Kriminalität

Wenn Mütter ihre Kinder töten

– eine Untersuchung von -Neonatizid und Infantizid unter besonderer Berücksichtigung sozialbiographischer Bezüge: Aktuelle Befunde aus einem Forschungsprojekt (2010 – Jan. 2014)

Resümee:


Alle Versuche, die Zahlen des Neonatizids zu mindern, werden nicht den erwünschten Effekt erzielen. Selbstverständlich ist es erfreulich, dass die juristische Grauzone der anonymen Geburt durch die Einführung des Gesetzes zur vertraulichen Geburt am 01.Mai 2014 abgelöst wurde. Leider liegen jedoch keineswegs Indikatoren für die Auseinandersetzung mit legalen Varianten durch Täterinnen vor. Vielmehr wird die Schwangerschaft völlig verdrängt oder verheimlicht. Die einsetzende Geburt stellt letztendlich einen panikartigen Überraschungsmoment dar, der seinen Kulminationspunkt in der Tötung des Kindes findet. Gynäkologen oder Konfliktberatungsstellen wurde während der Schwangerschaft nie aufgesucht. Es wäre illusorisch anzunehmen, dass durch die Schließung der einst „offenen Baustelle“ der anonymen Geburt nunmehr eine höhere Wirkungskraft der Prävention entfaltet werden kann. Selbst wenn 100 Babyklappen in jeder Stadt bzw. jeder größeren Gemeinde einrichtet würden, selbst wenn diverser rechtlicher Nachsteuerungsbedarf erkannt würde – der Effekt wäre trotzdem sehr begrenzt.

Mir erscheint es Erfolg versprechender, die Entstehungsbedingungen der Taten zu fokussieren. Dabei ist wohl unausweichlich, eine Perspektivenerweiterung anzuregen, indem nicht nur die Schwangere selbst im Zentrum der Bedeutung steht, sondern ihr Umfeld einbezogen wird. Bei den Recherchen fiel vermehrt auf, dass eine gewisse Sozialkontrolle durchaus vorhanden ist und demzufolge der soziale Nahbereich der Schwangeren den Zustand bereits erahnte, eine direkte Konfrontation jedoch vermieden wurde. Die Lehrerschaft einiger junger Täterinnen bekundete im Kontext von späteren Ermittlungen, ein Einmischen in private Angelegenheiten nicht für sinnvoll erachtet zu haben. Die Nachbarschaft nahm häufig an, dass das Fehlen des Kindes durch eine Freigabe zur Adoption erklärt werden könne. In dieser Gemengelage lohnt es sich, genauer hinzuschauen und eine gewisse Sensibilisierung herzustellen. Insofern könnten dezidierte Programme an Schulen und Berufsschulen errichtet werden, die ein direktes Ansprechen der Schwangeren fordern.

Geeignete Ansprechpartner wäre neben den AusbilderInnen beispielsweise der Schulsozialdienst. Ferner darf es nicht bei einem Ansprechen bleiben, die Folge wäre ein Hausbesuch bei den Eltern, die kontinuierliche Begleitung der Schwangeren etc. Die Frage muss lauten, welche Anlaufstellen die Frau nahezu zwingend betreten muss. Da die überwiegende Mehrheit ALG-II-Leistungen bezieht (mit Ausnahme der Schülerinnen bzw. Berufsschülerinnen) kann von einer regelmäßigen Vorladung (in der Regel alle 6 Monate) im Rahmen der Folgeantragstellung oder Arbeitsvermittlungsgesprächen ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang könnten die MitarbeiterInnen des Jobcenters speziell geschult werden, dass Frauen einer bestimmten Altersgruppe, die insbesondere durch brüchige Berufskarrieren und tendenziell instabiler Lebensführung auffällig erscheinen, auf potenzielle Schwangerschaften in Augenschein genommen werden. An diesen Anfangsverdacht könnte sich eine Meldung an das zuständige Jugendamt koppeln, indem auf den Fall aufmerksam gemacht würde. Es wäre sicherlich eine eigenständige Untersuchung wert, wie diese – bisweilen vagen – Denkmodelle und Kontrollmechanismen in eine taugliche Praxis umzusetzen sind.

Falls eine Dienststelle im Bundesgebiet spezifische Nachfragen zu einem bislang ungeklärten Fall einer Kindstötung hat oder bei künftigen Fällen detailliertere Hinweise zur Ermittlung der Mutter erwünscht sind, ist eine Kontaktaufnahme zur Autorin grundsätzlich möglich.

 

 

Anmerkungen:

 

 

  1. Dr. Bettina Goetze aus Magdeburg, M.A. Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaften, LL.M. (Master of Laws) Kriminologie und Strafrechtspflege. Seit 2012 Referentin im Ministerium für Justiz und Gleichstellung Sachsen-Anhalt, zuständig für den gesamten Antigewaltbereich LSA, Mitglied der Gewerkschaft der Polizei, Forschungsschwerpunkte: Frauenkriminalität sowie (vorgetäuschte) Sexualdelikte.
  2. Münchhausen-Syndrom by proxy als subtile Form der Kindesmisshandlung.
  3. Sudden Infant Death.
  4. Siehe hierzu ausführlich in Häßler/Schepker/Schläfke 2008, S. 228-230.
  5. Dausien 2008, in: Becker/Kortendieck 2008, S.356.
  6. vgl. Resnick 1970, S.1414ff.
  7. vgl. Marneros/Rohde 2007, S.588.
  8. Harbort 2010, S.73
  9. Mein Dank für die Bereitstellung der Bilder gilt insbesondere Frau Dr. Katja Jachau!
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