Jugendliche im Visier terroristischer Rekrutierungsarbeit
„Homegrown-Terrorism“ und der Mythos Gottesstaat
Meldungen über den Gerichtsprozess des Ulm-Sauerland-Netzwerkes lassen die Frage aufkommen, warum junge Menschen sich terroristischen Zielen verschreiben und für diese bereit sind, sich und ihnen unbekannte Menschen zu töten. Die Untersuchung solcher Radikalisierungsprozesse ist in zweierlei Hinsicht wichtig: Zum einen stellt sich die Frage, warum junge Migranten, deren Eltern Hoffnung auf sozialen Aufstieg und Wohlstand hegten, sich in Deutschland radikalisieren. Zum zweiten, warum Deutsche, die vormals keinerlei Bezug zur islamischen Glaubenskultur hatten, diesen plötzlich in fanatischer Weise leben. Dabei können weder die Besonderheiten im Jugendalter noch die persönliche Situation der Rekrutierten isoliert betrachtet eine plausible Antwort geben. Nachfolgend wird besonders der Entwicklung vom Erstkontakt mit fanatischem Gedankengut bis hin zur eigenen Überzeugung Aufmerksamkeit gewidmet, wobei kalkulierte Gruppendynamiken eine wichtige Rolle spielen.
Dorothee Dienstbühl
Dipl. Sozialwirtin
Humboldt-Universität Berlin
Der Artikel untersucht Abläufe der Rekrutierungsarbeit islamistischer Fanatiker, insbesondere der Al Qaida. Die Al Qaida besitzt bereits eine Art Kultstatus bei jungen Menschen, der auch von anderen radikal-islamistischen Gruppierungen zur Rekrutierung genutzt wird; bzw. Gruppen etablieren sich nach deren Vorbild. Ein vergleichender Blick auf Glaubensgrundsätze des Islam mit den extremistischen Inhalten offenbart die Diskrepanz zwischen religiöser und terroristischer Überzeugung.
„Allahu Akbar„ – die inhaltsleere Kampfansage
Islamistischer Terror hat eine Schwäche: es gibt kein (politisches) Programm, das explizite Vorstellungen für den Fall des Erreichens ihrer Ziele vorsieht. Dies fällt besonders bei der Al Qaida auf.1 Das Netzwerk will die weltweite Islamisierung und Unterwerfung des islamischen Rechts durchsetzen.2 Nun darf man sich das islamische Regelwerk, die schari´a, jedoch nicht als ein Buch vorstellen, in dem die Gesetze des Islam kodifiziert sind. Vielmehr handelt es sich um ein Konstrukt, dass neben dem Koran auf mehreren Schriften unterschiedlicher Quellen und deren Interpretation basiert. Was dazu gehört und was nicht, ist eine alte Streifrage unter Islamgelehrten. Auch ist die Übersetzung der schari´a als „das islamische Recht„ zu kurz gegriffen. Die terroristische Forderung nach einem Leben im Sinne der schari´a meint folglich eine Ordnung nach Auslegung von Al Qaida Programmatikern, die keineswegs gesamtmuslimische Interessen vertreten. Im Gegenteil: Selbstmordattentate und das Töten von Zivilisten sind gemäß dem Koran strikt verboten.3 So sind auch die von Bin Laden gesprochenen fãtwas (islamische Rechtsgutachten) zur Rechtmäßigkeit des Kampfes gegen die USA absolut unwirksam, da es sich bei Bin Laden nicht um einen dafür ausgebildeten Kleriker handelt, dem einzig solche Verlautbarungen zustehen.4 Entsprechend handelt es sich auch in keinem solcher Fälle um anerkannte Rechtsgutachten, sondern lediglich um eine geäußerte Meinung von extremistischen Laien. Der Wille der Al Qaida und ihr nacheifernder Gruppen ist nach islamischer Auffassung absolut verboten. Dieser Sündenfall von Al Qaida und andere Terroristen stört die Extremisten nicht, denn gegenwärtig befinden sie sich im Djihad, den sie zunächst gewinnen müssen. Man darf sich die Mitglieder solcher Gruppierungen nun nicht zwangsläufig als Muslime vorstellen, die die Lehren des Islam eingehend studiert haben. Das ehemalige Hizb ut-Tahrir Mitglied Ed Husain beschreibt die Gruppenaktivitäten als ständige Propaganda- und Rekrutierungsaktionen. Oftmals seien Gebete schlichtweg vergessen worden; zudem handelte es sich in der Mehrheit auch nicht um gelehrte Muslime, die der arabischen Sprache mächtig gewe-sen wären.5 Die Rekrutierung erfolgt in einem möglichst kurzen Prozess, damit das Neumitglied nicht schnell jede Illusion hinsichtlich des Djihad und der Errichtung eines Gottesstaates verliert. Das Phänomen der „Schnell-Rekrutierung„ ist in der Erfahrung Deutschlands mit Terrorismus kein unbekanntes, erinnert es doch an die inhaltsleeren Imperativhülsen der RAF und der „Bewegung 2. Juni„: Sympathisanten mussten sich schnell für oder gegen das Leben in der Illegalität entscheiden. Wer nicht direkt seine Existenz aufgab und „mit in den Untergrund„ ging, musste sofort die Gruppe verlassen.6 Parallelen bestehen zwischen islamistischextremistischen Gefügen sowohl mit Linksextremisten in der antiimperialistischen Haltung und dem Feindbild Amerika, als auch in Sympathien mit der Person Hitlers als konsequentem Bekämpfer der Juden.7 So konfus das gedankliche Fundament der Terroristen also ist, so wenig darf man auch von einer streng organisierten Rekrutierungsstrategie im europäischen Raum ausgehen. Dennoch funktionieren die grundlegenden Mechanismen der Rekrutierung in ähnlicher Weise.
