Verbrechensbekämpfung in Württemberg
Das (Kgl.) Württembergische Landespolizeiamt
Von Manfred Teufel, Kriminaldirektor i.R., Tuttlingen
I.
Auch die unter dem Einfluss der Aufklärung aufgelegten materiellen und formellen Strafrechtsbestimmungen, mit denen in Deutschland die Folter abgeschafft, die Todesstrafe eingeschränkt und der Vollzug der Freiheitsstrafen humanisiert wurden, hielten wie ehedem an dem alleinigen Vorrang der Strafjustiz bei der allgemeinen Verbrechensbekämpfung fest. Verantwortlich für die Tatbestandsaufklärung, was immer man darunter verstehen konnte, blieb bis fast in die Mitte des 19. Jahrhunderts der „Inquirent“, der Ermittlungs- oder Untersuchungsrichter oder welche Bezeichnung man sonst noch für ihn in Deutschland fand.1 Eine Wendung im bisherigen richterlichen Inquisitionsverfahren trat erstmals nach Inkrafttreten der Württembergischen Strafprozessordnung von 1842 ein (drei Jahre früher als in Preußen). Als öffentlicher Ankläger im öffentlichen und mündlichen Schlussverfahren bei schweren Straffällen fungierte nunmehr nach französischem Vorbild ein Staatsanwalt, der nebenamtlich aus der Zahl der Richter an den damaligen Kreis- oder Bezirksgerichten berufen wurde. Mit der Einführung der Schwurgerichte 1849 gewann die Staatsanwaltschaft bald weiteren Boden im Gefüge des Strafprozesses. Zur selbständigen, jetzt mit besonders angestellten Beamten besetzten Behörde wuchs die Staatsanwaltschaft sich aus, als die Württembergische Strafprozessordnung 1869 vom 17. April 18682 den Strafprozess auf den Boden des Anklageprinzips gestellt und die Initiative zur Strafverfolgung allgemein in die Hand des Staatsanwalts gelegt hatte. Unverkennbar sind nicht wenige methodische Anleihen am französischen Code des Procedure Criminell Napoleons I., und so überrascht es nicht, dass entsprechend der normativen Festlegung über die „Police Judiciaire“ nunmehr den Polizeibehörden im Königreich Württemberg individuelle Funktionen auf dem Gebiete der Verbrechensaufklärung übertragen wurden. Art. 31 der nicht weniger als 515 Artikel umfassenden Württembergischen Strafprozessordnung verpflichtete die Polizeibehörden, bei
„von Amtswegen angezeigten Übertretungen der Strafgesetze, deren Verfolgung nicht von Anträgen Betheiligter abhängt, weiter nachzuforschen und wo der Untersuchungsrichter augenblicklich nicht in der Lage ist, die keinen Aufschub leidenden Maaßregeln nehmen zu können, ihrerseits mit diesen vorzugehen, namentlich dafür zu sorgen, daß die Spuren der That bis zur Vornahme des Augenscheins unverändert bleiben und, wenn das Erlöschen oder die Veränderung derselben zu befürchten wäre, selbst das zu ihrer unverweilten Erforschung Nöthige vorzunehmen, auch schleunige Anstalten zu treffen, um die Flucht des Verdächtigen zu verhindern (vgl. Art. 77, 78) oder den noch unbekannten Thäter zu entdecken.“
Zum Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizeibehörde heißt es dann weiter:
„Es gehört zu den Obliegenheiten des Staatsanwalts, erforderlichenfalls die Polizeibehörde zu diesem Einschreiten aufzufordern und geeignetenfalls bei solchem anzuwohnen. Was von den Polizeibehörden geschehen oder in Erfahrung gebracht worden ist, haben sie sogleich dem Staatsanwalt, wofern aber unverzügliches Vorschreiten des Gerichts geboten erscheint (Art. 251), oder es sich nur von einer oberamtsgerichtlichen Strafsache handelt, unmittelbar dem Untersuchungsrichter mitzutheilen.“
In Ausführung der neuen Strafprozessordnung von 1869 regelt ein Circular-Erlass des Kgl. Ministeriums des Innern vom 8. April 1869 das hinfort geltende „Verhältnis der Polizeibehörden zu den Gerichten in Strafsachen.“ Danach hatten das Kgl. Württ. Landjägerkorps und die Ortspolizeibehörden durch ihre Tätigkeit die Strafrechtspflege zu unterstützen.3 Die Polizeibehörden wurden damit fest in das gerichtliche Strafverfahren eingebunden und hatten insbesondere den Weisungen der Staatsanwaltschaft zu entsprechen. Lange vor Inkrafttreten der (neuen) Strafprozessordnung von 1869 waren die Angehörigen des K. Württ. Landjägerkorps schon gehalten,
„auf die Entdeckung und Verfolgung von Verbrechern und anderer verdächtigen Personen auszugehen, und haben sowohl die in den Fahndungsblättern enthaltenen oder ihnen sonst mitgetheilten Steckbriefe und Gestaltsbezeichnungen flüchtiger Verbrecher, als auch die Anzeigen über vorgekommene Diebstähle und andere Verbrechen sich genau zu merken, und insbesondere alle hiernach näher Bezeichneten, ohne Rücksicht zu verhaften und vor die nächste zuständige Behörde zu führen ....“4
Insbesondere war es dann in der Tat das Landjägerkorps, von dem schon ab 1835 ein in Taschenbuchformat gehaltenes „Fahndungsblatt“ für alle Strafverfolgungsbehörden im Königreich Württemberg herausgegeben wurde5,welches die Staatsanwaltschaften bevorzugt zu gezielten Ermittlungs- und Fahndungszwecken (nicht nur auf dem platten Lande) heranzogen. Ein Erlass des Justizdepartements vom 16. April 1869 wies die Oberstaatsanwaltschaft allerdings an, das ihr untergebene staatsanwaltschaftliche Personal
„zu erinnern, daß seinerseits bei der Verwendung von Landjägern und Polizeibediensteten die Rücksichten und Formen nicht außer Acht gelassen werden, deren Beobachtung zur Erhaltung der Ordnung des polizeilichen Dienstes und zur Verhütung von Kollisionen nothwendig ist.“6
Anlass zu diesem Ministerialerlass gab der Umstand, dass die jetzt einsetzende verstärkte Inanspruchnahme der Landjäger durch die Staatsanwälte zwangsläufig zur Vernachlässigung des präventivpolizeilichen Streifendienstes führte. Um eine noch stärkere personelle Belastung des Landjägerkorps durch die Justiz zu vermeiden, aber auch um die Bekämpfung der neu aufgekommenen Diebstähle auf Bahnhöfen und in Eisenbahnzügen voranzutreiben, trat in den Jahren 1866/67 das Ministerium des Innern in einen Schriftwechsel mit dem Ministerium des Äußeren (dem damals für die Staatseisenbahnen und die Bodensee-Dampfschifffahrt zuständigen Departement) und der Justiz, der aus heutiger Sicht von einigem Interesse ist.7 Es ging dabei um einen vom Ministerium des Innern unterbreiteten Vorschlag, eine überörtliche und sachkompetente Einrichtung von „Kriminalagenten“ zu schaffen, um den Eisenbahndiebstählen Herr zu werden. Allerdings führte die Anregung zu Meinungsverschiedenheiten über Zuständigkeit, Organisation und Zweckmässigkeit, so dass die ins Auge gefasste Planung wieder erlöschte. Nach einem bei Birkle zitierten Aktenvermerk vom 29. Mai 1867 hat der Vorschlag „wegen Einführung von Detektiven“ bei den Ministerien der Justiz und der auswärtigen Angelegenheiten
„wenig Anklang gefunden, obgleich beide die Mangelhaftigkeit der bisherigen Einrichtungen der Criminalpolizei anerkannt haben.“ Weiter heißt es: „Nachdem sein Vorschlag bei den anderen Ministerien eine günstige Aufnahme nicht gefunden hat“, (hat der Minister des Innern) „aus seinem Standpunkt kein Interesse den Gegenstand weiterzuverfolgen. Die Verhandlungen auch wenn sie nur auf der Grundlage der Andeutungen des Ministers für auswärtige Angelegenheiten fortgeführt werden sollten, würden doch im Sande verlaufen .... Es dürfte daher der Gegenstand bis auf weitere äußere Anregung ruhen gelassen werden.“ 8
Im Gegensatz zum (staatlichen) Landjägerkorps setzten die Polizeibehörden in den größeren Städten den erwähnten Ministerialerlass vom 8. April 1869 zur polizeilichen Unterstützung der (justiziellen) Strafrechtspflege in organisatorischer Hinsicht unschlüssig und naturgemäß uneinheitlich um. Während beispielsweise schon 1872 bei der Ulmer Stadtpolizei ein besonderer Fahndungsaußendienst ins Leben trat, dem vorerst zwei in Zivilbekleidung tätige Polizeisoldaten angehörten9, sollte im gleichen Jahr nach dem Vorschlag des Stadtpolizeiamts Heilbronn auch eine Fahndungsmannschaft (ein Fahndungswachtmeister und zwei Zivilfahndungsleute) geschaffen werden. Erst im September 1875 legte eine gemeinderätliche Kommission einen Prüfungsbericht vor, aus dessen Formulierung zu schließen ist, dass man sich zu der angeregten Aufstellung eines selbständigen Fahndungsdienstes neben der Schutzmannschaft nicht hatte durchringen können. Auch aus dem Jahresbericht des Stadtpolizeiamts Heilbronn für 1894 ist zu entnehmen, dass diese Fahndungsmannschaft bis dahin nicht gebildet wurde.10 Dagegen taucht im Verwaltungsbericht der Stadt Stuttgart für das Jahr 1876 erstmals in der Geschichte der dortigen städtischen Polizei jetzt der Begriff „Kriminalpolizei“ (diesmal im organisatorischen Sinne) auf. Dieser Dienstzweig wurde wie die Fahnder in den anderen größeren Städten und selbstverständlich auch die uniformierten Schutzleute in den übrigen Gemeinden zu präventivpolizeilichen und repressiven Tätigkeiten mit mehr oder weniger gutem Ergebnis herangezogen. Der Meinung von Meinert, dass die Polizeiarbeit um 1878 herum vorwiegend auf die Erfahrungen der täglichen Praxis gegründet war, kann restlos beigetreten werden.11 Dies macht auf der einen Seite die noch mangelnde Systematik in ihren praktischen Wissensbereichen begreiflich12, hatte aber andererseits gegenüber der wissenschaftlich-theoretischen Strafjustiz schon seinerzeit den Vorzug einer größeren Wirklichkeitsnähe.
II.
Mit den Reichsjustizgesetzen änderte sich die Stellung der Staatsanwälte. Das Amt des Staatsanwalts ist jetzt vom Richteramt vollkommen getrennt und als reines Staatsverwaltungsamt ausgebildet. Einheitlich ist die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft neben der Strafverfolgung auch die Strafvollstre-ckung. Aber auch die Stellung der Polizei im reichseinheitlichen Strafverfahren erfuhr eine wesentliche Änderung. Richtete sich die württembergische Strafprozessordnung noch ausdrücklich an die Polizeibehörden, wurde das Gerichtsverfassungsgesetz vom 24. Januar 1879 schon etwas deutlicher: Es schuf das Institut des „Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft“. Nach der Kgl. Verordnung betr. die Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft i. S. § 153 GVG vom 27. September 1879 hatten bestimmte Beamten-
gruppen in dieser Eigenschaft den staatsanwaltschaftlichen Anordnungen unbedingt Folge zu leisten.13 Die Reichsstrafprozessordnung hat der Polizei nunmehr einen weiteren Rahmen gesteckt und konkret in § 158 das Recht zur Mitwirkung im Strafverfahren auch auf die Anzeigenaufnahme erweitert, ferner bei Gefahr im Verzuge das Recht zur Anordnung von Beschlagnahmen und Durchsuchungen und in § 127 das Recht zur vorläufigen Festnahme zuerkannt. Eine deutliche Ausformung erfuhr die genannte Kgl. Verordnung vom 27. September 1879 mit § 19 der „Dienstvorschrift für die Staatsanwaltschaft“ vom 30. September des gleichen Jahres.14 Danach konnten in solchen Gemeinden, in welchen eine größere Anzahl untergeordneter, für den Sicherheitspolizeidienst aufgestellten Gemeindebediensteten vorhanden war, im Einvernehmen des Ersten Staatsanwalts bei dem Landgericht mit der Gemeindebehörde eine kleinere, dem Bedürfnis entsprechende Zahl von Polizeiunterbeamten (Fahndern) zur Verwendung im kriminalpolizeilichen Dienst, insbesondere zur Vollziehung der von den staatsanwaltschaftlichen Beamten auf Grund des § 153 GVG getroffenen Anordnungen bestimmt werden. In den Fällen, in denen die Gemeinde besondere Fahnder aufstellte, unterblieb in der Regel die Inanspruchnahme der übrigen Schutzmannschaft für staatsanwaltschaftliche Aufträge; Notfälle waren davon ausgeschlossen. Vorgenannte Dienstvorschrift regelte nicht bloß die Kooperation zwischen den gemeindlichen Polizeien und der Staatsanwaltschaft, sondern sie befestigte ihr langjähriges enges Verhältnis zu den Landjägern: selbst schwierige Ermittlungsverfahren, die auch mit umfangreichen Schreibarbeiten verbunden waren, wurden ihnen übertragen. Eine separate „Dienstanweisung für die Landjäger in ihrer Eigenschaft als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft“, herausgegeben 1890 vom Justizministerium, verlor ihre Gültigkeit erst etwa 1930 herum. Ab 1890 war die Staatsanwaltschaft nachdrücklich in die fachliche Landjägerbeschulung einbezogen. Die beharrliche Intensität, mit der das Landjägerkorps im 20. Jahrhundert gerichtspolizeiliche Aufgaben wahrnahm und sich gegenüber den städtischen Polizeiorganen dadurch standesmäßig günstiger positionierte, möge dieser einmalige Vorgang erkennbar machen: Auf Grund einer Eingabe des Kommandos des K. W. Landjägerkorps vom 25. Juni 1896 verfügte das Ministerium des Innern unterm 11. Juli 1896 die versuchsweise und zunächst auf ein Jahr befristete Aufstellung von zwei Landjägern als staatliche Fahnder in Hall. Unter Anleitung der Staatsanwaltschaft hatten diese die ihnen erteilten kriminalpolizeilichen Aufträge für den Oberamtsbezirk Hall„und etwa 15 von der Staatsanwaltschaft Hall noch näher zu bezeichnenden Orte der Oberämter Gaildorf und Öhringen auszuführen, sodann auch bei den zur Zuständigkeit der Amtsanwaltschaft gehörigen minderwichtigen gerichtlichen und bei den durch polizeiliche Strafverfügung zu erledigenden Strafsachen mitzuwirken, außerdem aber, wenn sie durch diese Thätigkeit nicht vollständig in Anspruch genommen werden, noch den polizeilichen Sicherheitsdienst zu besorgen.“
Die Formierung der Fahnder enthob die Landjäger der Bezirke Hall, Gaildorf und Öhringen nicht von ihrer kriminalpolizeilichen Funktion, sie blieben vielmehr nach wie vor Hilfsbeamte der Staatsanwaltschaft und hatten den bei ihnen (direkt) anfallenden Anzeigen über strafbare Handlungen nachzugehen. Nur wurden die Landjäger künftig innerhalb des Fahndungsbezirks von der Staatsanwaltschaft nicht ohne besonderen Grund mehr in Anspruch genommen. Über weitere organisatorische und personelle Einzelheiten erfahren wir aus der Ministerialverfügung:
„Die Aufstellung der beiden Fahnder in Hall hat im Benehmen mit der Staatsanwaltschaft und den betheiligten Oberämter durch Entnahme eines Landjägers aus der Mannschaft der Station Hall und Heranführung eines Landjägers aus den anderen Oberämter des Landgerichtssprengels zu erfolgen, eventl. nach vorheriger Versetzung ..... Die Fahnder bleiben auch nach Übernahme des Fahndungsdienstes Angehörige des Landjägerkorps .... Von der Ausrüstung der Fahnder mit einem Fahrrad ist zunächst und solange nicht praktische Erfahrungen über ein diesbezügliches Bedürfnis sich ergeben haben werden, abzusehen, da ein solches doch nur in beschränktem Umfang im Dienst verwendbar ist und manchmal sogar bei der Ausübung desselben hinderlich sein kann. Die Kosten für die Miethwohnung des weiteren Landjägers und die Anschaffung zweier Civilanzüge und eines Revolvers sind auf Kap. 26 Titel 7, 8 und 9 zu verrechnen.“15
Einem Bericht des K. Württ. Landjägerkorps, Bezirk Nr. III, in Ellwangen an das Kgl. Oberamt Hall vom 5. August 1896 sind noch weitere Einzelheiten über die Dienstausübung der Fahnder zu entnehmen. Die Fahnder wurden mit besonderen Legitimationskarten ausgestattet. Sie hatten im Übrigen
„nur bürgerliche Kleidung zu tragen, wenn es ihnen von der Staatsanwaltschaft Hall für eine besondere Diensthandlung im Fahndungsdienst vorgeschrieben wird, oder, wenn es der betreffende Fahnder selbst im Interesse des Fahndungsdienstes für notwendig hält. Sonst haben die Fahnder in und außer Dienst Uniform zu tragen.“16
Der versuchsweise eingerichtete Fahndungsdienst des Landjägerbezirks III erfüllte offenbar die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. Die Regierung des Jagstkreises eröffnete unterm 22. Dezember 1897 dem Oberamt Hall, dass durch Ministerialerlass vom 15. Dezember 1897 im Einverständnis mit dem K. Justizministerium die staatliche Fahndungsmannschaft wieder aufgelöst worden ist. Wörtlich heißt es weiter:
„Dagegen ist behufs möglichster Sicherung einer guten Durchführung der Aufgaben der Landjäger auf dem Gebiete des Hilfsdienstes für die Rechtspflege die Anordnung getroffen worden, daß in denjenigen Städten, in welchen sich der Sitz eines Landgerichts befindet, jeweils neben dem Stationskommandanten und der jüngeren Mannschaft ein aus der Zahl der ‚Stellvertreter‘ zu wählender tüchtiger älterer Landjäger aufgestellt wird, welcher hauptsächlich zur Unterstützung des Stationskommandanten im Hilfsdienst für die Rechtspflege bestimmt ist“17
Bei Bohn18 wird der ganze Wortlaut der Note des Ministeriums des Innern wiedergegeben und es heißt dort:
„daß auch in Zukunft bei der Verteilung der jüngeren Landjäger auf die Hauptstationen nach Tunlichkeit dafür Sorge zu tragen ist, daß an denjenigen Orten, an denen sich der Sitz eines Landgerichts befindet, nur entsprechend befähigte jüngere Landjäger aufgestellt werden.“
An dieser Übung hielt man übrigens jahrzehntelang fest. Die in § 19 der (württ.) „Dienstvorschrift für die Staatsanwaltschaft“ angeregte „Aufstellung von Polizeiunterbeamten zur Verwendung im kriminalpolizeilichen Dienst“ fand selbstverständlich in den anderen Ländern ihre Entsprechung. Greifbar ebneten solche Reglements im Werdegang der deutschen Polizeikriminalistik allgemein den Weg zu ihrer ersten Stufe und umfassten gleichsam die Entwicklung vom „Bloßen Büttel der Strafjustiz zur verbrechensaufklärenden Polizei“19. Am Beispiel der teilweise gestreiften württembergischen Stadtpolizeien soll auf den weiteren Fortgang des fahndungs- bzw. kriminalpolizeilichen Dienstzweigs, der sich allerdings noch über Jahre zögerlich hinweg ziehen sollte, eingegangen werden. Nachdem eine verstärkte Schutzmannschaft das überhandnehmende Dirnen- und Bettelunwesen im Stadtgebiet von Reutlingen auch nicht aussichtsreich eindämmen konnte, sah sich das dortige Stadtpolizeiamt 1893 gezwungen, zu ihrer Bekämpfung Zivilstreifen dienstälterer Schutzmänner durchführen zu lassen. Erst im März 1901 wurden zwei Stellen für hauptamtliche Fahnder ausgewiesen und diese Stellen mit bisherigen Schutzmännern besetzt. Sie traten als „befähigte Schutzmänner im Kriminaldienst“ auf und markierten damit den Beginn der Reutlinger Kriminalpolizei. Zehn Jahre später genehmigte der Gemeinderat zwei weitere Fahnderstellen.20 In Heilbronn kam es am 1. Oktober 1900 zur Aufstellung einer besonderen sechs Leute umfassenden Fahndungs- und Kriminalpolizeiabteilung. Intelligentere Schutzleute bestellte man zu Fahndungswachtmeistern bzw. Fahndern. Begründet wurde dies damit,
„daß die Ermittlung von Verbrechen und Vergehen eine höhere Intelligenz und praktische Befähigung und Schulung voraussetzt, welche von jedem Polizeioffizianten nicht ohne weiteres verlangt werden kann.“
Nach einem Bericht des Polizeiamtsvorstands aus dem Jahre 1903 hatte sich die Schaffung der „Criminalabteilung“, der man eine Steckbriefregistratur angeschlossen hatte, durchaus bewährt.21 Während noch am 25. April 1895 sich die Verhandlungen im Ulmer Gemeinderat wegen der Schaffung einer Kriminalkommissar-Stelle zerschlagen haben, gab es mindestens 1912 jetzt einen äußeren Dienst und eine Kriminalpolizei. Die Stärke der Fahndungspolizei wurde mit vier Fahndern beziffert. Einzuflechten ist in anderem Zusammenhang, dass mit Verfügung vom 18. Dezember 1913 das Kgl. Württ. Ministerium des Innern dem Oberamt Ulm empfahl, die Stadt Ulm anzuweisen, die dortigen Amts- und Dienststellenbezeichnungen: Fahnder, Fahndungswachtmeister und Fahndungsmannschaft analog dem Stuttgarter Beispiel in Kriminalschutzmann, Kriminalwachtmeister und Kriminalschutzmannschaft umzuändern. Der Ulmer Gemeinderat lehnte dieses Ansinnen jedoch ab. Man wollte die Bezeichnung „Fahnder“ als „einem guten deutschen Wort den Vorzug geben.“22 Ähnlich begründete Heilbronn die Ablehnung der Stuttgarter Dienstbezeichnung:
„Es ist jedoch auffallend, daß bei dem in ganz Deutschland z.Zt. fühlbaren lobenswerten Bestreben, die Fremdwörter auszumerzen und durch deutsche zu ersetzen, das gute deutsche Wort Fahnder wieder durch ein fremdes ersetzt werden soll.“
Es überrascht nicht, wenn das Ministerium des Innern in anderem Zusammenhang den kommunalen Polizeibehörden empfahl, sich an der Entwicklung des Fahndungs- und Kriminalwesens in der Haupt- und Residenzstadt Stuttgart leitbildlich zu orientieren. Die schon erwähnte Kriminalabteilung, die anscheinend „zu einer festen Institution innerhalb der Stadtpolizei geworden ist“, bearbeitete 1881 insgesamt 4.044 Vorgänge.23 Fünf Jahre später gab die Stadtdirektion Stuttgart (als die mit den übrigen württembergischen Oberämtern vergleichbare Verwaltungsstelle der ersten Verwaltungsstufe, die als Aufsichtsbehörde der städtischen Polizei Stuttgart für den Stadtbezirk die bezirkspolizeilichen Aufgaben handhabte) für die städtischen Polizeibeamten, die ihren Dienst in Zivil verrichteten, Legitimationsmedaillen aus. Für eine Aufklärungsquote von ca. 70 % aller der Polizei bekanntgewordenen Straftaten sorgte 1888 die Kriminalabteilung, die bereits aus 1 Kriminalkommissär (Oberpolizeikommissär), 1 Kriminalsekretär (bis dato Polizeifourier genannt), 2 Kriminalassistenten (frühere Fahnder), 1 Fahndungswachtmeister, 3 Fahndungs-Unteroffiziere und 14 Fahndern bestand24. Nach dem am 15. Juli 1897 in Berlin eine von 12 deutschen Bundesstaaten und einigen ausländischen Behörden beschickte Konferenz die einheitliche Einführung der Anthropometrie nach Bertillon zur Feststellung der Identität von Verbrechern (sog. Bertillon’sche Methoden der Körpermessung)25 empfahl, stimmten bereits 1898 die Ministerien der Justiz und des Innern der Einrichtung einer Messstelle beim 1891 entstandenen Stadtpolizeiamt Stuttgart zu. Die Messungen blieben auf gewerbs- und gewohnheitsmäßige Verbrecher beschränkt. Zwei Beamte des Stadtpolizeiamts erfuhren beim Polizeipräsidium Berlin eine fachliche Unterweisung.26 Die weitere Entwicklung der städtischen Kriminalpolizei wurde nicht unwesentlich beeinflusst durch eine vom Ministerium des Innern veranlasste „Untersuchung der Stuttgarter Polizeiverhältnisse“ durch den Oberamtmann Lautenschlager der Stadtdirektion Stuttgart. In Folge dieser Visitation wurde am 15. Oktober 1912 eine Polizeischule ins Leben gerufen. Wie in anderen deutschen Großstädten wurde für Stuttgart die Einrichtung einer Schule für die Polizeiexekutivbeamten zu einem dringenden Bedürfnis. Max Weiss brachte dies auf einen Punkt:
„Sowenig ein Mensch imstande ist, ein Handwerk auszuüben, das er nicht gelernt hat, sowenig wird jemand, der heute in eine Polizeiuniform gesteckt wird, morgen den schwierigen Polizeidienst richtig ausführen können.“27
Die Städtische Polizeischule war zunächst im städtischen Gebäude in der Stuttgarter Seidenstraße 47 untergebracht, wozu die Gemeindekollegien die Summe von 20. 000 Mark verwilligt hatten. Im ersten Kurs mit 67 Lehrgangsteilnehmern waren 15 Schüler auswärtiger Dienststellen darunter. Zur Schulung und Weiterbildung der Kriminalschutzleute speziell sollten kriminalpolizeiliche Fortbildungskurse abgehalten werden.28 Diese Lehrgänge bot man für Fahnder anderer Behörden an. Sie vermittelten in 8 - 14 Tagen die Grundlagen des polizeilichen Erkennungsdienstes, des kriminalpolizeilichen Nachrichtendienstes, des Hundewesens und verschiedener anderer Spezialgebiete (z. B. Ji’u Ji’tsu).29 Mit der Formierung einer eigenen Polizeischule fiel nach der Berufung des Münchner Polizeifachmanns Dr. Bittinger eine grundlegende und verbessernde Änderung der inneren Organisation der Kriminalpolizei Stuttgart zusammen, die am 1. Oktober 1912 in Kraft trat: Nunmehr erfolgte die Geschäftseinteilung entsprechend der noch jungen Wissenschaft der Kriminologie nicht mehr nach dem Tatort, sondern nach den einzelnen Verbrechenskategorien. Dadurch konnten sich die eingeteilten Kriminalisten ausschließlich mit den jeweils in Frage kommenden Deliktsgruppen befassen und sich in alle Einzelheiten des Faches einarbeiten. Die Großstadtpolizei Berlin hatte viele Jahre zuvor mit der nachahmenswerten Spezialisierung ihrer Beamten gute Erfahrungen gesammelt. Im Jahre 1912
bestand die Kriminalpolizei der Landeshauptstadt aus dem Abteilungsvorstand (einem Amtsrichter), zwei Kriminalinspektoren, einem Kriminalsekretär, je einem Hilfsbeamten, Assistenten und Kriminalassistenten, drei Fahndungswachtmeistern, 54 Fahndern, einem Gefangenenwärter und einer Schreibgehilfin. In dem bei Kühner/Dömötör nachzulesenden Geschäftsverteilungsplan für die Kriminalabteilung waren für 1912 detailliert aufgeführt: Erkennungsdienst, Photographische Anstalt, Anthropometrische und daktyloskopische Aufnahmen, Verbrecheralbum, Steckbriefregistratur .....30Der neu aufgetauchte kriminaltechnische Begriff „daktyloskopische Aufnahmen“, dem wir im Folgenden noch mehrmals begegnen werden, erfordert jetzt schon eine erläuternde Bemerkung: Kaum vier Jahre nach der Einführung der Anthropometrie nach Bertillon stellte die Londoner Polizei im Jahre 1901 ihren Erkennungsdienst auf das noch zuverlässigere Fingerabdruckverfahren (Daktyloskopie) um. Die Anthroprometrie nach Bertillon schaffte man dort und in den englischen Kolonien wieder ab. Auch deutsche Polizeibehörden folgten dem Londoner Beispiel und rückten nunmehr das daktyloskopische Verfahren31 in den Vordergrund. Die Körpermessung beschränkte man auf wenige Ausnahmefälle. Die von der Berliner Konferenz des Jahres 1897 beschlossene Einheitlichkeit des Erkennungsdienstes war schon nach wenigen Jahren wieder in die Brüche gegangen. Ab 1904 gab es eine sächsische und ab 1911 eine bayerische Landeszentrale, womit die Daktyloskopie in diesen Staaten obligatorisch geworden ist. Als auf der Polizeikonferenz in Berlin im Jahre 1912 unschwer der unumstößliche Nachweis erbracht werden konnte, dass die Daktyloskopie dem Körpermessverfahren vorzuziehen ist32, wertete man dies als Bestätigung für die Richtigkeit der Einführung des Fingerabdruckverfahrens bei der Stuttgarter Kriminalpolizei. Dies und der mit dem einige Zeit zuvor erfolgten Aufbau einer „Sammlung photographischer Aufnahmen (sog. Verbrecheralbum)“ rückte die Kriminalabteilung de facto in die Nähe einer kriminalpolizeilichen Zentralstelle für Württemberg, von der gleichsam sog. tatortpolizeiliche Funktionen zu übernehmen waren. Für das Stadtpolizeiamt bestand denn auch die Verpflichtung,
„1. den staatlichen Polizeibehörden die Einsicht in seine Sammlung photographischer Aufnahmen (Verbrecheralbum) zu gestatten und von diesen erforderten kostenfrei im Atelier und an Ort und Stelle zu fertigen und Vergrößerungen und Vervielfältigungen zu machen,
2. ebenso auch Personenaufnahmen und
3. auch außerhalb des Stadtdirektionsbezirks photographische Aufnahmen an Ort und Stelle kostenfrei zu machen, vor allem für Zwecke der Strafrechtspflege und für polizeiliche Zwecke.“33
Ohne Frage konnte das Landjägerkorps auf die modernen kriminaltechnischen Einrichtungen der Städtischen Polizeidirektion (wie das bisherige Stadtpolizeiamt Stuttgart ab 2. Januar 1913 firmierte) zurückgreifen. Alle Stationskommandanten und Landjäger waren daher in der „Verwertung von Fingerabdrücken im Kriminaldienst“ ausgebildet und mit den erforderlichen technischen Apparaturen und Hilfsmitteln für die Fingerabdrucknahme ausgestattet.34 Zum Kreis der in der schon genannten Bekanntmachung angedeuteten „staatlichen Polizeibehörden“ zählte neben den 65 Haupt- und 348 Nebenstellen des K. W. Landjägerkorps gleichfalls eine 1907 bei der Stadtdirektion Stuttgart neu aufgestellte (staatliche) Zentrale zur Spionagebekämpfung. Zu jener Zeit zwang die außenpolitische Lage die deutschen Bundesstaaten für die Aufdeckung und Verfolgung landesverräterischer Bestrebungen, insbesondere zur wirksamen Durchführung des Reichsgesetzes betr. den Verrat militärischer Geheimnisse35 besondere Nachrichtendienste einzurichten. In einem als „Geheim“ eingestuften Erlass des K. W. Ministeriums des Innern an die Kreisregierungen und die Kgl. Stadtdirektion Stuttgart36 wurde im Einverständnis mit dem K. W. Kriegsministerium bei der Stadt direktion eine „Zentralpolizeistelle“ eingerichtet. Ihre Hauptaufgabe hatte weniger in der Aufspürung und Überwachung etwaiger verdächtiger Vorgänge und Personen – welche Aufgabe auch fernerhin in Stuttgart wie in den auswärtigen Bezirken in der Hauptsache den ordentlichen Polizeiorgane des Landes verbleiben musste – als vielmehr darin zu bestehen, dass sie alle ihr von den Zivil- und Militärbehörden des Landes gemachten Mitteilungen über spionageverdächtige Personen und Vorkommnisse entgegennehmen und auswertend sammeln musste. Die Zentralpolizeistelle hatte ferner Verbindung mit den in anderen Bundesstaaten bestehenden polizeilichen Nachrichtenstellen zu halten und zu pflegen. Die Stadtdirektion durfte das ihr zur Verfügung stehende polizeiliche Vollzugspersonal in geeigneten, namentlich dringenden Fällen „nach auswärts absenden“ und die Vollzugsorgane anderer Bezirke unmittelbar mit Weisungen versehen. Es wurde ausdrücklich anheimgegeben, ein bis zwei geeignete Landjäger des Stationskommandos Stuttgart-Stadt für den besonderen Dienst zu verwenden. Es waren wohl nicht ausschließlich kameralistische Gesichtspunkte, die die Heranziehung von Landjägern zu einer doch sehr diffizilen Tätigkeit, wie es die Spionagebekämpfung eigentlich stets war, festmachten. Im gleichen Jahr feierte das Landjägerkorps sein 100-jähriges Bestehen, aus dessen Anlass der Innenminister den „Geist der unverbrüchlichen Ehrenhaftigkeit und Treue, der Vaterlandsliebe und der Furchtlosigkeit“ hervorhob, durch den das Korps „ein Schrecken für die Übeltäter, eine Freude und Hilfe für den guten Bürger und eine Stütze für den Staat geworden sei.“37 Eine aus jener Zeit stammende wissenschaftliche Stellungnahme zum immerwährenden Problem „Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei“, auf die nochmals zurückzukommen sein wird, charakterisiert das Landjägerkorps „als einen soliden Unterbau für die württembergische Strafrechtspflege“.38 Unter diesem Blickwinkel muss die Einrichtung eines „Kriminalmuseums“ beim Landjägerkorps gesehen werden. In anderen Bundesstaaten gab es Kriminalmuseen bei größeren Polizeibehörden. Mit Verfügung der K. Ministerien der Justiz und des Innern vom 29. Januar 190839 war zur Förderung der Zwecke der Strafrechtspflege und des polizeilichen Sicherheitsdienstes in Stuttgart eine Kriminalsammlung einzurichten. Die bei der Handhabung der Strafrechtspflege gewonnenen Erfahrungen sowie die Fortschritte der Technik sollten für die Unterweisung der mit der Aufdeckung strafbarer Handlungen und mit der Verfolgung und Überführung der Schuldigen befassten Beamten nutzbar gemacht werden. Die Sammlung bildete explizit eine Einrichtung des Landjägerkorps und war dem Kommandeur des Landjägerbezirks 1 in Stuttgart unterstellt. Der Umfang der Sammlung war ins Einzelne festgelegt. Infrage kamen Gegenstände, Abbildungen oder schriftliche Darstellungen, die ein besonderes kriminalistisches Interesse verdienten oder zur Belehrung der Beamten sich eigneten. Das Landjägerkorps war verpflichtet, für die Sammlung Einrichtungen, Gerätschaften, Abbildungen und Bildwerke herzustellen oder anzuschaffen, „welche zum Unterricht in der Kriminalistik z. B. hinsichtlich der Sicherung und Beurteilung von Spuren und Erkennungsmerkmalen (Gipsabgussverfahren, Daktyloskopie, Bertillonsche Messverfahren) sich eignen.“ Die Justizbehörden und die Behörden der Innenverwaltung waren verpflichtet, die zur Aufnahme in der Sammlung geeigneten Gegenstände und Abbildungen, die aus Strafverfahren herrührten, dem Landjägerkorps zu übersenden.40
III.Gleich zu Beginn des neuen Jahrhunderts tritt das Polizeiwesen in Deutschland, aber auch in Württemberg, in eine neue entscheidende Phase. Bei Zirpins ist es in diesem Kontext die „Entwicklung von der Verbrechensaufklärung zur Verbrechensverfolgung“.41 Begründet lag diese Reifung in den Fortschritten der Technik und des Verkehrswesens, die inzwischen dem reisenden (interlokalen) und internationalen Verbrechertum Möglichkeiten zur Ausbreitung gaben, denen gegenüber die an örtliche Zuständigkeitsgrenzen gebundenen, mit unzureichenden personellen und sachlichen Mitteln versehenen Ortspolizeien in Württemberg nicht selten versagen mussten. Eine erfolgversprechende Verbrechensverfolgung erforderte deshalb nachdrücklich eine überörtlich organisierte und in ihrer Ausbildung und Aufgabenstellung auf die neuzeitlichen kriminalphaenomenologischen Realitäten ausgerichtete Institution. Ein im Jahre 1906 im Ministerium des Innern konzipierter Gesetzestext sah die Verstaatlichung mindes-tens der Kriminal- und Sicherheitspolizei in Stuttgart vor.42 Auch im schon zitierten „Visitationsbericht“ vom 8. März 1911 kam der zur Untersuchung der hauptstädtischen Polizeiverhältnisse eingesetzte Staatskommissar (Oberamtmann Lautenschlager) zu einem das ministerielle Planvorhaben von 1906 erhärtenden Resultat: Vereinigung von Stadtdirektion und Stadtpolizeiamt zu einer einheitlichen staatlichen Behörde. Die daraufhin angesetzten Verhandlungen der beteiligten Behörden führten indessen zu keinen durchschlagenden Weiterungen. Staatskommissar Lautenschlager wurde zwischenzeitlich zum Oberbürgermeister der Stadt Stuttgart gewählt, was zu einem verständlichen Sinneswandel führte! Die sukzessiven Fortschritte auf kriminaltechnischem – und taktischem Gebiet der letzten Jahre, allerdings bezogen auf die örtliche Polizei Stuttgarts, reichten bei weitem nicht aus, dem Wunsche der württembergischen Staatsregierung nach einer aussichtsreichen landesweiten Bekämpfung des gewerbsmäßigen Verbrechens und der Erledigung anderer elementarer Polizeiaufgaben (z. B. Fahndung nach flüchtigen Tätern) Rechnung zu tragen. Dazu trat der Umstand, dass es bei der schon erwähnten Berliner Polizeikonferenz im Jahre 1912 um Fragen der Verbesserung und Vereinheitlichung der Bekämpfung des schweren und reisenden Verbrechertums zunächst in Deutschland selbst ging, womit ja erst die Grundlagen zur internationalen Verbrechensbekämpfung geschaffen werden konnten. Außerdem stand hier aber auch der Wunsch nach unmittelbarem gegenseitigen Verkehr zwischen den in- und ausländischen Polizeibehörden zur Beratung („Verbesserung des Fahndungsverkehrs“).43
Angeregt durch die fortschreitende polizeidienstliche Entfaltung in vergleichbaren deutschen Staaten wollte die württ. Staatsregierung durch den Aufbau einer polizeilichen (staatlichen) Zentralstelle „der kriminalpolizeilichen Tätigkeit im Lande einen Zentralpunkt geben, einen Sammelpunkt für das kriminalistische Material mit allen dafür notwendigen Ergänzungen.“44 In einer Denkschrift begründete die württembergische Staatsregierung die von ihr im „Entwurf des neuen Hauptfinanzetats 1913/1914“ geforderten Errichtung einer Landespolizeizentrale. Im Wesentlichen sollte die neue Behörde (ausgerichtet am Beispiel des Eidgenössischen Zentralpolizeibüros in Bern und vor allem nach dem Muster der Sächsischen Landeskriminalpolizei) überwiegend auf „die Sammlung und Mitteilung von Nachrichten über straffällige Personen und über bekannt gewordene Straftaten“ beschränkt bleiben. Es war die Rede von einer daktyloskopischen Landeszentrale, einer Zigeunerzentrale und einer Zentralstelle für die Spionagebekämpfung, außerdem von der Planung einer Polizeischule.
