Kriminalität

Ein Indikatoren-Faktoren-Modell zur Analyse rechtsextremistischer Terrorismusrelevanz

3. Indikatoren und Gefahrenfaktoren im Rechtsextremismus


Da eine deduktive Herangehensweise, verbunden mit vergleichenden Untersuchungen verschiedener Gruppierungen mit unterschiedlicher Beschaffenheit, unter aktuellen Bedingungen kaum möglich ist, bietet sich der induktive Ansatz an, dessen Ergebnisse hypothesenprüfend falsifiziert werden können.
Nachfolgende Überlegungen betreffen vordergründig jene extremistischen Akteure, deren Strategien sich auf das Aktionsfeld „Gewalt“ beziehen.10 Zu den genannten Indikatoren11 des (Rechts-)Terrorismus lassen sich terrorismusrelevante Subindikatoren im Rechtsextremismus in ihren Zusammenhängen abbilden. Allerdings bedarf die theoriegeleitete Herleitung der Gefahrenfaktoren einer empirischen Überprüfung.12

1. Indikatoren und Gefahrenfaktoren auf der Akteursebene

Ein einheitliches Profil des deutschen Rechtsterrorismus existiert nicht. Mit terroristischen Methoden haben sich bis jetzt sowohl (vermutete) Einzeltäter als auch (Klein-)Gruppen sowie netzwerkartige Formationen und Strukturen mit und ohne Verbindungen zu (parteiförmigen) Organisationen hervorgetan. Sie alle verbindet, dass sie sich bewusst für eine gewalttätige Lösung der vermuteten oder tatsächlichen sozialen Konflikte entschieden hatten. Ob die Gewaltanwendung für die politische Schwäche der Akteure spricht, sei an dieser Stelle dahingestellt.13
Im Sinne einer Risikoanalyse wäre es wichtiger zu plausibilisieren, aus welchen Konstellationen heraus sich die jeweiligen Akteure einer spezifischen Art der Gewalt bedienen und wie diese vorstrukturiert wird. Denn die Behauptung, terroristische Gewalt komme aus den rechtsextremistischen „Szenen“, bedarf der Präzisierung. Erstens distanzieren sich die legalistischen Strukturen zumindest verbal von militanten Praktiken.14 Die Militanz prägt zwar die gewaltbereiten Kameradschaften und losen Skinheadgruppen. Zugleich beschränkt sie sich des öfteren auf den alltäglichen „Terror“ bzw. „Straßenkampf“ mit dem „ideologischen Feind“. Ein Teil der extremen Rechten in Deutschland ist bereit, gemeinsame [Ziele] bzw. Gesellschaftsvisionen mit Gewalt durchzusetzen. Es bedarf jedoch eines Auslösers, um die Radikalisierung der Gewalt bis hin zu terroristischen Anschlägen zu akzeptieren. Diese Radikalisierungsstufe hebt die angehenden Terroristen vom radikalen Milieu und „Vigilantisten“ sowie marodierenden Jugendcliquen ab.
Gewalt als Alltags- und „Spaßerlebnis“ schwächt anscheinend den Willen zur Zuspitzung eines als politisch definierten Konflikts, wobei die Steigerung der Gewaltintensität nicht ausgeschlossen werden darf. Deshalb sind die regionalen Gelegenheitsstrukturen von hoher Relevanz. Die Selbstverwirklichung durch die szenetypische Gewalt löst nur in Ausnahmefällen die Initialzündung aus, um den herbeigeschworenen Kampf auf eine qualitativ neue Ebene zu verlagern. Für das epiphanische Erlebnis, sich nicht radikal genug für die Sache einzusetzen [Zielorientierung], ist ein Minimum an ideologisch-politischem Bewusstsein notwendig. Angehende Terroristen müssen zwar keine kontinuierliche politische Arbeit betreiben. Dennoch stellt eine kritische Distanz zu der „unnützen und untätigen“ Szene den Ausgangspunkt der terroristischen Radikalisierung dar. Somit zählt die Bereitschaft, die Ziele der Bewegung mit terroristischen Mitteln, d.h. mit Hilfe von Anschlägen unter Verwendung von Schusswaffen und Brenn- bzw. Sprengstoff umzusetzen, zur Ebene der Gefahrenfaktoren. Die „Zurückdrängung der Fremdrassigen“, die „Verhinderung der Vermehrung von Minderwertigen“ und Schutz „deutscher Volkssubstanz“ verdichtet sich zum ernst gemeinten Bestreben, „den Kampf zum Lebensinhalt zu machen“. Der Wille zum (terroristischen) Kampf entspringt nicht den szenetypischen Saufgelagen, sondern weit eher der „Verzweiflung“ „politischer Soldaten“, wie sie im Konflikt zwischen einem gemäßigten und einem radikalen Flügel entsteht.15 Aus dem Konglomerat von [Zielen], der [Zielorientierung] und der Bereitschaft, sich für den „Erhalt der deutschen Nation“ unter Rückgriff auf die über die szenetypischen Aktivitäten hinausgehenden Aktionsformen einzusetzen, resultiert die Bereitschaft, die terroristische Strategie anzuwenden. Der Entschluss, auf terroristische Aktionsformen zu setzen, mündet in der Herausbildung terroristischer Dispositionen, die an Planungen sowie angedachte Aktionsformen angepasst werden.
Im Hinblick auf die [Führung] und den [Zusammenhalt] lassen sich folgende konkretisierte Gefahrenfaktoren identifizieren: Das Vorhandensein hierarchischer bzw. integrierter Strukturen erhöht die Gefahr des Terrorismus, denn sie ermöglichen es, die Informationsflüsse (Befehlskette) und Kontrollmechanismen effizient zu gestalten. In der Realität erwies sich jedoch das Modell als nicht überlebensfähig. Hierarchische Organisationen der 1970er Jahre („Technischer Dienst“ der Wiking-Jugend, „Bund Heimatstreuer Jugend“, „Aktionsfront nationaler Sozialisten“, „Nationalsozialistische Kampfgruppe Großdeutschland“) vermochten es nicht, undurchdringbare Außengrenzen zu ziehen. Als Steigerung kann das Vorhandensein desintegrierter Strukturen (auch mit einer gemeinsamen „Kommandozentrale“ oder Zielsetzung) gelten. Auch dieses Konzept konnte in Deutschland – zumindest ohne externe Hilfeleistungen – nicht umgesetzt werden.
Es steht fest, dass Zusammenschlüsse um einen ideologisierten „Führer“ und Strippenzieher häufiger instrumentell agieren als jugendliche Schlägercliquen. Das Vorhandensein abgeschotteter rechtsextremistischer Kleingruppen, die eine sektenähnliche Entwicklung durchlaufen können, steigert die Gefahr rechtsextremistischer Akteure. Überdies sind feste und lose Gewaltgruppen mitAufnahmeritualen, welche die „Härte“ der Aspiranten auf den Prüfstand stellen, unter die Lupe zu nehmen. Schwer identifizierbare, ideologisierte Einzelgänger können die Sicherheitsbehörden vor große Herausforderungen stellen.
Die [Führung] und der [Zusammenhalt] in rechtsterroristischen Gruppen variier(t)en somit je nach Organisationstyp und Handlungskonzept. Feste Strukturen, Netzwerke sowie Zellen und Einzeltäter weisen verschiedene Führungsrollen, Gruppenbildungen und Formen des Zusammenhalts sowie Organisationgrade auf. Einige Erkenntnisse scheinen dabei im Blick auf den Rechtsextremismus relevant zu sein. Das „Abdrängen“ der Rechtsextremisten in die Illegalität verkürzte im Unterschied zum NSU die Lebensdauer vieler Gruppen. Denn die Rechtsterroristen nach 1945 vermochten es nicht, einen illegalen Untergrund aufzubauen und abzusichern.16 Die polizeiliche Verfolgung der Rechtsterroristen führte daher nur selten zur Entstehung ideologischer Gruppen, die es verstanden, Stabilität nach innen und Attraktivität nach außen gleichzeitig herzustellen. Der sektenähnliche Zusammenhalt infolge der Selbstreferenzialität konnte somit nur unter Vorbehalt gewährleistet werden. Die von solchen Personenzusammenschlüssen ausgehenden Gefahren sind hoch. Die Geschlechterzusammenstellung spielt in dieser Hinsicht ebenfalls eine Rolle, denn reine Männerbünde können sich im Unterschied zu solchen Formationen, in denen erotische Bedürfnisse intern befriedigt werden (können), nur unter Vorbehalt abschotten. Die Anwesenheit beider Geschlechter wie im NSU-Fall erlaubt nämlich Autarkie, so dass die Gruppen unter anderem keine konkurrierenden Loyalitäten zu befürchten haben.17