Subkultur, Persönlichkeitskonflikte und die ewige Opferrolle
In Deutschland leben über 3 Mio. Menschen mit muslimischem Hintergrund, von denen hohe Anteile als „nicht integriert„ gelten oder in einer islamistischen Organisation aktiv sind.8 Zum Teil beherrschen sie nicht die deutsche Sprache, sind ohne Beschäftigungsverhältnis oder leben gesellschaftlich isoliert innerhalb einer Unter- oder Subkultur. Zumeist gehören muslimische Zuwanderer in europäischen Ländern einer eher bildungsfernen Schicht an.9 Gerade in solchen in Europa befindlichen Subkulturen ist ein Nährboden für fundamentalistisches Gedankengut zu vermuten. Aus diesen erhoffen sich Fundamentalisten weitere Anhänger für „ihre Sache„ zu gewinnen. Dass und wie sich eine Person radikalisiert, hängt von mehreren Faktoren ab. Zeit und äußere Beeinflussung spielen dabei eine tragende Rolle.10 Wenn es zur Planung eines Anschlages kommt, haben sich die psychologischen Mechanismen zur Radikalisierung bei einem potentiellen Täter längst abgespielt.11 Hierzulande sind vor allem junge, männliche Muslime im Visier der Rekrutierungsarbeit, die zwar die westliche Moderne zu leben versuchen, sich aber unter Umständen gegenüber anderen in ihrem Alter materiell benachteiligt und nicht zugehörig fühlen.12 Das wissen auch die mit der Rekrutierungsaufgabe Betrauten. Sie gehen in verständnisvoller Art auf die Bedürfnisse der jungen Menschen ein und erklären solche zur Gemeinsamkeit.13 Sie schwören ihre Jugendlichen als Zugehörige einer Gemeinschaft ein, die in ihrem Wahrheitsanspruch über der Gesellschaft steht, von der sie sich ausgeschlossen fühlen. So werden Vorbilder von erfolgreichen Muslimen präsentiert und mit der Glaubenszugehörigkeit begründet (beispielsweise seien die erfolgreichsten Sportler Moslems, usw.). Auf solche Weise wird den Jugendlichen Schritt für Schritt verinnerlicht, dass sie Zugehörige einer Elite sind, die von der westlichen Gesellschaft zu Unrecht nicht akzeptiert wird. Diese aus Berechnung erzeugte Arroganz führt nicht selten zur latent erhöhten Aggression gegen die gesellschaftliche Umgebung.14 Die sehr einfach konzipierte Ideologie extremistischer Vereinigungen ist dabei der entscheidende Rückhalt; die präsentierten Antworten, die höheren Ziele und das Gefühl einer „besseren„ Gemeinschaft sollen die gesellschaftliche Verbundenheit nach und nach auflösen. Um dies zu verinnerlichen, ist ständige Indoktrination die Basis der Rekrutierung.15
Besteht eine generelle Besorgnis und die Annahme einer ansteigender Jugendkriminalität bei sinkendem Alter und stetiger Verrohung, werden Pädagogen und Kriminologen nicht müde, den Umstand des Erwachsenwerdens als besondere Krisenphase herauszustellen, in der die Anfälligkeit für delinquentes Verhalten vorübergehend ansteigen kann. So sei zum Beispiel Schulversagen ein Stressfaktor, der durch das Gefühl von Versagen, Selbstblamage und dem „Ausgesetzt sein„ seiner Schwächen vor Klasse und Lehrern das Gefühl fördert, nicht verstanden zu werden. Aus dieser Verzweiflung wiederum könne ein zunächst recht unspezifischer Hass entstehen, der die Zugänglichkeit zu dogmatisch-eingeschränkten Sichtweisen erleichtert. Ähnliche Erklärung findet sich übrigens auch bei Amokläufen und insbesondere School-Shootings: ein Außenseiter, der sich immer weiter selbst ausgrenzt und durch gewaltfördernde Medien oder Spiele einen immer stärkeren Hass gegen sein Umfeld entwickelt.16 Dass nun speziell Jugendliche und junge Erwachsene in extremistischen Vereinigungen aktiv werden, ist kein neues Phänomen, aber auch statistisch kein überdimensionales. Die bekanntgewordenen Fälle geraten nur zeitweise verstärkt in die öffentliche Aufmerksamkeit.17 Jedoch stellt die Nachwuchsarbeit terroristischer Organisationen eine ihrer wichtigsten Aufgaben dar, was wiederum eine nicht zu unterschätzende Bedrohung bedeutet. Nachfolgend wird die Eingliederung in eine extremistische Gruppierung näher betrachtet.
Individuelle und gruppendynamische Strategie
Eine Person wurde als Interessent rekrutiert, Zweifel an die bisherige Existenz und das Umfeld wurden geschürt und nun soll dieser Rekrut in eine Gruppe eingegliedert werden, damit sich das gesäte Gedankengut weiter verfestigt. Die Person bezeichnen wir daher fortan als Anwärter. Ein wichtiger Aspekt zur Manifestierung fanatischen Gedankengutes ist die Eingliederung des Anwärters in ein festes Gruppengefüge mit immerwährender Bestätigung der neuen Lebens- und Sichtweisen. Mit dem Status des Anwärters ändert sich seine Position: wurde er zuvor umworben, muss er sich nun bewähren. Das Umwerben wird jedoch nicht gänzlich ausgesetzt; der Anwärter muss das Gefühl bekommen, in der Gruppe richtig zu sein. Sobald diese Empfindung eintritt, kann die Gruppe von ihm Einsatz und Loyalität verlangen. Dadurch wird eine Erwartungshaltung an den Anwärter vermittelt, welcher er entsprechen möchte, was wiederum zu einer engeren Bindung an die Gruppe und zu einer intensiveren Übernahme der Gruppenmeinung als eigene Attitüde führt. Allerdings muss man sich an dieser Stelle von dem prototypischen Profil eines Rekruten verabschieden. Zwar sind die Eingliederungsmechanismen ähnlich, dennoch ist der Verlauf von den jeweiligen Anhängern abhängig und deswegen individuell. Zellen und Kleingruppen entstehen nicht nach einem strikten Bauplan, sondern in Eigenregie. Auch gibt es kein formales Rekrutierungsprogramm der Al Qaida. Es handelt sich vielmehr um eine wachsende Rekrutierungsarbeit „von unten„.18 Dabei ist das Milieu entscheidend, in dem sich die Gruppen aufbauen. Solche Zellen sind in der Regel sehr klein; bis zu zehn Mann stark und organisieren sich selbst nach Veranlagung ihrer Mitglieder. Im Prinzip „wachsen„ sie und mit ihnen extremistische Überzeugungen, ohne dass sie streng hierarchisch strukturiert sind. Das erklärt die unterschiedliche Herkunft und den Hintergrund der Zellenmitglieder. Die Botschaft der Al Qaida wird mittels Internet, eigenen Medienproduktionen und -berichten und schließlich der Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet. Die Machart terroristischer Videos erinnert an Video-Spiele und übt einen zusätzlichen Reiz insbesondere auf männliche Heranwachsende aus.Ausgangslage für radikale Haltungen sind, bei Muslimen wie bei Konvertiten, generell auf eine empfundene Frustration zurückzuführen: Ein Mensch ist unzufrieden mit der aktuellen Situation und erlebt seine alltäglichen Möglichkeiten als unzureichend, bzw. als falsch.19 Das wird in der kriminologischen Lehre auch als ein „Ziel-Mittel-Konflikt„ beschrieben.20 Eine Person will beispielsweise ein bestimmtes Gut, weil das in seinen Augen ein gesellschaftliches Statussymbol darstellt. Dieses hat nun einen Preis, den sich die Person mit seinen aktuell vorhandenen Mitteln in absehbarer Zeit definitiv nicht leisten kann. Die Person beginnt nun zu kalkulieren und zu prüfen, ob sich neue Mittel zum Erwerb finden lassen. Findet die Person keinen legalen Weg und überlegt sich einen illegalen, findet dann die erneute Abwägung der Mittel statt, sowie die Kalkulation des Risikos. Sind keinerlei Mittel vorhanden, um das gewünschte Objekt in ihren Besitz zu bringen, bedeutet das für die Person einen Zustand der Frustration. Frustration kann wiederum zu Aggression führen, was Grundbedingung für eine fanatische Persönlichkeitsentwicklung ist. Ein wesentliches Element fanatisierender Mechanismen bei Jugendlichen sind Phantasien und deren zugrunde liegenden Motivation. Jemand, der sich schwach fühlt sehnt sich nach Stärke. Ein Jugendlicher, der seine Existenz als chancenlos wahrnimmt, möchte andere dafür verantwortlich machen, um sich für seine Misere nicht verantwortlich fühlen zu müssen.