Für den zentralen Nachrichtendienst (einen Außendienst sollte es zunächst nicht geben) waren vorgesehen ein Vorstand, ein Expeditor, drei Assistenten und zwei weitere Personen als Hilfsarbeiter. Angefordert wurden Planstellen für 5 - 6 besonders befähigte und vorher im Klassifizieren und Registrieren von Fingerabdrücken auszubildende, je auf einige Monate kommandierte Landjäger. Die württembergische Regierung hielt den Vergleich mit der Schweizerischen Zentralpolizeistelle deshalb für erlaubt, weil diese ebenfalls selbständig und losgelöst von den Ortspolizeien als reine Nachrichtenstelle fungierte und in der Schweiz „gleiche zweifelhafte, internationale Existenzen anzutreffen“ seien.45 Gegen das Regierungsprojekt stellten sich von Anfang an Stadtverwaltung und Stuttgarts Gemeindekollegien. Am 19. Februar 1913 hatten sie sich in einer Eingabe an den Landtag gegen die Errichtung einer Landespolizeizentrale als „Beginn der Verstaatlichung des Polizeiwesens“ ausgesprochen. Eine von dem städtischen Polizeidirektor Dr. Bittinger verfasste Gegenschrift hob insbesondere auf die neureformierte und hochmodern ausgestattete Polizeidirektion Stuttgart ab. „Nur in Stuttgart haben wir großstädtische Zustände, auf die natürlich auch der Polizeibetrieb in allen seinen naturnotwendig ineinander greifenden und nicht voneinander zu trennenden Zweige zugeschnitten sein muss und anerkanntermaßen jetzt auch zugeschnitten ist.“ Mit diesen Worten warb Bittinger heftig dafür, „die großangelegte Polizeiorganisation zu schonen.“ Es habe sich sehr gut bewährt, dass die Stuttgarter Polizei schon bisher ihr kriminaltechnisches Institut dem ganzen Land und allen staatlichen Behörden zur Verfügung gestellt hätte. Im Übrigen müsse „die Stadt Stuttgart befürchten, dass die Tätigkeit der neuen Landespolizeizentrale in die Tätigkeit ihrer städtischen Polizei jedenfalls teilweise störend eingreift, ja diese bis zu einem gewissen Grad geradezu lahmlegt.“ In dem mehrfach als Tendenzschrift bezeichneten Argumentationspapier kam zum Ausdruck, „dass die neue staatliche Landespolizeistelle gar keine richtige Wirksamkeit entfalten (könne), weil ihr das Hauptgebiet, die kriminalistische Großstadtpraxis der Stadt Stuttgart fehle“ und „es werde ein doppelter Apparat und Schreibbetrieb entstehen“, was eine „komische Illustration zu dem Kapitel ‚Verwaltungsvereinfachung‘ darstelle.“ Die leidenschaftlichen Einwendungen, die sicher einer Angst vor Zurücksetzung entsprangen, konnten das Parlament letzten Endes nicht zu einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Regierungsvorhaben bewegen, obwohl der Regierungsentwurf zunächst von der Finanzkommission der Zweiten Kammer gegen die Stimmen des Zentrums und der Konservativen abgelehnt wurde.46 Interessant ist noch eine Bemerkung, die in der Kammer zur Begründung der Etatsforderung protokolliert wurde:
„Eine staatliche Sammel- und Nachrichtenstelle sei deshalb notwendig, weil die Stadt ja ihre kriminalpolizeilichen und anderen Institute mit der Zeit, besonders bei einer radikalen Rathausmehrheit, vernachlässigen oder nicht mehr auf der Höhe halten könnte.“
Die erwähnte Tendenzschrift wandte sich natürlich mit dem Hinweis dagegen, dass es genüge, auf die recht stattlichen Summen zu verweisen, die der Gemeinderat unter Zustimmung auch seiner sozialdemokratischen Mitglieder für Polizeizwecke bewilligt habe. Am 18. Februar 1914 stimmte der Landtag mehrheitlich der „Errichtung einer landespolizeilichen Zentralstelle zum Zweck der Sammlung von Nachrichten und kriminalistischem Material, wie Personenbeschreibungen und insbesondere Fingerabdrücken, und zur einheitlichen Lenkung der Verfolgung gemeingefährlicher oder fachlich komplizierter Verbrechen“ zu.47
Aus der Realität, dass das Ministerium des Innern mit Erlass vom 22. Juli 191248 bereits den Oberämtern ankündigte, dass „für die Erledigung einer Reihe wichtiger landespolizeilicher Aufgaben die baldige Errichtung einer staatlichen Landespolizeizentralstelle in Aussicht genommen ist“, darf unschwer geschlossen werden, dass man mit einer parlamentarischen Ablehnung des Antrags ernstlich nicht rechnete. Kern des Erlasses war „die Veranstaltung von Unterrichtskursen zur Ausbildung und Fortbildung von Polizeibeamten der Gemeinden in Kriminaldienst“, die dann in das Aufgabenfeld der Zentralstelle einbezogen werden sollten. Aber nicht bloß die Städtische Polizei Stuttgarts, sondern gleichermaßen das K. W. Landjägerkorps sahen misstrauisch in dieser Landespolizeizentralstelle jahrelang eine scharfe Konkurrenz bezüglich der eigenen Existenz. Die neue Behörde „Kgl. Württ. Landespolizeizentralstelle“ nahm am 15. April 1914 ihren eigentlichen Dienstbetrieb auf, – nachdem die unerlässlichen Vorarbeiten alsbald abgeschlossen werden konnten (insbesondere ging es um die fachlich zweckmäßige Unterbringung u. a. von über 20.000 Fingerabdruckblättern und anderem erkennungsdienstlichen Materials, das die Städtische Polizeidirektion abgeben musste).
In der alten Landjäger-Unterkunft in Stuttgart, Bebenhäuserstr. 7, hatte sie (zunächst) ihren Dienstsitz.49 Drei Tage später, am 18. April 1914, berief die Kgl. Regierung den bayerischen Regierungsassessor Dr. Theodor Harster in den württembergischen Staatsdienst und beauftragte ihn mit der Leitung der direkt dem Innenministerium nachgeordneten Zentralstelle. Dr. Harster sah man zur damaligen Zeit „als den kommenden Mann der deutschen Kriminalistik“; er war in Bayern von 1909 an am Aufbau eines Landeserkennungsdienstes maßgeblich beteiligt.50 Zur gleichen Zeit trat der städtische Kriminalkommissär Waizenegger, Stuttgart, in den Landesdienst; fundamentale erkennungsdienstliche und kriminaltechnische Obliegenheiten waren ihm im ersten Entwicklungsabschnitt der Zentralstelle verantwortlich übertragen. Aus den im „Amtsblatt des Ministeriums des Innern“ verkündeten Personalnachrichten ist zu schließen, dass die neue Behörde verdiente Landjäger als Polizeiassistenten für den Fahndungsdienst übernahm. Notariats- und andere Verwaltungsbeamte wechselten als Kriminalsekretäre und bisherige städtische Kriminalinspektoren als Kriminalkommissäre in den Landespolizeidienst. Vereinzelt griff man auf preußische Kriminalkommissare zurück.
Die Gemeinsame Verfügung der K. Ministerien der Justiz und des Innern vom 11. Mai 191451, mit der man das Fingerabdruckverfahren schließlich in ganz Württemberg einführte, enthielt gleichsam eine essentielle Aufgabenzuweisung für die neue Zentralbehörde. Ab 1. Juni desselben Jahres hatten die Oberämter, die Stadtpolizeiämter, die Gerichtsgefängnisse, Strafanstalten, Arbeitshäuser und die staatlichen Irrenanstalten (insgesamt war das ganze Land mit einem Netz von 155 Aufnahmestellen überzogen, einschließlich der Landespolizeizentrale selbst) die von ihnen genommenen Fingerabdruckblätter (und die dazu gehörenden Personenkarten) der K. Landespolizeizentralstelle einzusenden. Deren Sache war es, diese Blätter zu bestimmen und zu ordnen (klassifizieren).
Fingerabdrücke waren nach § 2 der Verfügung zu nehmen von:
1. Personen, die wegen der Art ihrer Verbrechen oder Vergehen (Taschen- und Ladendiebe, Hochstapler, Münzfälscher, Falschspieler, Hotelschwindler, Päderasten, Kuppler, Zuhälter, Schmuggler u. dgl.) oder wegen des Verdachts der Rückfälligkeit als gewohnheitsmässige Verbrecher zu erachten sind,
2. von den Personen, die der Behörde gegenüber die Namensangabe verweigern oder in dem begründeten Verdacht stehen, daß sie sich den Behörden gegenüber einen falschen Namen beigelegt haben,
3. von allen aus dem Reichsgebiet sowie von den aus sicherheitspolizeilichen Gründen aus Württemberg ausgewiesenen Personen,
4. von allen ausländischen Deserteuren,
5. von den unter sittenpolizeilicher Kontrolle gestellten Frauenpersonen,
6. von bestimmten Bettlern,
7. von allen Zigeunern und nach Zigeunerart umherziehenden Personen ohne Rücksicht auf die Strafmündigkeit,
8. von den gemeingefährlichen Geisteskranken,
9. von den unbekannten Toten.“
Von gewerbsmäßigen oder voraussichtlich gewerbsmäßigen Verbrechern, ausländischen Deserteuren, Einbrechern, Süßstoffschmugglern und Zigeunern mussten mehrere Abdruckblätter genommen werden. Abdrücke von Handinnenflächen waren (auch schon damals) von den Einbrechern anzufertigen. „Auf Wunsch“ übernahm die Landespolizeizentralstelle das Personenfeststellungsverfahren (durch Ermittlungen bei den Fingerabdrucksammlungen des In- und Auslandes), wozu der Zentralstelle gleich 30 Fingerabdruckblätter einzusenden waren. § 9 der Verfügung wies diejenigen Aufnahmestellen, die über „Lichtbilder-Apparate“ verfügten, an, von allen Zigeunern zwei Aufnahmen von vorn und von der Seite (Vollprofil mit nach rechts schauendem Kopfe) im Maßstabe von 1:7 den Fingerabdruckblättern beizufügen, ebenso von allen gewerbsmäßigen Verbrechern, „die gewohnt sind, größere Reisen zu machen“. Eine Lichtbildaufnahme von einheimischen, „meistens am gleichen Orte bleibenden“ Verbrechern konnte unterbleiben. Obwohl das Körpermessverfahren nach Bertillon in anderen Ländern erheblich an Bedeutung verloren hatte, hielt die Verfügung vom 11. Mai 1914 daran fest, weil „es zur Erkennung eines Verbrechers gute Dienste leisten“ könne. Die Messungen erfolgten ausschließlich bei der Landespolizeizentralstelle. Sie waren zu beschränken auf:
1. „internationale Verbrecher,
2. Personen, zu deren Feststellung bei einer außerdeutschen Behörde angefragt wurden muss, die zwar das Messungsverfahren, nicht aber das Fingerabdruckverfahren selbständig anwenden,
3. Personen, zu deren Feststellung bei einem Erkennungsdienstamt angefragt werden muss, das sie vermutlich vor Einführung des Fingerabdruckverfahrens behandelt hat,
4. Personen, von den keine Fingerabdrücke genommen werden können.“
Die Festgenommenen mussten von den betroffenen Aufnahmestellen zur Durchführung des Messverfahrens der Landespolizeizentralstelle zugeführt werden. Die Gemeinsame Verfügung verpflichtete die Aufnahmestellen für die Ausbildung des Personals im Aufnehmen der Fingerabdrücke zu sorgen, wobei sie sich auf eine schriftliche Anweisung der Zentralstelle beziehen konnten. Übrigens stellte die seit Mai 1898 bei der städtischen Polizeidirektion Stuttgart bestehende Messstelle ihre Tätigkeit ein.
