Zeitgeschehen

Überwindung der Kommunikationskrise

Was man für die Modernisierung der Demokratie aus Stuttgart’21 lernen kann.

Herr Sarcinelli, immer wieder erleben wir Konflikte, die die parlamentarische Demokratie nicht zu entschärfen in der Lage zu sein scheint. Eins der jüngsten Beispiele ist Stuttgart’21. Hier haben sich die Kontrahenten wenigstens darauf einigen können, sich auf ein Schlichtungsverfahren einzulassen. Wurde der Konflikt durch den Schlichterspruch beigelegt? Was ist für Sie das Ergebnis der Schlichtung?
Das also ist das Ergebnis: Aus Stuttgart‘21 wird Stuttgart‘21 plus. Inzwischen liegt der Schlichterspruch einige Wochen vor. Die alten politischen Fronten haben sich wieder formiert. Das kann nur verwundern, wer glaubte, ein mehrwöchiges Schlichtungsverfahren setze die Regeln der parlamentarischen Parteiendemokratie außer Kraft. Insofern war nichts anderes zu erwarten als ein zeitlich befristeter Burgfriede. Letztlich wird entschiedenen werden müssen, bauen oder nicht bauen.

Hat Stuttgart’21plus mehr gebracht als die Auflagen für Gleis-
erweiterung und Streckenausbau? Mehr als eine Stiftungslösung gegen Immobilienspekulation? Mehr auch als einen Stresstest, in dem die Funktionsfähigkeit des Gesamtprojekts überprüft werden soll?
Die Antwort heißt ja, auch wenn überschießende Demokratisierungshoffnungen gedämpft werden sollten. Über einige Wochen hinweg wurde eine Form des politischen Diskurses praktiziert, die man im politischen Alltagsgeschäft vermisst: eine Transparenz, die trotz stundenlanger Life-Übertragung nicht langweilte; eine Entzauberung von Expertenaussagen und Gegenexperten; eine vom Schlichter immer wieder eingeforderte klare Sprache; ein Kommunikationsstil, bei dem Konzepte durch das bessere Argument überzeugen mussten und politische Meinungen dem Säurebad des argumentativen Austausches ausgesetzt waren; eine Streitkultur schließlich, bei der sich parlamentarische und außerparlamentarische Akteure auf gleicher Augenhöhe begegneten.

Ist der Weg von Stuttgart‘21 zu Stuttgart‘21plus also ein Modell für die Lösung anderer Großprojekte? Weist die Schlichtung trotz fortdauernden politischen Streits Wege für die Modernisierung unserer Demokratie?
Deutlich geworden ist jedenfalls, dass es um mehr ging und geht, als um die Tieferlegung eines Bahnhofes und die Untertunnelung einer Stadt, um mehr auch als ein verkehrspolitisches Jahrhundertprojekt. Stuttgart‘21plus könnte sich zu einem Symbol, zum Testfall für die Funktionstauglichkeit und Lernfähigkeit des parlamentarisch-repräsentativen Systems in Deutschland entwickeln. Das mag verwundern angesichts einer paradoxen Lage: Einerseits ist die Kritik verbreitet, der Politik fehle aufgrund kurzer Wahlzyklen langer Atem, Macht und Mut zu strategischen Entscheidungen. Andererseits rührt sich zunehmend bürgerschaftlicher Protest, wenn Großvorhaben in langwierigen Verfahren parlamentarisch-politisch entschieden und nach Abarbeiten aller juristischen Einwände nach vielen Jahren realisiert werden sollen. Die demokratische Grundregel einer „Legitimation durch Verfahren„, über die „global gewährte Unterstützung„ bei Wahlen „gegen Befriedigung im großen und ganzen„ (Niklas Luhmann) getauscht wird, reicht offenbar nicht mehr aus.
Auch im Falle von Stuttgart’21 wurde über mehr als eineinhalb Jahrzehnte beraten, prozessiert, abgestimmt und dann rechtmäßig entschieden – alles legal, am Ende dann aber doch voller . Was ist schief gelaufen bei dem doch angeblich so korrekten Willensbildungs- und Entscheidungsprocedere? Wieso waren die vom Schlichter vorgeschlagenen Auflagen, Nachbesserungen und Funktionstests, die heute so plausibel erscheinen, nicht bereits Bestandteil des langwierigen Verfahrens? Man muss den Konflikt um Stuttgart’21, den massiven Bürgerprotest, nicht zur Legitimationskrise der Demokratie stilisieren. Ein Exempel für eine veritable Kommunikationskrise der Politik und für wachsende Legitimitätszweifel ist er allemal.

