
Die Polizeipräsenz bei Versammlungen
6 Befund
Die Regelungsinhalte der vorliegenden Versammlungsgesetze sowie die aktuellen Judikate führen unter Berücksichtigung der einschlägigen Literaturmeinung zu folgendem Befund:
6.1 Gewährleistung der Versammlungsfreiheit als vorrangiger Auftrag des Gesetzgebers
Die Versammlungsfreiheit garantiert eine für die demokratische Ordnung „essentielle Form bürgerschaftlicher Selbstorganisation“.83 Insofern besteht der vorrangige Auftrag des Gesetzgebers in der Gewährleistung und im Schutz der verfassungsrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit. Versammlungen sind als Ausdruck einer grundlegenden und selbstbestimmten Freiheitsausübung zu betrachten. Ein bereichsspezifisches Versammlungsgesetz stellt damit nicht vorrangig ein Gefahrenabwehrgesetz, sondern vielmehr ein Grundrechtsgewährleistungsgesetz dar.84
6.2 Abhängigkeit der Grundrechtsrelevanz von der Wirkung einer hoheitlichen Maßnahme
Die Beurteilung der Polizeipräsenz bei Versammlungen als Eingriff ist stets von deren Wirkung auf die Versammlungsteilnehmerinnen und -teilnehmer und nicht vorrangig von dem beabsichtigten Zweck des Einsatzes zu bewerten. Auf die „Finalität“ der Maßnahme kommt es nicht an85 und eine Argumentation über die sogenannte „Schutztheorie“ ist zurückzuweisen.86 Ansätze dieser Art entsprechen nicht mehr den verfassungsrechtlichen Standards. Das hoheitliche Ziel einer Maßnahme ist im Hinblick auf die Grundrechtsqualität nur von nachrangiger Bedeutung.87 Dies gilt auch für faktische Behinderungen, soweit sie die Ausübung des Grundrechts beeinträchtigen und nicht nur geringfügiger Natur sind.88
6.3 Anwesenheit von Polizeikräften bedarf einer Befugnisnorm
In Bayern, Niedersachsen und Sachsen bestehen explizite Ermächtigungsgrundlagen hinsichtlich des Zugangsrechts der Polizei. Das Bundesrecht hingegen enthält keine Befugnisnorm, da § 12 VersG nur die Modalitäten der polizeilichen Anwesenheit, nicht aber die Voraussetzung des Eingriffs regelt. Ein Zugangsrecht der Polizei ergibt sich mithin in geschlossenen Räumen nur über den Weg der verfassungssystematischen Schranken, wobei die Anforderungen des § 13 VersG diesbezüglich ein brauchbarer Anhaltspunkt sein können.89 Noch nicht klar entschieden ist die Frage hinsichtlich der Voraussetzungen des Anwesenheitsrechts bei Versammlungen unter freiem Himmel. Da § 12 VersG aber auch hier als Befugnisnorm ausscheidet, kommt ein Zutrittsrecht der Polizei wohl nur über die Rechtsfigur der Minusmaßnahme unter den Voraussetzungen des § 15 VersG, im Zusammenhang mit Informationseingriffen auch nach §§ 12a, 19a VersG in Betracht.