Vom Konvertiten zum Terroristen
Welchen besonderen Reiz übt nun eine fanatische Glaubenskultur auf deutsche Jugendliche aus, zu der sie bislang keinerlei Bezug hatten? Der Psychotherapeut Schmidbauer erklärt den Verlust der emotionalen Stabilität als ein erleichterndes Element für die fanatische Rekrutierungsarbeit. Diese These erläutert er am Beispiel von Mitgliedern der Ulm-Sauerlandgruppe, Fritz Gelowicz und Daniel Schneider.21 Hier seien zunächst persönliche und familiäre Probleme Grund für das innere Ungleichgewicht der Jugendlichen gewesen, was bereits vor deren Radikalisierung zu, auch strafrechtlich relevanten, Auffälligkeiten geführt habe. Das Beispiel des „Ulm-Sauerländer-Netzwerkes„ um den ägyptischen Hassprediger Dr. Yehia Yousif zeigt die gezielte Rekrutierung von Personen, die in der deutschen Gesellschaft nicht weiter kommen. Im Neu-Ulmer Multikulturhaus des Islamischen Informations-Zentrums (IIZ) scharte er junge Anhänger um sich (übrigens während sich sein Sohn Ohmar Yousif in Pakistan in einem Ausbildungslager auf den praktischen Djihad vorbereitete), die gezielt nach solchen Personen Ausschau halten sollten.22 Arbeitslose junge Menschen wurden in dem Multikulturhaus aufgenommen und mit ihnen je nach Veranlagung und Begabung weiter verfahren: Diejenigen, die als intelligent auffielen, wurden in Sprach- und Islamkurse geschickt, die von der Einrichtung finanziert wurden. Für weniger Talentierte reicht die Indoktrination an sich aus; sie wurden direkt zur Rekrutierung weiterer Personen aus dem herkömmlichen Umfeld (Familie, Freunde) herangezogen. Daneben gehörten die tägliche Koranlektüre und die ständige Botschaft, dass ein guter Muslim die Pflicht habe, Ungläubige zum Islam zu bekehren. Dabei wurde die Attraktivität des Jenseits durch die Vorstellung des Paradieses als Ziel der ganzen Unternehmung immer wieder gepredigt, um dem „Bekehrten„ den geringen Wert des irdischen Lebens zu suggerieren.
Das Überlaufen der Konvertiten in ein demokratiefeindliches Lager muss das westliche Empfinden schmerzen. Favorisiert wird der einstige hilfsbereite, nette Junge von nebenan, der aufgrund äußerer Umstände begann den Halt zu verlieren. Der Anwärter sollte insbesondere ein Opfer der westlichen Gesellschaft sein, die ihn fallen gelassen hat. Diese Opferrolle wirkt dabei in zweierlei Hinsicht: zum einen als Lockmittel, um ihm Verständnis in den eigenen Reihen zu vermitteln. Zum Anderen, um dem westlichen Feind vor Augen zu führen, dass er Schuld daran hat, dass sich ein einstiges Mitglied seiner Gesellschaft nun gegen ihn wendet. Der Terrorismusexperte Roy unterteilt konvertierte Mitglieder der Al Qaida aus Europa in zwei Kategorien: Solche, die von sich aus ihren Weg zur Moschee gefunden haben und dort konvertierten und solche, die sich ihren „Genossen„ innerhalb (klein-)krimineller Subkulturen angeschlossen haben.23 Neben dem gemeinsamen Feindbild haben die konvertierten Mitglieder zudem die Chance, in eine für die Gruppe wichtige Schlüsselposition zu gelangen, die sie im realen Leben nie erreicht hätten. Das macht das Erklären der fanatischen zu eigenen Zielen zusätzlich attraktiv. Durch Parallelen zu linksradikalen Feindbildern, übt die Al Qaida für Personen um 30 Jahre, die sich zu einer anderen Zeit vielleicht selbst einer linksextremistischen Gruppierung angeschlossen hätten, ebenfalls eine Faszination aus. Die Entterritorialität löst den Zwang der traditionellen Kultur innerhalb der Gruppierungen in Deutschland und Europa. Somit bieten islamistische und global agierende Terrorgefüge wie die Al Qaida enttäuschten und auch gescheiterten Systemgegnern ein politisches Zuhause. Dabei ist die Religion Mittel und Medium, aber nicht das alleinige Element.
(Wo) kann die Polizei präventiv eingreifen?
Präventive Patentrezepte für derart komplexe und auch individuelle Mechanismen verbieten sich von selbst. In der Debatte muss klar sein, dass Maßnahmen zur Verhinderung von Radikalisierungsprozessen wie oben beschrieben, seitens der Polizei so gut wie gar nicht zu leisten sind. Sobald eine Person sich radikalisieren möchte, haben sich erstens die individuellen Erfahrungen abgespielt, die eine solche Entwicklung begünstigen und zweitens ist der Radikalisierungsprozess an sich nicht zwangsläufig an eine Straftat gebunden. Die Polizei kann und darf weder Konvertiten oder junge Muslime unter Generalverdacht stellen, die sich mehrmals in der Woche in konspirativen Gruppen treffen, noch kann sie jede Gruppierung kennen, geschweige denn observieren, ohne dass irgendein Verdachtsmoment vorliegt. Gruppengefüge, besonders von der Personenanzahl her sehr kleine, sind zudem schwierig von außen auszuhebeln. Insofern zeigen sich für sicherheitsbehördliche Maßnahmen kaum Handlungsmöglichkeiten. Ein weiteres Problem offenbart sich in der Heterogenität von Konvertiten, die sich dem fanatischen Kampf der Al Qaida verschreiben. Sie kommen aus unterschiedlichen Schichten, mit unterschiedlichem Bildungshintergrund, etc. In Einzelfällen doch in eine solche Gruppe eindringen zu können, ist nur mit politisch hochbrisanten und originär aggressiven nachrichtendienstlichen Methoden, wie verdeckten Ermittlungen und Online- und Telekommunikationsüberwachung möglich und auch dann kann ein Erfolg nicht garantiert werden. Dennoch gibt es Punkte, an denen bereits angesetzt wird. Rekrutierungsarbeit ist insgesamt zeit- und kostenaufwendig. Vor allem Konvertiten sollen Grundkenntnisse der arabischen Sprache, der islamischen Religion und Kultur erlernen, um sich stärker damit zu identifizieren. Diverse Koranschulen in Ägypten, Tunesien oder Äthiopien bieten eine abgeschottete Lernatmosphäre unter Anhängern einer strikten Islamlehre, teilweise sogar mit angeschlossenem paramilitärischem Ausbildungslager. Die Madrassen in Pakistan sind bekannt dafür, dass in ihnen Kämpfer der Taliban regelrecht herangezüchtet wurden.24 An den Finanzen von Terroristen anzuknüpfen, ist daher immer geboten und wichtig, um Rekrutierung wenigstens ein Stück entgegenzuwirken. Gemäß des Grundsatzes „Kenne Deinen Gegner„ ist es weiterhin zwingend notwendig, dass (Sicherheits-)Behörden Kenntnisse über die islamische Kultur, der schari`a als islamisches Recht und die Rekrutierungsmethoden und –Kampagnen erlangen. Ein bedarforientiertes wissenschaftliches Zuarbeiten kann helfen, um Polizisten zu entlasten und gezielte Informationen kurz und bündig aufzuarbeiten. Entsprechende Auskünfte müssen jedem Polizisten bei Bedarf schnell zugänglich gemacht werden können. Jugendliche, die in anderweitigen Bereichen auffällig sind (z.B. Kleinkriminalität, aggressives Verhalten, etc.) und sich abschotten, bzw. nur noch einen Anlaufpunkt besitzen, müssen stärker kontrolliert werden. Dies kann von der Polizei ebenfalls in nur geringem Umfang geleistet werden. Hilfreich sind polizeiliche Ansprechpartner in den Moscheegemeinschaften und Treffpunkten, die selbst mit Migrationshintergrund und Kenntnissen des Milieus integrativ wirken und Sicherheitsbehörden verständigen können, wenn sie extremistische Bestrebungen wahrnehmen. Zudem ist eine Art aufklärende Jugendarbeit gerade von Muslimen, die in Deutschland eine Heimat gefunden haben und integriert sind, unbedingt wünschenswert und notwendig. Aber auch ehemalige Radikale könnten einen wichtigen Beitrag im Rahmen spezieller Aussteigerprogramme leisten, die auf die militante Islamisten-Szene zugeschnitten sind.25 Derartige Programme existieren in Deutschland bislang kaum. Für bei Behörden bereits bekannte Jugendliche (Jugendamt, Arbeitsamt, Bewährungshilfe etc.) ergeben sich gleichzeitig Chancen wie Hürden: Zwar haben solche Jugendliche Ansprechpartner in den öffentlichen Einrichtungen und ihr Verhalten fällt zuweilen auf, jedoch ist der Austausch in diesem Bereich oftmals ungenügend und führt selten zur Meldung bei der Polizei, selbst wenn z.B. mit konkreten Drohungen ein Straftatbestand verwirklicht und damit die Notwendigkeit zur Rücksprache mit Sicherheitsbehörden geboten wurde. An dieser Stelle besteht dringender Nachbesserungsbedarf und die Vorgabe einer Richtlinie für Mitarbeiter in diesen Ämtern, um Radikalisierungstendenzen schneller wahrnehmen und der Polizei sachdienliche Hinweise geben zu können. Dass der Handlungsspielraum der Polizei zum präventiven Einschreiten begrenzt ist, bedeutet zwangsläufig, dass andere Institutionen mehr in die Pflicht genommen werden müssen. Nach wie vor sind Sprachbarrieren besonders in Familien mit Migrationshintergrund weit verbreitet. Obwohl die Familien viele Jahre in Deutschland leben und die verpflichtenden Sprachkurse des Bundesamtes für Migration und weiterer Träger besucht haben, sind die Sprachkenntnisse, besonders in der Elterngeneration, schlichtweg mangelhaft. Dies rührt vor allem daher, dass innerhalb der Familien die Muttersprache gesprochen wird. Für solche Migranten bedeutet das keinerlei Bewegraum außerhalb der eigenen Subkultur. Der arbeitspolitische Grundsatz „Fordern und Fördern„ muss auch und besonders in dieser Hinsicht noch stärker von den zuständigen Institutionen eingefordert werden.
Scheue Debattenkultur als sicherheitspolitisches Risiko
Während der Koalitionsverhandlungen zwischen den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP wurde zwischendurch der Ruf nach einem „Ministerium für Integration„ laut.26 Die Probleme um Ausländer, die sich in Deutschland nicht zu Hause fühlen, die sich nicht integrieren wollen oder können, sind schon lange kein Geheimnis mehr. Diesbezügliche Debatten sind stets unangenehm; muss man damit rechnen, die engen Grenzen politischer Korrektheit zu übertreten und sich damit zwar öffentliche Empörung oder Zustimmung einzuhandeln, jedoch keine sachdienlichen Hinweise zur Lösung der Probleme zu finden. Rein bürokratische Instanzen wie ein neues Ministerium werden das Problem nicht lösen können. Die Auseinandersetzung von Migranten mit ihrem Gastland findet auf persönlicher Ebene statt und kann kaum staatlich gelenkt werden. Umso wichtiger ist das Intervenieren und Reagieren der Institutionen vor Ort. Radikalisierungsprozesse zu untersuchen, die im Zusammenhang mit islamistischem Extremismus stehen, sind immer ein heikles Unterfangen. Debatten um gelebten Islam in Europa geraten schnell in eine Schlacht um Terrorismus und Ausländerfeindlichkeit, wie zuletzt nach dem negativen Votum um Minarett-Bauten in der Schweiz.27 Ungeachtet dessen ist eine nüchterne Analyse der Prozesse notwendig, um die Attraktivität extremistischer Vereinigungen auf junge Muslimen und Konvertiten nachvollziehen zu können. Das Kennen der Rekrutierungsmechanismen und deren Schwachstellen ist Grundlage zur effektiven Intervention von Sicherheitsbehörden, aber auch anderen behördlichen Instanzen, wie Schulen, Jugend- oder sozialpolitisch ausgerichteten Ämtern. Politische Unsicherheiten und Angst vor einer möglichen Diskriminierung dürfen nicht deren Arbeit behindern, die Gesellschaft nur einseitig zurechtzuweisen und dadurch radikale Entwicklungen begünstigen.28 Müssen wir uns nun abschließend vor einer steigenden Radikalisierungswelle vor allem junger Muslime sorgen? Ist gar eine gewaltsame Islamisierung des Westens zu befürchten? Wenn wir den Ansatz von Olivier Roy aufgreifen und vom Mythos Al Qaida primär als eine Bewegung erstrangig jugendlicher Anhänger ausgehen, ist ein Aufwärtstrend radikaler Tendenzen erkennbar, der sich mit Beobachtungen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in Europa deckt.29 Das bedeutet aber auch, dass sich diese Erscheinung mit der Zeit wieder rückläufig entwickeln kann. Nichts desto trotz bedarf es der gezielten Gegensteuerung, um so viel Schaden am deutschen Rechtsstaat abzuwehren, wie nur irgend möglich.
Die wichtigsten Maßnahmen gegen terroristische Rekrutierung basieren auf Wissen und ruhiger Agitation. Jede Hysterie gibt den Gegnern ein Mehrgefühl von Macht und Recht in ihrem Ansinnen. Jede unüberlegte Handlung kann der beabsichtigten Botschaft vom Unrecht der westlichen Gesellschaft zum politischen Erfolg bei potentiellen Unterstützern verhelfen. In dieser Hinsicht ist auch die Gesellschaft angehalten, Meldungen in den Medien über Terrorismus nüchtern aufzunehmen, abzuwägen und nicht in eine extremisierende Panik zu verfallen. Terrorismus als psychologische Kriegsführung versucht genau das zu erreichen. So ist neben der militärischen und polizeilichen / nachrichtendienstlichen Verteidigungslinie ebenfalls eine dritte, gesellschaftliche notwendig, die zur Objektivität im privaten und alltäglichen Gebaren anhält.30 Gleichzeitig sind es die zuvor angesprochenen behördlichen und sozialen Institutionen, in der besonders zur frühen Erkennung radikalisierender Tendenzen eine vierte Verteidigungsrichtlinie aufbaut werden kann, um die polizeiliche sinnvoll zu unterstützen.
1
Dies ist übrigens der wesentliche Unterschied zwischen Al Qaida und den islamisch-nationalen Taliban. Den paschtunischen Taliban in Pakistan und Afghanistan geht es um die Rückführung in alte rechtliche und herrschaftliche Strukturen (schari´a und paschtunisches Stammesrecht), sowie um die Vertreibung der Besatzer im Land. Sie streben mehrheitlich keine muslimische Weltherrschaft an.
2
Vgl. Auszug Bin Laden im Interview mit Al-Dschasira 12/1998 in: Kepel, G./Milelli, J.-P. (Hrsg.):
Al Qaida. Texte des Terrors, München 2006, S. 98 f.
3
Nach dem Koran ist es eine der größten Sünden, einen unschuldigen Menschen zu töten: „... wer einen Menschen tötet - nicht als Vergeltung für einen getöteten Menschen und nicht wegen Anrichten von Verderben auf Erden -, es so sei, als hätte er alle Menschen getötet, und wer ihm das Leben erhält, es so sei, als ob er der ganzen Menschheit das Leben erhalten hätte. Und gewiss, bereits kamen zu ihnen doch Unsere Gesandten mit den deutlichen Zeichen, dann sind viele von ihnen danach auf Erden gewiss des Maßes Überschreitende!„ (Sure al-Maida, Vers 32). Bereits Selbstmord ist im Islam verboten, vgl. Koran Sure 4, Vers 29: „... Und tötet euch nicht selbst (gegenseitig). Allah ist gewiss barmherzig gegen euch„.
4
Anders beim Hassprediger Umar Ab dar-Rahman, dem sog. „blinden Scheich„: dieser ist ägyptischer Kleriker und darf damit nach islamischem Recht fãtwas sprechen.
5 Vgl. Husain, E.: The Islamist, London 2007, S. 101, 103, 118 f, 122.
6
Das erste Beispiel dafür ist Thorwald Proll, Mittäter der Kaufhausbrände vom 02.04.1968 und Bruder der Terroristin Astrid Proll, der kurz vor der offiziellen Gründung der RAF aus der Gruppe ausgeschlossen wurde. Er trat seine Zuchthausstrafe 1970 freiwillig an und hatte fortan keinen Kontakt mehr zur RAF.
7
Vgl. Husain, E. 2007, S. 54.
8
Nach Angaben des BfV ca. 1 % der in Deutschland lebenden Muslime (also etwa 32.000 Personen), vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.): Integration als Extremismus und Terrorismusprävention. Zur Typologie islamistischer Radikali-sierung und Rekrutierung, Köln 2007, S. 3.
9
Vgl. Islamwissenschaftler Peter Heine im Interview mit SPIEGEL-ONLINE:
www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,669852,00.html.
10
Böllinger, L. in: Kemmesies, U. E.: Terrorismus und Extremismus – der Zukunft auf der Spur,
München 2006, S. 59f (S. 59–69).
11
Vgl. Conzen, P.: Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Stuttgart 2005, S. 112; Dienstbühl, D., in: Kriminalistik 6/2008 S. 368 (365–371).
12
Umfragen zum Selbsterleben von Muslimen und ihrem Gefühl der Zugehörig zu Deutschland, vgl. Worbs, S./Heckmann, F. in: Bundesministerium des Inneren (Hrsg.) 2006, S. 178 ff; zu Problempunkten Integration, Generationen und Schule, vgl. ferner Schwind, H.-D. 2008, S. 491, ff.
13
Vgl. Hole, G.: Fanatismus. Der Drang zum Extrem und seine psychischen Wurzeln, Gießen 2004,
S. 203 f.
14
Vgl. Theveßen, E.: Terroralarm. Deutschland und die islamistische Bedrohung, 2005, S. 186.
15
Vgl. Roy, O.: Al Qaeda in the West as a Youth Movement: The Power of Narrative. MICROCON Policy Working Paper Vol. 2 11/2008, S. 15.
16
Vgl. Beobachtungen des französischen Terrorismusforschers Roy, nach welchen Faszination von spontaner suizidaler Gewalt anderer Jugendlicher bei jugendlichen Rekruten der Al Qaida empfunden wird; dies bezeichnet Roy als „Columbine-Syndrom„, wobei dieser Begriff nicht einheitlich auf ein solches Phänomen angewandt, sondern häufiger im Zusammenhang mit Angst von Eltern vor Amokläufen in den Schulen ihrer Kinder gebraucht wird; vgl. Roy, O. 2008, S. 4.
17
Vgl. Wetzstein, A./Erbeldinger, P./Eckert, R.: Jugendliche in Cliquen, in: Neue Kriminalpolitik 4/2002, S. 149 (147 – 151).
18
Sog. „bottom-up“-Prinzip, vgl. Sageman, M. in: Knop, K. von/Neisser, H./Creveld, M. van: Countering Modern Terrorism. History, Current Issues and Future Threats, Bielefeld 2005, S. 22
19
Vgl. Post, J. M.: The Mind of a Terrorist. The Psychology of Terrorism from the IRA to Al Qaeda, New York 2007, S. 12 f.
20
Zur Lehre der Kriminalitätstheorien,
vgl. www.krimlex.de/artikel.php?BUCHSTABE=K&KL_ID=108.
21
Schmidbauer, W.: Psychologie des Terrors. Warum junge Männer zu Attentätern werden, München 2009, S. 43 ff; vgl. weiterhin Vorwort der mündl. Urteilsbegründung des OLG Düsseldorf gegen Gelowicz u.a. vom 04.03.2010, unter: www.olg-duesseldorf.nrw.de/presse/05presse2010/2010-03-04_pm_sauerland_urteil/Vorwort_Sauerland.pdf.
22
Vgl. Mekhennet, S./Sautter, C./Hanfeld, M.: Die Kinder des Dschihad. Die neue Generation des islamistischen Terrors in Europa, München 2006, S. 52 f.
23
Roy, O.: Der falsche Krieg. Islamisten, Terroristen und die Irrtümer des Westens, München 2007,
S. 169.
24
Vgl. Interview mit pakistanischem Präsidenten Asif Ali Zardari, unter: www.euronews.net/2009/06/21/zardari-die-taliban-sind-eine-bedrohung-fuer-die-ganze-welt/; Hutsch, F.:
Exportschlager Tod, Berlin 2009, S. 175 ff.
25
Vgl. dazu Schwegel, A.: Islamistischer Terrorismus und wehrhafte Demokratie: Stand und Perspektiven der Terrorismus-bekämpfung in Deutschland, Vortrag vor dem Bernhard-Vogel-Kreis der Universität Trier vom 12.11.2009, S. 22 f. (unveröf-fentlichtes Manuskript).
26
Vgl.: www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,654465,00.html.
27
Hierzu lesenswert die Stellungnahme vom Vorsitzenden des Innenausschusses im Bundestag, Wolfgang Bosbach, unter: www.theeuropean.de/wolfgang-bosbach/signal-aus-der-schweiz.
28
Vgl. Zitat Münkler, H.: „Wasmit dem Streit über die dänischen Mohammed-Karikaturen begann, sich mit der Erregung über die Regensburger Vorlesung des Papstes fortsetzte und nun in der Absetzung von „Idomeneo„ gipfelt, ist eine einzige Einladung an die Islamisten und deren politische Hintermänner zu neuen Forderungen und zur Erhöhung der Preise für ihren Gefahrenverzicht.„, in: „Angst essen Freiheit auf„, Süddeutsche Zeitung, vom 30.9.2006, S.2.
29
Vgl. Studie von Bakker, E.: Jihadi terrorists in Europe, Den Haag 2006.30
Begriff der „heroischen Gelassenheit„ im alltäglichen Handeln, vgl. Münkler, H. in: Kemmesies U.E. 2006, S. 194 f. (179-195).
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