In der politischen Diskussion werden von verschiedenen Seiten basisdemokratische Beteiligungsmöglichkeiten wie Bürgerentscheide als Weg aus der Krise vorgeschlagen. Wie beurteilen Sie solche Vorschläge?
Die Gefahr besteht, dass diese Einsicht durch verfassungsrechtlich schwierige und auch politisch nur langfristig durchsetzbare Ratschläge zur Anreicherung der repräsentativen Demokratie mit plebiszitären Elementen verstellt wird. Ganz abgesehen von den Schwierigkeiten, Elemente z.B. aus der lange gewachsenen Schweizer Konkordanzdemokratie in die bundesrepublikanische Wettbewerbsdemokratie zu implantieren. Auch das kalifornische Modell mit seinen weitgehenden plebiszitären Rechten erscheint mit Blick auf die zu besichtigenden Politikblockaden ein wenig nachahmenswertes Vorbild. Ob und in welchem Umfange direktdemokratische Mitwirkungsmöglichkeiten über die bisherigen Regelungen auf kommunaler und Länderebene hinaus im Grundgesetz verankert werden sollten, darüber kann man nachdenken. Hier ist jedoch eine nüchterne und vom Tagesstreit losgelöste Abwägung der verfassungspolitischen Konsequenzen geboten. Auf der Tagesordnung sollte die Frage der Qualität von Kommunikation in der Politik stehen, die und nicht ein anderes Demokratiemodell. Denn in einem scheint über alle Fronten hinweg Einigkeit zu bestehen. Stuttgart’21 hat ein veritables Kommunikationsproblem unseres politischen Betriebs offenbart.
Kommunikation mag in der modernen Mediengesellschaft inzwischen ein Allerweltsphänomen sein. Für die Politik war und ist sie es jedoch nicht. Denn mit dem Politischen ist das Kommunikative untrennbar verbunden, weil das „Reden selbst als eine Art Handeln„ (Hannah Arendt) aufgefasst werden muss und Macht erst aus dem Zusammenhandeln der Vielen entstehen kann. Schon die Väter der amerikanischen Verfassung wussten zu unterscheiden: Es sind nicht Sachfragen oder gar Sachzwänge, die das Politische an der Politik ausmachen, sondern die in vielfältigen Kommunikationsprozessen ausgetauschten Meinungen. „All government rest on opinion„ (Federalist Papers Nr. 49). Deshalb ist auch die beliebte Formel aus der Politikerrhetorik, es gebe keine Alternative, eine Irreführung des Publikums. In der Demokratie erfolgt Legitimation durch Kommunikation, möglichst auf der Basis von Alternativen. Das aber ist etwas anderes als die Exekution vermeintlicher Sachzwängen. Legitimation durch Kommunikation ergibt sich jedoch nicht automatisch. In der Mediengesellschaft ist sie mehr denn je ein professionelles Geschäft.

Aber hat nicht der Kommunikations – wie überhaupt der Medienbetrieb im Vergleich zwischen der „Berliner Republik„ und den beschaulichen Bonner Verhältnissen eine bemerkenswerte Expansion erfahren?
Unübersehbar ist jedenfalls nicht nur auf der Bundesebene eine wachsende Branche von Sprechern, Öffentlichkeitsarbeitern, Beratern und Spindoctors, die sich mit ihren Kommunikationsdienstleistungen der Politik andienen. So wurde Kommunikation zu einer hochspezialisierten Sozialtechnik entwickelt, zu einer von der Politik separierten, eigenständigen Sphäre. Damit aber kommt Kommunikation nicht als integraler Bestandteil von Politik ins Spiel, sondern als eine zur Politik hinzutretende Vermittlungstechnik: Kommunikation aber muss zur Entwicklungs-, Überzeugungs- und Durchsetzungsbedingung für Politik vor allem dann werden, wenn es nicht um Routinepolitik, sondern um die Auseinandersetzung über strategische Ziele und Weichenstellungen geht – und zwar von Anfang an, also bereits bei der Zielbestimmung.
Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Mit den professio-
nellen Mitteln der Kommunikationsbranche wird die Vorderbühne der Politik bespielt und grell beleuchtet. Nicht selten findet dabei eine mediale „Umwertung der Wichtigkeiten„ (v. Weizsäcker) statt. Auf dieser Bühne geht es um , um Politik als Oberflächenphänomen. Weitgehend ausgeblendet bleibt die politische Hinterbühne, die . Das sind zwei unterschiedliche und nicht einfach zu verschmelzende Welten, die aufeinander bezogen sind, die aber einer je eigenen Logik folgen. Auf der darstellungspolitischen Seite zählen vor allem Medienpräsenz auf der Basis von Neuigkeitswert, Zuspitzung, Personalisierung, ggf. auch Unterhaltung und anderen Aufmerksamkeit sichernden Nachrichtenfaktoren. Darstellungspolitik konzentriert sich deshalb auf die politische Momentaufnahme und auf den Augenblickserfolg beim Publikum. Auf der entscheidungspolitischen Seite kommt es hingegen auf die Einhaltung rechtlicher und politisch-administrativer Rahmenbedingungen an, zählen Sach- und Fachkompetenz, geht es um Interdependenzbewältigung, Kompromissbildung und Verfahrenskorrektheit, das alles in zumeist unspektakulären und manchmal auch diskreten Abstimmungsprozessen.

Müssen also diese beiden Ebenen, die Darstellungs- und die Entscheidungspolitik, stärker miteinander verbunden werden?
Zwischen den beiden Kommunikationswelten, der Darstellungspolitik und der Entscheidungspolitik, gibt es zwar „reziproke Effekte„ (Kepplinger). Denn Akteure im Entscheidungsbereich ziehen die mediale Wirkung ihres Handelns mit ins politische Kalkül, bedienen sich auch der Medien, wie die Medien sich ihrerseits der Politik andienen. Insofern wird Politik notwendigerweise medialisiert. Das muss dann noch nicht die Kolonisierung der Politik durch die Medien bedeuten. Vielfach handelt es sich um symbiotische Austauschbeziehungen. zum wechselseitigen Vorteil: Getauscht wird die Gewährleistung von Publizität mit dem Zugang zu Informationen. Entscheidend bleibt dabei freilich, dass politische Weichenstellungen im demokratischen System letztlich nicht in den politisch-institutionellen „Arenen„ entschieden werden, sondern auf der der zum (Medien)Publikum versammelten Bürger. Denn auch das intern Ausgehandelte unterliegt am Ende der öffentlichen Begründung, Prüfung und Ratifikation. Das gilt für die etablierten Akteure der Politikvermittlung ebenso wie für Bürgerbewegungen und andere Akteure der Zivilgesellschaft.
Mehr denn je entscheidet sich die Machtfrage im demokratischen System unserer modernen Mediengesellschaft an der Kommunikationsfrage. Wie sich am Fall Stuttgart’21 erneut und geradezu symbolisch zeigt, fallen beide aber mehr und mehr auseinander. Wenn aber Information und Kommunikation als lästiger Zusatzaufwand und als Test für die Marktgängigkeit eines fertigen Produktes begriffen, wenn Kommunikation so zum Appendix der Politik wird, muss man sich nicht wundern, dass Legitimitätszweifel, Protest und Machtverlust die Folge sind. Dann aber alles politische Heil in der plebiszitären Demokratie zu suchen, verlagert die Kommunikationskrise, in der sich die Politik in Deutschland befindet, auf einen verfassungsrechtlichen Verschiebebahnhof.

Wo sehen Sie Chancen für unser parlamentarisches System? Welche Veränderungen schlagen Sie Verantwortlichen vor?
Auf der Tagesordnung muss stattdessen die kommunikative Runderneuerung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie stehen. Die viel kritisierte Parteiendemokratie sollte dabei nicht vorschnell abgeschrieben werden. Konkret bedeutet dies also eine Umsteuerung von Kommunikation als medienzentriertes, exklusives Elitenspiel hin zur verstärkten, aktiven Organisation inklusiver Bürger-Politik-Kommunikation: Von der zur demokratischen . Dabei geht es um aktivierende Foren, Plattformen und Beteiligungsgelegenheiten jenseits der üblichen Anhörungsroutine, möglichst schon im Vorfeld politischer Festlegungen in den Prozessen der parlamentarischen Parteiendemokratie. Notwendig ist die Öffnung der Institutionen-Politik, auf der Ebene der Parteien, der Parlamente und der Exekutive. Gefragt sind dabei neue institutionelle Arrangements, die zivilgesellschaftliche Diskurse mit Verfahren der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie verbinden – zur wechselseitigen Befruchtung. Zu all dem bedarf es politischer Phantasie ebenso wie hoher Innovationsbereitschaft, gerade bei den etablierten Akteuren und Institutionen. Das ist ein schwieriger Lernprozess, bei dem vor Illusionen zu warnen ist. Gefragt sind nicht wohlfeile Rezepte oder sozialtechnologische Kniffe zur Erzielung kurzfristiger politischer Effekte, sondern eine langfristige Umsteuerung in der Organisation unseres Politikvermittlungsbetriebs. Der Aufbau und die wird alles andere als konfliktfrei ablaufen. Es geht nicht um die Verabreichung von Beruhigungspillen und schon gar nicht um eine politische Spielwiese, sondern um eine neue demokratische Streitkultur, die diesen Namen verdient. Dabei wird das Feld politischer Verantwortung neu vermessen werden, denn eine neue Kommunikations- und Beteiligungskultur bedeutet auch Abgabe von Macht. Dies alles löst nicht alle Probleme. Es entspräche aber einer komplexer werdenden Gesellschaft, die nach verstärkter Mitsprache verlangt, sich zugleich aber immer weniger in Organisationspflichten dauerhaft einbinden lässt. Ökonomisch gesprochen: Die neue Kommunikations- und Beteiligungskultur ist anstrengend. Sie verursacht erhöhte Transaktionskosten. Dafür verspricht sie dann aber den Legitimitätsgewinn, der die parlamentarisch-repräsentative Demokratie in Deutschland beleben kann.

Könnten Sie uns abschließend noch ihre Einschätzung zur Rolle der Polizei in dem von Ihnen angesprochenen Prozess einer „Runderneuerung„ der Kommunikationskultur geben?
Ich bin kein Polizeiexperte und bitte deshalb um Verständnis, wenn ich mir mit einem Urteil schwer tue. Vielleicht nur so viel: Mir sind noch Zeiten in Erinnerung, in der die Polizei noch weithin als ein bürgerfernes, eher Furcht als Vertrauen einflößendes staatliches Kontrollregime wahrgenommen wurde. Diese Zeiten haben sich gründlich geändert und die Polizei gehört inzwischen mit Recht zu den staatlichen Institutionen, denen ein stabil hohes Vertrauen entgegengebracht wird. Das hat auch mit einer unverkennbar professionellen Kommunikationskompetenz auf Seiten der Polizei zu tun. Wie es nicht laufen darf, hat einmal mehr Stuttgart `21 gezeigt. Ich habe – freilich aus der Ferne beobachtet – den Eindruck, dass bei den Konflikten um Stuttgart `21 nicht nur polizeitaktisch schwere Fehler gemacht wurden. Ich frage mich auch, wie es zu solchen Fehleinschätzungen kommen konnte. Inzwischen ist ja vielfach darüber diskutiert worden, ob nicht die starke politische Druckkulisse ein unkluges, unverhältnismäßiges, polizeiliches Eingreifen mit begünstigt hat. Umso ärgerlicher finde ich, dass – wieder einmal – der Mut auf Seiten der Politik gefehlt hat, politische Verantwortung zu übernehmen. Auch dies ein Beispiel, wie politische Glaubwürdigkeit verspielt werden kann.

Das Interview führten Gunhild Groeben und Herbert Klein.

Prof. Dr. Ulrich Sarcinelli
Politikwissenschaftler
Vizepräsident Universität
Koblenz-Landau