6.4 Polizeipräsenz als Ausfluss der hoheitlichen Schutz- und Gewährleistungsaufgabe
Die Polizeipräsenz bei öffentlichen Versammlungen ist Ausfluss der hoheitlichen Schutz- und Gewährleistungsaufgabe und damit ein Akt grundrechtsfreundlicher Organisations- und Verfahrensgestaltung.90 Mit dieser Grundannahme ist es nicht in Einklang zu bringen, mit einer Anwesenheit der Polizeibeamten vorrangig auf die Strafverfolgungsvorsorge91 zu setzen. Dass damit wichtige Maßnahmen des taktischen Einsatzrepertoires ausgeschlossen sind, ist als systemimmanent zu akzeptieren.92 Die polizeiliche Taktik hat sich am Recht auszurichten und nicht das Recht an der Taktik.93
6.5 Legitimationspflicht unterstreicht die Zusammenarbeit
Die in den Versammlungsgesetzen des Bundes und der Länder verankerte Legitimationspflicht unterstreicht die Zusammenarbeit zwischen dem Versammlungsleiter und der Polizei und ist damit einer einschränkenden Auslegung nicht zugänglich.94 Der Versammlungsleitung sollen eindeutig erkennbare Ansprechpartner der Polizei zur Seite stehen, die sie im Einzelfall um Hilfe bitten kann. Außerdem soll einer möglichen Unsicherheit der Versammlungsteilnehmer begegnet werden, ob sie einer heimlichen Beobachtung durch die Polizei ausgesetzt sind.95
6.6 Keine Auslegung über den Wortsinn hinaus
Hinsichtlich der einfach-gesetzlich verankerten Legitimationspflicht ist eine Auslegung über den Wortsinn hinaus nicht zulässig.96 Da der Wortlaut des § 11 NVersG hinsichtlich des „Erkennengebens“ dem § 12 VersG entspricht, kommt der rechtskräftigen Entscheidung des VG Göttingen97 insofern eine grundsätzliche, bundesweite Bedeutung zu. Ist eine Bekanntgabe über die Einsatz- oder Einsatzabschnittsleitung98 nicht ausdrücklich vorgesehen, kommt nur eine individuelle Offenbarung in Frage.99 Zumindest für Zivilkräfte ist damit zu konstatieren, dass deren Einsatz in allen Bundesländern – außer Bayern – ohne ausdrückliche Anzeige beim Versammlungsleiter rechtswidrig ist.100
6.7 Gestaltung eines praktikablen Normengefüges
Da eine persönliche Vorstellungspflicht naturgemäß mit erheblichen praktischen Problemen verbunden ist und gerade bei Großlagen kaum realistisch erscheint,101 sind die Landesgesetzgeber aufgerufen, ein praktikables und zugleich dem hohen verfassungsrechtlichen Stellenwert des Art. 8 Abs. 1 GG gerecht werdendes Normengefüge zu schaffen. Dabei kann Art. 4 Abs. 3 BayVersG grundsätzlich als Vorbild dienen. Aus Gründen der Rechtsklarheit sollte aber nicht nur kodifiziert werden, wann eine Vorstellungspflicht der Einsatzleitung ausreichend ist. Vielmehr sollte das Gesetz auch Ausführungen darüber enthalten, in welcher Weise das „Erkennengeben“ der einzelnen Beamtin bzw. des einzelnen Beamten und der Einsatzleitung vorgenommen werden soll. Auch ist zu bedenken, dass bei größeren Lagen in Sporthallen oder Fußballstadien102 vergleichbare Probleme entstehen können, wie bei Versammlungen unter freiem Himmel. Insofern erscheint weniger eine Unterscheidung zwischen Versammlungen unter freiem Himmel und in geschlossenen Räumen als vielmehr nach Größe und Unübersichtlichkeit geboten.
7 Zum Abschluss
Mit der Verabschiedung erster Landesversammlungsgesetze und der zu den neu gefassten Normen ergangenen Rechtsprechung sind erneut Widersprüchlichkeiten zwischen den tradierten strategisch-taktischen Überlegungen der Polizei und den rechtlichen Rahmenbedingungen deutlich geworden. Die Lösung gegensätzlicher Bewertungen darf dabei nur über das Recht erfolgen, denn taktische Maßnahmen sind unmittelbar daran auszurichten.103„Die Einheit von Recht und Taktik ist evident.“104
Kritik an der faktischen Umsetzbarkeit des bereichsspezifischen Versammlungsrechts ist zunächst an den Gesetzgeber zu richten und fragmentarischen Normen in diesem Zusammenhang eine eindeutige Absage zu erteilen. Vielmehr sind vergleichbare Regelungen und föderativ abgestimmte Gesetzgebungsverfahren zu fordern.105
Die Verwaltung hat sich hingegen häufiger als bisher an den zentralen Rechtmäßigkeitsgrundsatz aus Art. 20 Abs. 3 GG zu erinnern und an die Tatsache, dass dem Rechtsstaat mit seinen Organen eine dienende Funktion zugewiesen worden ist.106
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