Dass verschiedene Akteure auf unterschiedliche Strategien setzen, lässt sich unter anderem mit ihren [Fähigkeiten] erklären. Für terroristische Zwecke können auch einfachste Mittel eingesetzt werden. Der Rechtsterrorismus kann mit Messer, Schlagstock und Molotow-Cocktail ausgeübt werden. Trotzdem setz(t)en die Rechtsterroristen in vielen Fällen auf Sprengstoff und Schusswaffen. Der Umgang mit diesen komplexeren Waffen muss gelernt werden. Ein Beobachtungsobjekt sollten daher die rechts motivierten, gewaltaffinen Akteure mit besonderen Fertigkeiten wie Kenntnisse des Sprengstoffwesens und der militärischen Taktiken sowie mögliche Zugänge zu strategischen Ressourcen sein. Konzepte mit einschlägigen Handreichungen wie beispielsweise Bombenbauanleitungen und taktischen Anweisungen verbessern die terroristischen Fertigkeiten. Daher gelten das Experimentieren mit Explosivstoffen und Waffentraining als mögliche Gefahrenfaktoren. Den (ehemaligen) Angehörigen der Bundeswehr bzw. anderer Armeen sowie den Söldnern ist dabei eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Besondere Personenkonstellationen, bei denen „Ideologen“ auf „Aktivisten“ und „Macher“ mit hoher krimineller Energie treffen, legen eine bedeutende Terrorismusrelevanz an den Tag. Auch die konspirativen Fähigkeiten steigern die Überlebenschancen terroristischer Akteure (vgl. die Analyseebene „Rahmenbedingungen“). Im Hinblick auf den NSU ist zu bedenken, dass die ostdeutschen rechtsextremen Szenen über solche Fähigkeiten verfügten.
Hinsichtlich der vorhandenen [Ressourcen] sind die Erkenntnisse der Sicherheitsbehörden besorgniserregend. Die Gewaltbereitschaft von knapp 10.000 Szeneangehörigen im Zusammenhang mit der Affinität von Rechtsextremen zu Waffen und Sprengstoff ergibt eine nicht zu ignorierende Brisanz. Denn immer wieder findet die Polizei bei Razzien gegen rechte Kameradschaften zahlreiche (Schuss-)Waffen und Sprengmittel. Zwar haben wir es im Rechtsextremismus nicht mit „Tschechows Gewehr“ – „Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, dann wird es im letzten Akt abgefeuert“ – zu tun, aber die zur Verfügung stehenden Ressourcen verkürzen den Weg zum Terrorismus und somit die Reaktionszeit der Sicherheitsbehörden. Daher stellen die finanziellen Ressourcen und Möglichkeiten bzw. Fähigkeiten zu ihrer Beschaffung sowie die notwendigen (Kampf-)Mittel wie (Schuss-)Waffen und Sprengstoff ein wichtiges Beobachtungsobjekt der Sicherheitsbehörden dar. Obwohl die Durchschnittskosten eines Anschlages vergleichsweise gering sein können, trifft dies nicht auf die Lebenshaltungskosten im Untergrund zu. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Beschaffenheit der Akteure mit ihren Aktionsformen und den notwendigen Ressourcen wie Fähigkeiten korrespondiert.
Grenzüberschreitende Kontakte zu Militaria-Fans in Ostmitteleuropa bzw. Verbindungen in die Länder mit vergleichsweise laschen Waffenkontrollen erleichter(te)n die Waffenbeschaffung. Aus diesem Grund kommt der Überwachung der Beschaffungsaktivitäten eine große Bedeutung zu. Da verschiedene Beschaffungsformen denkbar sind, obliegt es den Sicherheitsbehörden, richtige Schlüsse über Beschaffungsmodi und mögliche Urheber krimineller Tathandlungen zu ziehen.