Kriminalitätsbekämpfung

Mafia als Staatsmacht?

– Russische Perspektiven –

Herrschaft des Gesetzes?


Putin hatte nach seinem Amtsantritt zwar die „Herrschaft des Gesetzes“ ausgerufen. Damit alleine ist die ROK offensichtlich nicht zu beseitigen. Auch russische Kriminelle haben sich an die veränderten politischen Verhältnisse angepasst. In der Folge entstand ein noch stärker internationalisiertes kriminelles Netzwerk. Es hat sich nicht zuletzt wegen seines klandestinen und geschmeidigen Charakters und seiner Kontakte zur internationalen Finanz- und Geschäftswelt prächtig entwickelt.
Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen den 1990er Jahren und den 2000er Jahren gehört eine strukturelle Neuausrichtung. Es gibt keine formal stark ausgeprägte Hierarchie mehr. Die Zahl der „Diebe im Gesetz“ hat abgenommen. Die einzelnen Gruppen können auch ohne einen (mehr oder minder großen) „Paten“ funktionieren. Die moderne ROK hat eine „Zellenstruktur“. Sie geht informelle und effektive Allianzen ein. Deren Macht ist nicht zu unterschätzen. Dabei gibt es eine nationale und eine internationale Dimension. Als internationale Kraft kann sich die ROK auf ein gut ausgebautes und bedürfnisgerechtes „Tunnelsystem“ verlassen. Bemakeltes Kapital wird darin an jede beliebige Stelle in der EU transferiert.
Der Fortbestand der ROK war aber schon in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre gesichert, weil prominente Regierungsmitglieder und Oligarchen ihren „Segen“ gaben. Die Zusammenarbeit zwischen Vertretern öffentlicher Behörden und Bewohnern der „Unterwelt“ wurde entsprechend enger, zumal noch mehr Korruption aufkam und Amtsträger in betrügerische Komplotte verwickelt wurden. Die Flaneure auf den „Korridoren der Macht“ näherten sich immer mehr der ROK und stellten neue starke Verbindungen her. Das bemakelte Geld konnte umso leichter in und durch Banken weitergeleitet werden, die zum größten Teil von Oligarchen kontrolliert wurden. In dieser Lage wurde Putins Erscheinen auf der politischen Bühne in der kriminellen Welt zunächst als Schock empfunden. Die Befürchtung wuchs, dass die Herrschaft des Gesetzes der bisherigen staatlichen Protektion ein Ende bereiten würde. Der Nexus blieb aber in veränderter Form erhalten. Das neue Verhältnis zum Kreml basiert nicht mehr auf einer offenen Unterstützung, sondern auf einer subtilen aber gleichwohl bedrohlichen Allianz. Die von Putin ausgeübte Kontrolle dürfte jedenfalls einzigartig sein. Das Verhältnis zwischen der ROK und der Regierung ist dadurch charakterisiert, dass die ROK solange operieren kann, wie sie gleichzeitig mit der Regierung kooperiert und sich nicht in deren Funktionen einmischt. Ihre Aktivitäten müssen sich innerhalb der Grenzen halten, die im Kreml definiert werden. Sie setzt also nicht mehr die Regeln, sondern ist nur noch ein Element innerhalb des Machtsystems von Putin.10
Diese Verhältnisse entsprechen weder dem Gesetzlichkeitsprinzip noch der „Herrschaft des Rechts“. Der Komplexität des „Nexus“ zwischen Regierung und organisierter Kriminalität wird es dennoch nicht gerecht, wenn man Russland als „Mafia-Staat“ titulierte. Diese Bezeichnung würde aber durchaus auf andere Staaten passen, mit denen der Westen lukrative wirtschaftliche Verbindungen pflegt und in denen er immer wieder mit wechselndem Erfolg versucht, die Fackel der Freiheit und der Demokratie zu entzünden, übrigens auch mit militärischem „Feuerwerk“.
Aus strategischer Sicht erscheint der Ansatz Putins durchaus als sinnvoll.11 Anfang der 2000er Jahre war Russland noch sehr mit den Folgen des wirtschaftlichen Crashs von 1998 belastet. Die Wirtschaft begann sich seinerzeit zwar etwas zu erholen. Es gab aber eine weit verbreitete Instabilität. Die Gas- und Ölpreise hatten noch nicht das Niveau erreicht, das sie Mitte der 2000er Jahre hatten. In dieser Lage wollte Putin nach Möglichkeit einen „Krieg“ zwischen der Regierung und der „Mafia“ vermeiden. Ein Angriff auf eine derart starke Kraft hätte zu ernsthaften Konflikten geführt. Die mächtige Allianz der Oligarchen wäre verprellt worden. Zu dieser Zeit lag das prioritäre Interesse Putins darin, die Oligarchen von politischer Macht fernzuhalten bzw. zu entfernen. Ein Krieg mit den Führern des organisierten Verbrechens und den Oligarchen zur gleichen Zeit wäre ein ziemlich schwieriges Unterfangen gewesen. Nach außen führte Putin daher einen „Pseudo-Krieg“, indem er scharf gegen die Interessen der Kriminellen und ihre Vermögen vorging und eine „Diktatur des Gesetzes“ errichtete. Gleichzeitig gelang es ihm aber, sein Verhältnis zu den ROK-Gruppen durch Beschränkungen und Regeln zu konsolidieren, die sich letztlich für beide Seiten begünstigend auswirkten. Die Grundlage des gesamten Reglements war einfach: Solange sich die ROK nicht in die Interessen Putins einmischte, würde er ihren Vertretern die Fortsetzung ihrer Tätigkeit erlauben.12 Damit konnten die Allianzen zwischen der ROK und den Oligarchen aufgelöst, die Kontrolle der Straßen durch Gangstergruppen beendet und die „Loyalitäten“ zwischen Kriminellen und Abgeordneten der Duma und Regionalregierungen begrenzt werden. Das wahre Ausmaß dieser Art von „Regelhaftigkeit“ ist unbekannt. Sie unterliegt der „Amtsverschwiegenheit“ und ist in keiner Kodifikation erfasst. Eine leise Ahnung entsteht, wenn man Fälle studiert, in denen es zum Bruch dieser Regeln gekommen ist. Dazu gehören u. v. a.:

  • Der Versuch von Vladimir Barsukov als Chef der Tombov-Gruppe in die Ölindustrie in St. Petersburg vorzudringen.
  • Die Etablierung der früheren Moskauer Bürgermeisters Yury Luzhkov an der Spitze einer kriminellen Hierarchie, seine Verbindungen mit Semion Mogilevich, der weltweit als einer der gefährlichsten Verbrecher galt, und die Zusammenarbeit Luzhkovs mit der ROK im Rahmen von Geldwäsche und öffentlicher Korruption sowie seine Kritik an Medvedev und der Strategie der herrschenden „Eliten“ sowie seine Einmischung in die wirtschaftlichen Interessen des Kremls.

Insbesondere der Fall Luzhkov zeigt die direkte Beteiligung des Kreml und von Vertretern der Armee und der Geheimdienste („Silowiki“ = Kraft/Stärke) an Aktivitäten des organisierten Verbrechens.13 Diese Beziehung offenbarte sich in engen, fast nahtlosen Verbindungen zwischen dem „tiefen Staat“, d. h. der Kleptokratie in der Regierung, dem Parlament, der Zivilgesellschaft, den Strafverfolgungs- und Justizbehörden und der Geschäftswelt auf allen Ebenen sowie im Militär und vor allem in den Sicherheitsdiensten.14


Foto: A. Lemberger