geprägt war. Das Militär in Russland war übrigens ebenfalls nicht in allen Teilen von organisierter Kriminalität zu unterscheiden.
Eine große Bedrohung erwuchs zudem aus der damaligen geopolitischen Situation in Osteuropa, das zu einem Vorposten wichtiger politischer Veränderungen geworden war. Dort erhoffte man sich den Aufbau erfolgreicher Demokratien. Die noch sehr unvollständigen Sicherheits- und Justizsysteme eröffneten jedoch der ROK auch in diesen Ländern neue und weitere Aktionsfelder. Die Furcht wuchs, dass auch der Rest Europas dadurch bedroht sein könnte, war doch erkennbar geworden, dass die ROK sehr daran interessiert ist, ihre Geschäfte ohne Rücksicht auf politische Grenzen zu betreiben. Es wurden Allianzen geschmiedet, die von kolumbianischen Drogenbanden bis zur italienischen Mafia reichten. Man wähnte sich am Beginn einer ganz besonderen „Globalisierung.“

Banker und Komplizen


Am größten war allerdings die Besorgnis wegen der anwachsenden Interaktionen mit legal operierenden Geschäftsbereichen und den diversen Finanzinstitutionen im Westen. In der Debatte über die weltweite Ausbreitung der ROK wurde die Tatsache verschwiegen, dass es im Westen zu einer Komplizenschaft mit dieser gefährlichen Kriminalität gekommen war, die zum Teil bis heute fortbesteht. Hohe Milliarden-Beträge sind mit Hilfe „kooperativer“ Banken in Westeuropa und den USA aus Russland herausgeschafft worden. Als die amerikanischen Justizbehörden noch darum bemüht waren, die Banken ihres Landes vor illegal erworbenem Vermögen zu schützen, waren diese zu einem erheblichen Teil schon an entsprechenden Schmuggel- und Verschleierungsoperationen beteiligt. Die Beteiligten der „Finanzgemeinschaft“ gaben dagegen vor, sich gegen die angebliche „Hysterie“ der Geldwäschevorwürfe zu wenden. Der Grund war einfach: Banker haben vom Zufluss der Milliardenbeträge enorm profitiert, selbst wenn die enormen Summen nur kurze Zeit im Lande blieben.
In den 2000er Jahren wurde noch deutlicher, wie sehr die Banken auch in diesem Bereich nur an der Profiterzielung interessiert waren (und sind). Umso mehr war und ist man im Westen von der Rechtsdurchsetzung sowohl durch eigene Jurisdiktion als auch durch die der Russen abhängig. Das war in der Mitte der 1990er Jahre aber alles andere als einfach, weil die zuständigen Behörden sich zu großen Teilen unter dem Joch der ROK befanden. Die Unfähigkeit zu angemessenen Ermittlungen hing auch von dem politischen Willen und dem Rechtsrahmen ab, der in den 1990er Jahren aufgebaut worden war. Soweit in westlichen Ländern Untersuchungen gegen die ROK überhaupt begonnen wurden, scheiterten sie zumeist wegen der verzögerten Beantwortung von Anfragen und der Weigerung der russischen Seite Beweismaterial vorzulegen. Politische Einflussnahme und Korruption haben die Anstrengungen zudem oft unterminiert. Schlimmer noch: Als es russischen organisierten kriminellen Gruppen immer mehr gelungen war, politische Kreise zu infiltrieren, haben sie ihren Einfluss genutzt, um internationale kriminalistische Untersuchungen gegen politische Gegner oder ethnische Minderheiten zu initiieren und sie durch Vorlage falscher Beweismittel zu steuern. Oligarchen und korrupte Beamte haben sogar Manipulationen im Büro des Generalstaatsanwalts vorgenommen, um die ROK und ihre Verbündeten zu schützen. Kooperationsbereitschaft bei internationalen Ermittlungen zeigte man allerdings dann, wenn keine Russen involviert waren oder es um „moralische“ Angelegenheiten (z. B. Sex-Tourismus und Kinderpornographie) ging. Die auf die ROK gerichteten Bemühungen westlicher Behörden blieben zum größten Teil erfolglos. Daran hat sich bis heute im Wesentlichen nichts geändert. Nur die „Verkleidung“ der ROK ist anders geworden. Mit ihren Wurzeln noch in der Sowjetunion blühte sie im gesetzesfreien Raum der nachfolgenden russischen Föderation weiter auf. Die fortgesetzte Privatisierung vor der Schaffung eines verlässlichen Rechtsrahmens war ein „Segen“ für die ROK. Ihre Gruppierungen profitierten von einem ungezähmten Kapitalismus. Sie drangen in jeden Bereich der Gesellschaft vor und verwirklichten ein neues „Wild-West-Prinzip“. Ihre Vertreter haben die Verbindungen zu korrupten Politikern „kapitalisiert“ und konnten sich durch ihre Verankerungen im Regierungsapparat weiter freie Bahn verschaffen. Ihr Erfolg in Russland war die Basis ihrer Ausdehnung auch in andere Länder. Dies geschah mit Hilfe von Allianzen mit nahezu jeder größeren kriminell organisierten Gruppe in der Welt. Die Wahl Putins im Jahre 2000 veränderte die Situation in mancher Hinsicht. Die Interessen der ROK gerieten in Gefahr. Es ist aber zweifelhaft, ob dies mit tiefgreifenden und nachhaltigen Wirkungen verbunden ist.