Wichtige BGH-Entscheidung

Wichtige BGH-Entscheidung zum schweren Raub


Wolfgang Jörg
Polizeidirektor a. D.

1. Vorbemerkung
„Räuber ist, wer stiehlt und haut" so einfach umschrieb die „Constitutio Criminalis Carolina (CCC)" im 16. Jahrhundert den Tatbestand des Raubes. Erst unser heutiges StGB, das 1871 in Kraft trat, regelte die Sache etwas präziser: Nur wer zuerst haut und dann stiehlt, ist Räuber. Wer erst stiehlt und dann haut, ist räuberischerer Dieb. Und wer droht und dann stiehlt, ist räuberischer Erpresser. Die Änderungen des StGB in den vergangenen über 130 Jahren betrafen vor allem die Qualifikationen des Raubes. Neben dem Straßenraub hat insbesondere der Raub mit Waffen, in Bandenform, mit gefährlichen Werkzeugen oder mit schweren Folgen für das Opfer die Rechtsprechung beschäftigt. Mit dem 6. StrRG war eine klare Tatbestandsbeschreibung der erschwerten Begehungsformen dieses Paragrafen geplant. Inzwischen gibt es aber doch wieder eine Fülle von Entscheidungen des BGH und sogar des Großen Senats für Strafsachen zu strittigen Fragen, die sich aus den Qualifikationstatbeständen ergeben.

Aber auch der Grundtatbestand wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Wie ist es zu bewerten, wenn der Täter z.B. die Frau vergewaltigen will und sie deshalb fesselt oder sonst widerstandsunfähig macht und sich dann entschließt, ihr auch noch das Geld aus der Handtasche oder das Auto wegzunehmen?

Oder wie ist derjenige zu verurteilen, der in vom Gericht nicht zu widerlegender Notwehrlage seinen Angreifer getötet und dann um alle Wertgegenstände gebracht hat? Der Richter, der zu entscheiden hat, wann der Wegnahmeentschluss gefasst wurde, ist nicht zu beneiden. Bei der letztgenannten Fallkonstellation fällt die Entscheidung zwischen Raubmord und einfacher Unterschlagung, d.h. zwischen lebenslanger Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe, höchstens einer kurzen, zur Bewährung auszusetzenden Freiheitsstrafe. Im jetzt entschiedenen Fall hatte der BGH eine in Wissenschaft und Literatur höchst umstrittene Frage zu beantworten, nämlich ob man Gewalt auch durch Unterlassen begehen kann.

So ist es nicht verwunderlich, dass die nachfolgend besprochene Entscheidung schon kurz nach ihrer Veröffentlichung ein breites, nicht immer von Zustimmung geprägtes Echo in der juristischen Literatur gefunden hat.

2. Die BGH-Entscheidung

BGH, Urt. v. 15.10.20032 StR 283/03 (LG Kassel), veröffentlicht u.a. in NJW 2004, 528 und JZ 2004, 362 mit kritischer Anmerkung von Prof. Otto.

2.1 Der Sachverhalt:

Der obdachlose Angeklagte war in die Jagdhütte des Geschädigten eingedrungen und hatte dort übernachtet. Als der Geschädigte am nächsten Morgen die Hütte aufsuchte und die Tür öffnete, sprühte ihm der in der Hütte befindliche Angeklagte eine Flüssigkeit ins Gesicht, versetzte ihm einen Faustschlag, wodurch der Geschädigte zu Fall kam, warf sich auf ihn und zerschlug eine von dem Geschädigten mitgebrachte Sprudelflasche auf dessen Kopf, so dass sie zerbrach. Sodann warf er einen über 8 kg schweren Feldstein in Richtung des Kopfes des Geschädigten. Der Stein traf den Geschädigten, der einem frontalen Aufprall ausweichen konnte, an der rechten Kopfhälfte, so dass der Geschädigte einen Bruch des Orbitalbodens erlitt. Schließlich fesselte er die Hände des Geschädigten und schob ihn in die Hütte.

Spätestens jetzt fasste der Angeklagte den Entschluss, sich den Landrover und weitere Sachen des Geschädigten anzueignen. Er ergriff die Taschen des Geschädigten, brachte sie in den Landrover, verschloss die Hütte und fuhr davon. Der Landrover wurde einige Zeit später aufgefunden, eine Pistole, ein Jagdmesser, ein Handy sowie Kleidungsstücke und diverse andere Gegenstände, unter anderem auch Schlüssel und Papiere des Geschädigten, blieben jedoch verschwunden.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Betrugs sowie wegen schweren Raubs in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren (Einzelstrafen: ein Jahr, sechs Monate und fünf Jahre) verurteilt. Dagegen wendete sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge. Seine Revision war nur teilweise erfolgreich.

2.2 Der Leitsatz

Gewalt zur Wegnahme unter Verwendung eines Mittels i.S. von § 250 I Nr. 1 lit b StGB wendet an, wer das Tatopfer zunächst mit anderer Zielrichtung gefesselt hat und im engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit der so bewirkten Wehrlosigkeit des Opfers dessen Sachen entwendet.

2.3 Zur Rechtslage

Durch das 6. StrRG wurde der Qualifikationsbestand des Raubs neu gefasst. Das Landgericht hat seiner Verurteilung die Merkmale des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB zugrunde gelegt:

„Auf Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren ist zu erkennen, wenn der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub 1. bei der Tat eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug verwendet."

Der BGH ging bei seiner Entscheidung von der Verwirklichung der Merkmale des § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB aus:

„Auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren ist zu erkennen, wenn

1. der Täter oder ein anderer Beteiligter am Raub

b) sonst ein Werkzeug oder Mittel bei sich führt,

um den Widerstand einer anderen Person durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu verhindern oder zu überwinden."

2.4 Die Begründung

2.4.1 Verknüpfung von Nötigungshandlung und Wegnahme

Der BGH:

„Das Landgericht hat die für die Erfüllung des Raubtatbestands erforderliche finale Verknüpfung zwischen Nötigungshandlung und Wegnahme im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung nicht näher begründet. Die Ausführungen zur Strafzumessung, bei der das Landgericht zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat, dass er `innerhalb des schweren Raubes sogar (ein) gesteigertes Maß an Gewalt einsetzte und seinem Opfer gleich mehrere Schläge unter Einsatz von zwei verschiedenen gefährlichen Werkzeugen versetzte' lassen aber besorgen, dass das Landgericht der Auffassung war, auch diese Schläge hätten dazu gedient, die Wegnahme zu ermöglichen. Dies stünde jedoch im Widerspruch zu den Feststellungen, nach denen der Angeklagte den Geschädigten zunächst nur deshalb angegriffen hatte, um aus der Hütte zu entfliehen, und den Wegnahmeentschluss möglicherweise erst gefasst hat, als er den Geschädigten niedergeschlagen, an den Händen gefesselt und in die Hütte geschoben hatte. Wann der Angeklagte sich zur Wegnahme des Landrovers (und der anderen Sachen) entschlossen hat, ist jedoch für die rechtliche Einordnung von Bedeutung. Denn während der Angeklagte sich des schweren Raubes nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB (ggf. auch nach 250 Abs. 2 Nr. 3 lit. a StGB) schuldig gemacht hätte, wenn er die Flasche und den Feldstein zur Ermöglichung der Wegnahme eingesetzt hätte, kommt lediglich die Verwirklichung des schweren Raubes nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 lit. b StGB in Betracht, wenn der Wegnahmeentschluss erst bei oder nach der Fesselung des Geschädigten gefasst worden sein sollte."

2.4.2 Motivwechsel

„Der Angeklagte hat sich jedoch eines schweren Raubes nach § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB (in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung) durch Verwendung des am Tatort aufgefundenen Stricks zur Fesselung des Geschädigten schuldig gemacht, unabhängig davon, ob er den Wegnahmevorsatz schon bei der Fesselung oder wie das Landgericht in seinem Feststellungsblock unterstellt hat erst später gefasst hat. Für die zweite Alternative (der Angeklagte hatte den Geschädigten nur deshalb gefesselt, um sich einen Fluchtvorsprung zu sichern, erst danach entschloss er sich, den Landrover und weitere Sachen des Geschädigten mitzunehmen) bedarf allerdings die Frage, ob von Gewalt als Nötigungsmittel auszugehen ist, näherer Erörterung:

Bei einem Motivwechsel nach einer zunächst mit anderer Zielsetzung begangenen Nötigung kommt ein Schuldspruch wegen Raubs nicht in Betracht, wenn es nur gelegentlich der Nötigungshandlung zur Wegnahme kommt oder die Wegnahme der Nötigung nur zeitlich nachfolgt, ohne dass eine finale Verknüpfung besteht. Hingegen ist auch bei einer zunächst mit anderer Zielrichtung erfolgten Nötigung, die der Täter zur Wegnahme ausnutzt, der Raubtatbestand erfüllt, wenn die Gewalt noch andauert oder als aktuelle Drohung erneuter Gewaltanwendung auf das Opfer einwirkt und dieses dazu veranlasst, die Wegnahmehandlung zu dulden.

Ob bei einem Motivwechsel nach einer ohne Wegnahmevorsatz erfolgten Fesselung (oder anderen Freiheitsberaubung) eine fortdauernde Gewalt zum Zwecke der Wegnahme ausgeübt wird, wenn der Täter das gefesselte Tatopfer bestiehlt oder ob in einem solchen Fall lediglich die andauernden faktischen Wirkungen der zuvor ohne Wegnahmevorsatz ausgeübten Gewalt ausgenützt werden, ist in der Literatur strittig. Dass von einer zum Zwecke der Wegnahme eingesetzten andauernden Gewalt auszugehen ist, ist z.B. von Eser schon früh vertreten worden.

Danach ist Nötigungsmittel der Wegnahme nicht die positive Herbeiführung der Gewaltsituation, sondern deren auf Ingerenz beruhende pflichtwidrige Nichtbeendigung. Dieses Unterlassen und nicht die positive Gewaltanwendung durch die Vornahme der Fesselung setze der Täter zur Verwirklichung seiner Wegnahmeabsicht ein, wobei dieses Unterlassen einem positiveren Tun entspreche. Dagegen wird eingewandt, dass damit die Trennung zwischen finalem Gewalteinsatz und bloßer Ausnutzung der Zwangslage des Opfers verwischt werde, dass schon der Begriff der Gewalt kein Unterlassen beschreiben könne."

2.4.3 Gewalt durch Unterlassen?

„In einer früheren Enscheidung (BGHSt 32, 88 = NJW 1984, 500) hat der BGH zwei Täter, die den Hotelportier in ihrem Zimmer gefesselt und eingeschlossen hatten, um ihre Hotelrechnung nicht bezahlen zu müssen und dann beim Verlassen des Hotels auch noch aus der Kasse an der unbesetzten Rezeption des Hotels Geld mitgenommen hatten, hinsichtlich der Wegnahme nur wegen Diebstahls verurteilt.

Bei der Wegnahme sei die Nötigungshandlung gegenüber dem Portier abgeschlossen gewesen, lediglich die Nötigungswirkungen hätten fortgedauert.

Demgegenüber ist im Rahmen des § 177 StGB, der im Hinblick auf das Erfordernis der Finalität zwischen Nötigungsmittel und erstrebtem Verhalten der Tatbestandsstruktur des § 249 vergleichbar ist, das bewusste Ausnutzen einer aus anderen Gründen an dauernden Freiheitsberaubung zur Erzwingung der Duldung der Vornahme sexueller Handlungen ohne weiteres als Gewaltanwendung angesehen worden.

Die Auffassung, dass das Ausnutzen einer ohne Wegnahmevorsatz begonnenen andauernden Freiheitsberaubung zum Zwecke der Wegnahme schon sprachlich nicht als „Gewalt" angesehen werden könne oder dass jedenfalls der Raubtatbestand von seiner Struktur her ein aktives Handeln erfordere, ein Unterlassen allenfalls dann als tatbestandsmäßig erfasst werden könne, wenn jedenfalls ein Dritter aktiv Gewalt ausübe, die der Täter als Garant pflichtwidrig nicht hindere, überzeugt in dieser Allgemeinheit nicht.

Sie ist naturalistischen Bildern der Gewaltausübung verhaftet. