Wissenschaft  und Forschung

Das autoritäre Syndrom in den arabischen Gesellschaften

Eine sozialpsychologische Analyse

Misslingen des Modernisierungsprojektes: Gewalt als Allheilmittel


Aus der heutigen Perspektive kann man durchaus feststellen, dass das Modernisierungsprojekt in der arabischen Welt gewaltvoll gescheitert ist. Weder ein staatstragender Konsens noch strategische Überlegungen zur Bewältigung kolossaler lokaler und globaler Herausforderungen wurden produziert. Vielmehr wird auf die politische Gewalt als Allheilmittel gesetzt. Diese Feststellung gilt, obwohl wir in einigen arabischen Gesellschaften in den letzten beiden Jahren eine Art politische Liberalisierung beobachten konnten. Jedoch scheinen die Antiliberalen Kräfte mächtiger, zumindest haben sie mächtigere Unterstützer.
Im Ergebnis festigt sich vor unseren Augen eine seit Jahren ansetzende Kombination von „gelenktem Pluralismus, kontrollierten Wahlen und selektiver Repression“ (Brumberg 2002: 56). Dort, wo tatsächlich freie Wahlen stattfinden, gewinnen diejenigen Kräfte, die sich als Antithese der Demokratie artikulieren und als solche wirken. Wahlen ohne die entsprechende politische Aufklärung und demokratische Kultur sind eben kein Indiz für Demokratie. Kein Zweifel, unter den Trägern der Umstürze in den Transformationsländern gab es eine lebendige Demokratiebewegung. Selbst in den Autokratien der Golfregion lassen sich demokratische Stimmen entdecken. Jedoch sind die politischen Schwergewichte eben keine Vertreter von Demokratie und Menschenrechten, nicht mal nach orientalischen Maßstäben. In Tunesien und Ägypten wurde die zarte Blüte der Demokratiebewegung von der islamistische Walze überrollt. In keinem einzigen arabischen Staat wird die Freiheit der Bürger gesetzlich und faktisch garantiert.
Die politischen Strukturmerkmale arabischer Gesellschaften sind nach wie vor primär durch einen Mangel an politischer Integration, parochiale Loyalitäts- und Legitimitätsmuster und einem geringen Grad an politischer Partizipation der Bürger gekennzeichnet. Dabei ist die politische Elite fortwährend bestrebt, die Kräfte der Zivilgesellschaft im Zaum zu halten. Diese Merkmale treffen sowohl auf die Transformationsländer Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen als auch auf die restlichen arabischen Staaten zu. Korruption in der Führungselite, Verteilungsungerechtigkeiten, Verbreitung exklusiver Ideologien und fehlende Konsensfindungsmechanismen erschweren jegliche Veränderungen in einem politischen System, das kaum reformierbar ist. Eine analytische Auseinandersetzung mit der Lage in arabischen Staatensystem kann bei aller Differenziertheit nur entlang der Feststellung geschehen, dass die Regierungen in den arabischen Staaten absolut überfordert sind und seit Jahren keine Konzepte vorweisen können, wie sie die Herausforderungen ihrer Gesellschaften bewältigen können. Vielmehr kann man beobachten, dass die politischen Eliten in den arabischen Staaten an Korruption nicht zu übertreffen sind. Es herrscht ein Teufelskreis von Repression und Korruption vor, so dass wirtschaftliche Korruption als natürliche Folge politischer Korruption die Situation verheerend verschärft. Man kann hier regelrecht von einem „Bad Governance“-Problem sprechen, denn der Missbrauch öffentlicher Ämter und der Griff in die Staatsschatulle ist in allen arabischen Staaten im Einklang mit herrschenden Gewohnheiten (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen 2005: 16).

