Kriminalität

Jihad-Export – Warum junge Deutsche Jihadisten werden

Von Dr. Marwan Abou-Taam


Die überraschenden gesellschaftlichen Umbrüche im arabischen Raum besiegelten bislang das Ende von vier despotischen Regimen und schufen Möglichkeiten für neue politische Konstellationen. In Irak, Libyen, Syrien und Jemen mündeten die politischen Umwälzungen in Bürgerkriege. Durch den Zerfall staatlicher Versorgungs- und Sicherheitsstrukturen entstand ein Machtvakuum, in dem jihadistische Kräfte anhaltend zu bestimmenden Akteuren avancieren. Der Erfolg der Jihadisten lässt sich u.a. darauf zurückführen, dass sie Menschen muslimischen Glaubens aus aller Welt – auch aus Deutschland – zum Kampf in ihren Reihen verführen.

ISLAMISMUS
Das Phänomen des islamistischen Terrorismus scheint sich nahezu täglich weiter auszubreiten. Schlagzeilen wie „Die ersten ISIS-Enthauptungen in Europa“ oder „Tunesien: Blutbad am Badestrand“ beherrschen die Titelseiten. Es vergeht kaum ein Tag, ohne Meldungen die Entführungen, Anschläge, Tote und Verletzte zum Gegenstand haben. Mit fortwährenden Gräueltaten oder auch der Radikalisierung und Rekrutierung von jungen Menschen rückt sich der Islamismus, zuletzt in erster Linie der so genannte Islamische Staat in unser Bewußtsein.

Die Londoner Terrorismus-Expertin Margaret Gilmore hält nach den Terroranschlägen in Tunesien, Frankreich und Kuwait Nachahmer-Taten für möglich. „Es ist durchaus möglich, dass es Trittbrettfahrer geben wird“, sagte sie der Nachrichtenagentur dpa. Die Polizei tue gut daran, weitere Kräfte auf die Straßen zu schicken, betonte die Wissenschaftlerin des von der britischen Regierung unterstützten Royal United Services Institutes (RUSI).
Die Sicherheitsbehörden sind also weiterhin in hohem Maß gefordert, unter Berücksichtigung der Expertise von Sachverständigen die präventiven und repressiven Konzepte an die Entwicklungen anzupassen.

Inhaltlicher Schwerpunkt in diesem Heft sind neue Untersuchungen über die Frage, warum junge Deutsche in den Jihad ziehen (Dr. Marwan Abou Taam), welchen Anteil an ihrer Rekrutierung islamistische Videopropaganda hat (Dr. des. Bernd Zywietz) und die Frage nach der gesellschaftspolitischen Konsequenz, die wir aus diesen Entwicklungen ziehen sollten. „Ist der Multikulturalismus am Ende“, fragt Dr. Ralph Gabdhan und beantwortet die selbstgestellte Frage mit einem nachdenkenswerten Appell.

Während lange davon ausgegangen wurde, islamistischer Radikalismus sei ein Importgut, belegen die in den letzten Jahren im Phänomenbereich „Islamistischer Terrorismus“ gewonnenen Erkenntnisse, dass Radikalisierungsprozesse ihre Ursachen auch in europäischen Gesellschaften stattfinden können. Die geschätzte Zahl der aus der EU nach Syrien und den Irak ausgereisten „ausländischen Kämpfer“ liegt bei 7000 Personen. Diese Zahl ist jedoch relativ, da in den verschiedenen EU-Staaten uneinheitlich gezählt wird. Die meisten dieser Kämpfer kommen aus westeuropäischen Ländern mit einer großen muslimischen Gemeinde und hatten vor ihrer jeweiligen Ausreise regen Kontakt zur jeweiligen salafistischen1 Szene. Aus Deutschland haben sich 680 Personen im Alter zwischen 13 bis 63 Jahren auf dem Weg nach Syrien gemacht, wobei die Gruppe derjenigen zwischen 16-25 bei weitem überwiegt. Hormonell aufgeladen, revolutionär, auf der Suche nach Gerechtigkeit und Zusammenhalt haben sie sich sehr stark mit dem Leiden der Opfer des syrischen Krieges solidarisiert und verfolgen das Ziel, die Systeme in Syrien und Irak zur stürzen, um ein islamisches Gemeinwesen basierend auf den Vorgaben der Scharia aufzubauen. Die meisten Kämpfer sind sunnitische Muslime der dritten Generation, Kinder von Einwanderern aus der Region des Vorderen Orients. Andere sind junge Konvertiten aus der „Ureinwohnerschaft“ ohne Migrationshintergrund. Während die meisten ausländischen Kämpfer alleinstehende Männer sind, nimmt die Zahl der Frauen, die in die Kriegsregion ziehen, stark zu, auch Kinder werden zunehmend von ihren Eltern mit in den Sog des Jihad hineingezogen. Die Mehrheit der Betroffenen sind klassische Schulbildungsverlierer. Es lassen sich unter den Ausreisenden aber auch gebildete junge Männer finden, die ihr Studium aufgegeben haben, um sich dem IS anzuschließen.

Gründe für die Radikalisierung


Es gibt viele Ursachen für Radikalisierung. Sie ist keine Frage des Geschlechts oder der sozialen Herkunft und in allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden, unabhängig von wirtschaftlichen Gegebenheiten oder Schulabschlüssen. Obwohl Radikalisierung ein individueller Prozess ist, lassen sich zumindest bei den deutschen Aktivisten Ähnlichkeiten in der Biographie feststellen: Bei den Ausreisenden handelt es oft um Jugendliche mit Identitätsproblemen auf der Suche nach starken Gruppenerlebnissen und Lebenssinn. Sie wollen eine Rolle in der Gesellschaft haben, die ihnen oft – so ihre eigene Wahrnehmung – verwehrt wird. Von ihren Eltern bekommen sie den Vorwurf zu hören „wie die Deutschen zu sein“, von der Gesellschaft werden sie als „Muslime“ problematisiert. So brechen viele im Kontext ihrer Radikalisierung mit ihrem bisherigen sozialen Umfeld. Die Loslösung von der Familie und dem bisherigen Freundeskreis im Vorfeld der Ausreise wird meistens von der wachsenden Einbindung in eine salafistische Gruppe begleitet.2
Bei genauer Betrachtung lassen sich die Motive für die Ausreise grob in vier Kategorien typisieren, wobei Mischmotivationen die Regel sind:
ideologisch überzeugte,
Abenteurer und deren Mitläufer,
„Neugeborene“, die ihre meist kriminelle Vergangenheit damit abbüßen wollen
und diejenigen, die glauben, dass sie ihre Gewalt- und Tötungsphantasien im Bürgerkrieg unbestraft ausleben können

Die Betroffenen sehen Gewalt als berechtigtes Instrument im Jihad, um übergeordnete Ziele zu erreichen.3 Die dafür notwendige ideologische Indoktrination erfolgt vor allem in Kleingruppen im Rahmen von sogenannten Islamseminaren sowie in Lese- und Diskussionszirkel der salafistischen Szene. Hier wird der „Heilige Krieg“ gegen alle Arten von „Ungläubigen“, muslimische und nicht-muslimische, gelehrt und ein ideologisch geschlossenes, salafistisches Weltbild vermittelt. Dieses Weltbild bestimmt ein radikales Schwarz-Weiß-Denken: Jeder Konflikt wird auf eine Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse reduziert. Diese Vereinfachung der Welt schafft eine Heimat, in der sich die Betroffenen sehr wohl fühlen. Betrachtet man den Diskurs über die Ursachen der Radikalisierung von Ausreisenden und der damit einhergehenden Debatte über die richtige staatliche und gesellschaftliche Reaktion darauf, so muss festgestellt werden, dass bei aller Bemühungen keine schlüssige Theorie existiert, die die Mehrheit der Fälle erklären kann. Vorhandene Ansätze deuten lediglich bestimmte Aspekte eines Radikaliserungsprozesses, um in der Folge festzustellen, dass sich der Ansatz für die Analyse anderer Personenkreise nicht eignet.
Radikalisierungsprozesse und die Entscheidung, in die Jihadschauplätze zu ziehen, werden von verschiedenen sich oft komplementierenden Faktoren begünstigt. Dabei handelt es sich um ideologische, politische, psychologische und soziologische Dimensionen. Hierbei hängt es von der jeweiligen betroffenen Person ab, welche dieser Dimensionen auschlaggebend ist.


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