Kriminalität

Wenn Mütter ihre Kinder töten

– eine Untersuchung von -Neonatizid und Infantizid unter besonderer Berücksichtigung sozialbiographischer Bezüge: Aktuelle Befunde aus einem Forschungsprojekt (2010 – Jan. 2014)


Hinsichtlich des häuslichen Umfeldes konnten mehrheitlich mangelhafte hygienische Zustände vorgefunden werden. Hier werden Defizite in der Fähigkeit, die eigenen Wohnräume ordentlich und sauber zu halten und Aufgaben zu organisieren, ersichtlich. Allerdings erhebt diese Aussage keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit. In Ausnahmefällen wurden ebenso geordnete Haushalte vorgefunden. Viele Täterinnen beklagten in den geführten Interviews Langeweile. Das größte Hobby beinhaltet fernsehen, dicht gefolgt von schlafen oder der Beschäftigung mit dem Freund. Signifikant ist ferner das Vorhandensein des sogenannten „Kevinismus-Syndroms“: Die favorisierte Namensgebung des Nachwuchses (einige Frauen hatten bereits Kinder aus vorausgegangenen Beziehungen, die sie am Leben ließen oder gaben den getöteten Kindern im Zuge der später stattfindenden Bestattung Namen) orientiert sich sehr oft an außergewöhnlichen englischen Doppelnamen.

Darüber hinaus vereint alle Täterinnen ein weiteres Merkmal: Keine einzige Frau unterzog sich einer Konfliktberatung, vertraute sich einer Bezugsperson an oder informierte sich über Möglichkeiten der legalen Auflösung des Problems, indem z.B. ein medizinischer Abbruch der Schwangerschaft, eine Adoption oder die Nutzung einer Babyklappe herangezogen wurde. Konfrontiert mit der Frage nach dem Ausbleiben dieser Alternativen erfolgte ein Schulterzucken, verbunden mit nachfolgenden Antworten: „Wo is´n das?“, „Mmh, keene Ahnung, muss ich ja mit der Bahn fahren“, „was woll´n Sie jetzt von mir, ist doch mein Kind, damit kann ich doch machen, was ich will.“ Vielfach wurde nach der Ermittlung der Kindsmutter innerhalb der Vernehmungen eine Banalisierung des Delikts transparent, vermutlich eine Verdrängungsreaktion im Sinne der Abwehr.

Es zeigten sich deutliche Hinweise, dass Neonatizide in ländlichen Regionen dominieren. Höchstwahrscheinlich ist es aber auch einer höheren Anonymität der Stadt und einer damit einhergehenden geringeren Sozialkontrolle zu verdanken, dass nicht alle Schwangerschaften vorab als solche erkannt werden oder die Beseitigung des Leichnams in urbanen Räumen ein breiteres Spektrum der Möglichkeiten bietet.

„Ich bin doch kein Schwerverbrecher, man das nervt alles, die Scheißbullen hier andauernd“

Die Situation in der DDR?


„Sowas gab es nicht in der DDR, wir waren ein sicherer Staat.“

Tatsächlich? Das würde bedeuten, dass das Verbrechen, das aus individuellen Notlagen resultiert, um die DDR „eine Kurve gemacht“ hätte. Insofern musste eine zuverlässigere Quelle herangezogen werden, um die damalige soziale Wirklichkeit umfassend zu erschließen. Hierbei boten die Archive ostdeutscher Institute für Rechtsmedizin hinreichende Recherchemöglichkeiten. Insbesondere das Institut für Rechtsmedizin der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg hat dankenswerterweise die historische Erforschung des Deliktfeldes hilfreich unterstützt. Die Aktenlage thematisiert, dass in den 50er bis Ende der 80er Jahre Kindstötungen unter oder nach der Geburt durch die eigene Mutter in nicht unbeträchtlichen Anzahlen verübt worden. Die Dissertation greift hierbei auf sogenannte Case-Reports zurück, um größtmögliche Authentizität darzubieten. In den 50er und 60er Jahren dominiert eine Hauptgruppe der Täterinnen: Frauen mit einem Durchschnittsalter von 25 bis 30 Jahren, die in einer dörflichen Region beheimatet waren und aufgrund begrenzter Ressourcen das elterliche Gehöft bewohnten. Für gewöhnlich unterhielten die Frauen (häufig Bäuerinnen, Reinigungskräfte oder Maschinenarbeiterinnen) eine geheime Beziehung zu verheirateten Männern. Insbesondere die Eltern der Schwangeren drohten der Tochter bei Austragen des Kindes mit einem Hausverweis. Ferner war das monatliche Nettoeinkommen der Arbeiterklasse äußerst gering. Die sehr hohe Sozialkontrolle – u.a. aufgrund mehrerer Generationen in einem Haushalt vereint – ermöglichte ein rasches Erkennen der Schwangerschaft – und doch fühlte sich niemand aus dem sozialen Gefüge verantwortlich, eine sachliche Lösung zu suchen. Das Aktenmaterial belegt, dass vielfach die Eltern der Frauen behilflich waren, eine vorzeitige Beendigung der Schwangerschaft herbeizuführen, zum Beispiel indem eine Seifenlauge in den Uterus gespritzt wurde. Foto: A. Lemberger

Der wohl bizarrste Fall ereignete sich in den 80er Jahren in einer kleinen Harzgemeinde: Einem Ehepaar wurde die Tötung von insgesamt fünf Neugeborenen angelastet. Die als asozial und chaotisch geltende Familie musste sich zum Wendezeitpunkt einem aufwendigen Verfahren aussetzen. Dabei kam ans Tageslicht, dass der Sohn der Täterin ebenfalls eine sexuelle Beziehung zu seiner Mutter unterhielt. Er soll der Vater des letztgeborenen, getöteten Kindes sein. Laut seiner Gerichtsaussage habe er alle zwei Wochen den Geschlechtsverkehr mit seiner Mutter vollziehen müssen. Halten wir fest: Kindstötungen in der DDR waren keine Ausnahmeerscheinungen, der Staat unterzog das Phänomen allerdings einer weitgehenden Tabuisierung. Die Ursachen damaliger Tötungen unterscheiden sich jedoch von heutigen Motivlagen. Hier sind faktisch Zwangslagen durch den strengen Hausverweis eines autoritären Vaters, sehr limitierte finanzielle Mittel, keinen vorhandenen Wohnraum sowie eine drohende Stigmatisierung aufgrund des Ehebruchs erkennbar.