Foto: A. Lemberger


Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die arabischen Systeme mit geringfügigen Nuancierungen in den gesellschaftspolitischen Sektoren (soziokulturelles, ökonomisches und politisches System) eine immobile Sozialstruktur aufweisen, die von einem primär autoritär bzw. sakral geprägten politisch-kulturellen System geprägt ist. Es herrscht mit wenigen Ausnahmen eine vorindustrielle Wirtschaftsstruktur. Dies führt angesichts zunehmender Zuspitzung der Lage zu Diffusität, Desintegration, Rigidität und Partikularismus. Die überforderten Staaten reagieren darauf mit einer zunehmend repressiven Politik der Unterdrückung. Das politische System der arabischen Welt ist symbiotisch mit der arabischen Version des rentierstaatlichen Etatismus verbunden. Im arabischen Rentierstaat regieren die Eliten völlig unabhängig von den Massen, denn sie kontrollieren den Staat in einer gewissen Absolutheit, die ihnen ihre Einkünfte sichert. Darauf basiert die spezifische Form des arabischen Autoritarismus, dessen Beharrungsvermögen beispiellos ist.
Das Aufsteigen des Islamismus kann als unmittelbare Folge repressiver staatlicher Gewalt im Rahmen von Einheitsideologien verstanden werden. Das Verbieten politischer Parteien zwang die Menschen regelrecht, ihre Probleme in der einzig erlaubten Sprache der Religion zu denken. Die staatlichen Zensurbehörden und die Gewaltapparate vermochten nicht die Moscheen zu verbieten, wie sie mit den politischen Strömungen und Parteien verfahren sind. Es wurde nicht bedacht, dass Religion in letzter Konsequenz einen „fait social“ – einen sozialen Tatbestand (Durkheim 1984: 75) – darstellt. So wurden aufgrund fehlender Alternativen die gesellschaftlichen Probleme ausschließlich im religiösen Kontext debattiert. Die dort angebotenen Lösungen sind ebenfalls ausschließlich religiös. Islamistische Aktivisten machen ihre Elterngeneration verantwortlich für die prekäre politische, soziale und kulturelle Lage. Die Kritik an der Elterngeneration ist nicht vergleichbar mit den Forderungen der 68er in Westdeutschland, denn hier wird den Eltern die Loslösung von der Tradition vorgeworfen. Das Projekt der Islamisierung des Politischen scheint sich zu durchsetzen. Es bleibt offen, ob und wie sich die liberalen Kräfte entfalten werden. Arabische Gesellschaften auch in den Transformationsländern bewegen sich. Allerdings kann die Richtung kaum vorhergesagt werden, jedoch sind die Rahmenbedingungen aufgrund der oben beschriebenen Konstellation für eine Demokratisierung suboptimal.

Literaturverzeichnis

  • Adorno, Theodor W., Else Frenkel-Brunswik u.a. (1950): The Authoritarian Personality. New York.
  • Brumberg, Daniel (2002): „Democratization in the Arab World? The Trap of Liberalized Autocracy “, in: Journal of Democracy 13(2002), S. 56.
  • Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen (2005): Arabischer Bericht über die menschliche Entwicklung. Auf dem Weg zur Freiheit in der arabischen Welt, deutsche und englische Kurzfassung [Vorabdruck]. Berlin.
  • Durkheim, Emile (1984): Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt.
  • Fearon, James und David Laitin (2000): „Violence and the Social Construction of Ethnic Identity“, in: International Organization 54/4(2000), S. 845-877.
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  • Ghalyoun, Burhan (1990): Nizam at-ta`ifiya: min ad-dawla ila-l-qabila [Der Konfessionalismus: Die Entwicklung vom Staat zum Stamm]. Casablanca.
  • Heiliger, Anita und Constanze Engelfried (1995): Sexuelle Gewalt. Männliche Sozialisation und potentielle Täterschaft. Frankfurt am Main.
  • Horkheimer, Max, Erich Fromm u.a. (1936): Studien über Autorität und Familie, Forschungsberichte aus dem Institut für Sozialforschung, 2. Aufl. (1986), Paris.
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  • HRW (2012): 22nd annual World Report on Human Rights, unter: www.hrw.org/world-report-2012 (abgerufen am 3. April 2012).
  • Ibrahim, Hussein Taufiq (1999): Zahirat al-´unf al-siyassi fi al-nuzum al-´arabiya [Die Erscheinung der politischen Gewalt in den arabischen Systemen], 2. Aufl., Beirut.
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  • Moore, Wilbert E (1997): World Modernization. The Limits of Convergence. New York/ Oxford.
  • Sharabi, Hisham (1988): Neopatriarchy: A Theory of Distorted Change in Arab Society. New York.
  • Sharabi, Hisham (1975): Muqadama li-dirasat al-mutama´ al-arabi [Einführung in das Studium der arabischen Gesellschaft]. Beirut.

Anmerkungen

  1. Dabei handelt es sich nicht nur um politische Autoritäten im Amt. Die Autoritätenhierarchie beginnt in der Familie und zieht sich durch die gesamte Gesellschaft hindurch. Diese ist durch ein System von Über- Unterordnung durchstrukturiert.
  2. In vielen arabischen Staaten ist der „Ehrenmord“ kaum strafbar und das Töten für die Ehre der Familie gesellschaftlich sehr hoch angesehen.
  3. Dabei handelt es sich um eine Gesamtanalyse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Situation in den 22 (respektive 23 mit den Palästinensern) Staaten, erstellt von arabischen Akademikern und Intellektuellen im Auftrag des UNDP-Regionalbüros. Die Berichte der UNDP zeigen, dass die arabische Welt durch Bevölkerungsexplosion, Analphabetentum, fehlende Möglichkeiten der Teilhabe an Wissen und Wissenschaft, nicht existierende Menschenrechte für Frau und Mann sowie durch fehlende Freiheit bestimmt wird.
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