Neben der im Mai 1914 eingeführten Fingerabdrucksammlung wurde bei der Landespolizeizentralstelle bereits einen Monat später, mit Verfügung des Ministeriums des Innern vom 18. Juni 1914, eine „Sammlung von Nachrichten über abhandengekommene Wertgegenstände“ aufgebaut.52 Diese Sammlung sollte eine rasche Auskunftserteilung darüber ermöglichen, „wo in den letzten Jahren Uhren, Ringe, Broschen und sonstige Schmucksachen von größerem Wert, ferner Fahrräder, Kraftwagen und Wertpapiere, sowie andere genau beschreibbare Wertgegenstände gestohlen worden sind.“ Die Stadtpolizeiämter und Landjägerstellen hatten für die „württembergischen“ Fälle bestimmte Kartenvordrucke der Zentralstelle einzusenden, während die „außerwürttembergischen“ Fälle von dieser selbst „verkartet“ wurden. Die verschiedenfarbigen Karten für die einzelnen Gegenstände wurden laufend bereinigt bzw. ergänzt, wozu die Polizei- und Landjägerstellen ihre sachdienlichen Erkenntnisse unverzüglich mitzuteilen hatten. Die K. W. Landespolizeizentralstelle setzte die Fingerabdruckaufnahmestellen mit Rundschreiben vom 20. Juli 1914 (Az. Nr. 552) von der Einrichtung einer „Sammlung von Steckbriefkarten“ in Kenntnis, „in der zZt. 16 deutsche und ausländische Fahndungsblätter und die besonderen Ausschreiben zahlreicher Polizeibehörden berücksichtigt werden.“ Die fahndungsmäßige Verwertung der Steckbriefsammlung erfolgte u. a. so, dass die von den Fingerabdruckaufnahmestellen eingehenden Personenkarten mit den Steckbriefkarten verglichen und im Erfolgsfalle (bei Ermittlungen einer gesuchten Person) die Fingerabdruckaufnahmestellen und die ausschreibenden Behörden telefonisch zu unterrichten waren. Mit der Einrichtung einer „Kennzeichen-Kartei“, einer „Spitznamenkartei“sowie einer Lichbildersammlung erweiterte die Zentralstelle noch vor dem Ersten Weltkrieg ihr erkennungsdienstliches Instrumentarium.53 Es war vorgesehen, den kriminapolizeilichen Meldedienst durch die Installierung einer „Sammel- und Auskunftsstelle über Zigeuner“ und einer „Zentralstelle zur Bekämpfung des Süßstoffschmuggels“54 zu vervollkommnen. Der Kriegsausbruch im August 1914 durchkreuzte indessen diese Planungen. Nach der Einführung der amtlichen Filmzensur für das gesamte Königreich Württemberg durften nach dem Gesetz betr. Öffentliche Lichtspiele vom 31. März 1914 nur noch Filme vorgeführt werden, die von einer amtlichen Landesstelle geprüft und zugelassen worden waren.55 Das Ministerium beauftragte mit Verfügung vom 3. Juni 1914 die Landespolizeizentralstelle mit der Wahrnehmung dieser Aufgabe.56 Bereits im Herbst 1914 ist der rührige und hoffnungsvolle Vorstand der K. W. Landespolizeizentralstelle Dr. Harster „bei der erstmaligen Erstürmung von Wytschaete in Flandern“ gefallen.57 Seine Nachfolge trat im November 1914 der seitherige Oberamtmann Rudolf Klaiber in der Dienststellung eines „Kollegialrats“ an, dem schon 1911 mit der Übertragung des Polizeireferats der Stadtdirektion Stuttgart „der Weg für seine eigentliche Lebensaufgabe gewiesen worden war.“58 Klaiber, zuvor schon von Harster u. a. mit den Einrichtungen des Münchner kriminalistischen Erkennungsdienstes vertraut gemacht, war der Regierung Garant dafür, dass die Landespolizeizentralstelle in den kommenden Jahren sich als Kristallisationspunkt positionieren werde, bei dem alle Fäden aus Württemberg, dem übrigen Deutschen Reich und dem Ausland zusammenliefen und von dem aus ungesäumt der ganze kriminalistische Apparat in Bewegung gesetzt werden konnte. Ein Blick in einen erhalten gebliebenen Tätigkeitsbericht zeigt für die Kriegsjahre 1914 - 1916 eine äußerst rege Entfaltung des Erkennungsdienstes. Rückschlüsse auf eine enorme Zunahme der Kriegskriminalität sind zweifelsfrei erlaubt. Die Zahl der Fingerabdruckblätter bei der Übernahme der Sammlung von der Stadtpolizei Stuttgart 1914 stieg von 20.739 auf 32.018 Ende des Jahres 1916 an, dabei waren 243 Personenfeststellungsverfahren erfolgreich zum Abschluss gekommen. In den Jahren 1915 und 1916 konnten durch Nachschlagen in der Steckbriefsammlung 241 Personen als steckbrieflich gesucht festgestellt werden. Kriminaltechnische Gutachten über Tatortfingerspuren erstattete die Zentralstelle von 1914 bis 1916 in 94 Fällen. Weitere kriminaltechnische Arbeiten auf Ersuchen von Untersuchungsrichtern, Staatsanwaltschaften, Stadtpolizeiämtern und Landjägerstellen betrafen Schriftuntersuchungen, Vergleiche von Fußspuren und Werkzeugspuren usw. Vor allem in den ersten Kriegsjahren erwuchsen der Behörde, deren Beamte (mit Ausnahme des Vorstandes) mit Verordnung vom 13. August 1914 (Reg.Bl. S. 359) den Status von Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft erhielten, naturgemäß vorrangig militär- und abwehrpolizeiliche Exekutivaufgaben. Der schon ab 1907 bei der Stadtdirektion Stuttgart aufgestellte Abwehrdienst deckte ansonsten dieses spezielle Tätigkeitsfeld landesweit ab. Eine merkbare Wendung des landespolizeilichen Geschäftsbereichs trat ein, „als im Anschluss an die äußere Neugestaltung des Spionageabwehrdienstes in Preussen“ auch für den Bereich des Königreichs Württemberg auf Kriegsdauer eine „militärische Zentralpolizeistelle“ (Z.St.) mit Sitz in Stuttgart mit den ihr untergeordneten Zweigstellen (Militärpolizeistellen) in Stuttgart, Ulm, Friedrichshafen und Rottweil am 1. April 1917 ins Leben trat.59 Nunmehr gingen sämtliche bisher der Landespolizeizentralstelle einschließlich der an die Hafendirektion Friedrichshafen angeschlossenen Grenzpolizeistelle zugewiesenen Aufgaben der Spionagebekämpfung (insbesondere Sicherung der militärischen Geheimnisse gegen Ausspähung, der Schutz militärisch wichtiger Einrichtungen und Betriebe gegen Anschläge, die kriminalpolizeiliche Verfolgung einzelner Verdachtsfälle der Ausspähung und des Landesverrats) und die Leitung des Grenzschutzes, ferner die Fahndung nach entwichenen Kriegsgefangenen und der Fliegernachrichtendienst für Zivilbehörden sowie die Handhabung des Pass- und Meldewesens, des Fremdenverkehrs und die Überwachung des Eisenbahnreiseverkehrs auf die neue militärische „Zentralpolizeistelle Württemberg“ über.60 Mit der Aufstellung einer Militärpolizeistelle in Friedrichshafen fiel die dortige Grenzpolizeistelle vorübergehend weg; den Grenzkommissar zog man zum Heeresdienst ein. Allenfalls in Unterordnung unter die militärische Zentralpolizeistelle bildeten sich im Laufe des Krieges an verschiedenen Orten mit hoher Kriminalität zum Schutze des Heeresguts sog. „Schubpolizei-Stellen“. Der Leiter dieser Sonderpolizei war als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft auf eine enge Kooperation mit der Landespolizeizentralstelle angewiesen. Im Erlass vom 31. März 1917 wird überdies die Zustimmung zu dem Anbringen des „Staatsministerium des Innern an den König“ vom 16. März 1917 um Änderung der bisherigen amtlichen Bezeichnung der K. W. Landespolizeizentralstelle in „Landespolizeiamt“ verlautbart. Um Verwechslungen mit der neuen militärischen Zentralstelle zu vermeiden, war die Umbenennung unerlässlich. Dem neuen Landespolizeiamt verblieb nach dem Erlass ab
1. April 1917 der gesamte kriminalpolizeiliche Erkennungsdienst, also die Fortführung der kriminaltechnischen Sammlungen und Einrichtungen, die Ausführung kriminalpolizeilicher Tatortaufnahmen bei Schwerverbrechen und die Tätigkeit als Zigeunernachrichtenstelle, ferner die Lichtspielprüfung und „die Besorgung der Aufgaben eines Kriegswucheramts und sonstiger besonders überwiesener landespolizeilicher Aufgaben.“ Der letzte Absatz des Ministerialerlasses verfügte schließlich, dass Regierungsrat Klaiber „als Leiter der bisherigen Landespolizeizentralstelle künftig als Vorstand des Landespolizeiamts wirkt und ihm darüberhinaus die Leitung der militärischen Zentralpolizeistelle übertragen wird.“ Daher erfolgte seine Einberufung als Hauptmann zum Heeresdienst beim Stellv. Generalkommando. Zum Vertreter des Amtsvorstandes bestellte man Amtsrichter Lauer, dem das Ministerium in einem Zusatzerlass „die unversehrte Erhaltung und die ordnungsmäßige Weiterführung der kriminaltechnischen Sammlungen und Einrichtungen und die Sorge für einen sachgemäßen Betrieb“ zur besonderen Pflicht machte. Dass der stellvertretende Vorstand des Landespolizeiamts den Forderungen nachgekommen sein dürfte, mag die Tatsache erhellen, dass z. B. die Fingerabdrucksammlung zum 31. Dezember 1918 auf 38.137 Blätter angewachsen ist. 146 Personenfestellungen wurden in den Jahren 1917 und 1918 positiv abgeschlossen. Insgesamt 336 Personen konnten aufgrund der Steckbriefsammlung festgenommen werden. Die beim Landespolizeiamt eingerichtete Lichtbilderwerkstätte fertigte in den genannten beiden Jahren 322 Personenaufnahmen und 1.159 sonstige Lichtbilder an. 6.451 Lichtbildabzüge wurden für Fahndungszwecke hergestellt. Auch die kriminaltechnische Gutachtertätigkeit für die verschiedensten württembergischen Polizei- und Justizbehörden steigerte sich in großem Umfang. Eine nennenswerte landesgeschichtliche wie polizeihistorische Bedeutung dürfte dem am 4. Juli 1918 von Amtsrichter Lauer vorgelegten „Bericht über die Tätigkeit des Kriegswucheramts (KWA)“ zukommen, von dem erstmals im angezogenen Erlass vom 31. März 1917 die Rede war:
„Außer dem Vorstand des Kriegswucheramts beim Landespolizeiamt (KWA) waren noch vier weitere Juristen (dienstverpflichtete Rechtsanwälte) tätig, die sich als Berichterstatter wegen der Fülle der oftmals recht verworrenen Kriegswirtschaftsbestimmungen die einzelnen Stoffgebiete (Warengruppen) aufteilten (Brotgetreide und Mehl, Malz und Bier, Leder- und Schuhwaren, Web-, Wirk- und Strickwaren, Obst, Wein und Branntwein, Futtermittel und Heizmittel). Einer kaufmännischen Abteilung stand ein freigestellter Handelslehrer vor, der zusammen mit einer Anzahl ebenfalls verpflichteter Kaufleute spezielle kaufmännische Geschäftsprüfungen im Benehmen mit der Landespreisstelle oder den örtlichen Preisprüfungsstellen vornahm. Für den Außendienst standen dem KWA eine Anzahl kommandierter Landjäger und andere aus verschiedenen Branchen stammenden Hilfsbeamte zur Verfügung. Ein Teil der Polizeibeamten war ständig damit befasst, die Metzgereien im Lande zwecks Verhütung unerlaubter Schlachtungen zu kontrollieren. Weitere Gruppen von Polizeibeamten waren zur Überwachung des Verkehrs mit Nahrungsmitteln zwecks Bekämpfung des Schleichhandels und der ‚Schleichversorgung‘ eingesetzt. Bei der Überwachung des Eisenbahnverkehrs wurden in der Zeit von Oktober 1917 bis Mitte Juni 1918 beschlagnahmt und u. a. vor ‚Verschleppung aus Württemberg hinaus‘ bewahrt: rd. 35 000 Eier, 370 Ztr. Mehl und Getreide, 115 Ztr. Fleisch und Wurst, 85 Ztr. Hülsenfrüchte, 51 Ztr. Käse, 72 Ztr. Butter und Speisefett. Einzelne Überwachungsbeamte stellte man in der Kurzeit an Kurorten auf, um ‚gegen die Aushamsterung des Landes durch fremde Kurgäste anzukämpfen.‘ “
In dem Schriftstück wird eingehend auf die Schwierigkeiten hingewiesen, die dem KWA fast täglich begegneten:
„In vielen Fällen ist eine wochenlange, angestrengte Arbeit mehrerer Beamten notwendig, um an Hand der absichtlich verschleiert geführten Geschäftsbücher und der lügenhaften, ungeordneten Geschäftspapiere, Taschenbuchaufzeichnungen u. dgl. soviel Klarheit in das Treiben unlauterer Geschäftsleute zu bringen, damit den Staatsanwaltschaften und Gerichten ein Einschreiten ermöglicht wird.“
Äußere Anlässe zum Einschreiten des KWA waren:„teils Mißstände, auf welche die Außenbeamten bei ihrer Überprüfungstätigkeit stoßen, teils Anzeigen von amtlichen Stellen oder Privatleuten, teils Ersuchen von Behörden um Einschreiten, besonders Staatsanwälte und Untersuchungsrichter ersuchen vielfach um Unterstützung durch das geschulte polizeiliche oder kaufmännische Personal des KWA, teils Klagen in der Presse oder verdächtige Zeitungsanzeigen.“
Mitteilenswert hielt der Berichterstatter den seinerzeitigen ständigen Meinungsaustausch zwischen dem KWA und den einschlägigen Behörden des In- und Auslandes. Direkt nach Kriegsende traten die meisten Angehörigen des Landespolizeiamts, die zu den Militärpolizeistellen eingezogen waren, wieder zum Amt zurück. Sie wurden ab Dezember 1918 namentlich zur Wiederaufnahme und dem weiteren Ausbau des Erkennungsdienstes und seiner Sammlungen eingesetzt. Andere hingegen fanden ein reiches Betätigungsfeld im Außendienst des Kriegswucheramts. Der Leiter der militärischen Zentralpolizeistelle, Hauptmann d. R. Regierungsrat Klaiber, blieb vorerst noch militärisch eingezogen.
Eine aufmerksame Beachtung fordernde und für die zukünftige Gestaltung des Landespolizeiamts richtunggebende Denkschrift des zwischenzeitlich wieder ausschließlich als Vorstand des Landespolizeiamts tätigen Regierungsrats Klaiber vom 4. März 1919 thematisierte den dringend notwendigen „Ausbau des Außendienstes des Landespolizeiamts“. Die Denkschrift im Einzelnen:
„Zwar konnte nach Rückkehr des Stammpersonals des Landespolizeiamts neben den ursprünglichen erkennungsdienstlichen Aufgaben auf jeweilige besondere Ersuchen von Staatsanwalt-
schaften und Gerichten auch ein Außendienst aufgenommen werden, doch reichte das vorhandene Personal dazu bei weitem nicht aus. Nicht nur die ungeheuer angewachsene Nachkriegskriminalität, die durch zahlreiche Mord-, Brand-, Einbruchs- und Betrugsfälle markiert war, erforderte verstärkte, sachkundige Tatortarbeit, ebenso eine qualifizierte erkennungsdienstliche – und sonstige Ermittlungstätigkeit des Amts. Dazu kamen noch die mangelhaften kriminalpolizeilichen Einrichtungen und Fähigkeiten der Ortspolizeibehörden im Lande (abgesehen von Stuttgart und wenigen anderen Städten), die die schnelle Einrichtung eines landeskriminalpolizeilichen Außendienstes (also eine „Tatortpolizei“) erforderlich machen. Die Ermittlung schwerer, die öffentliche Sicherheit
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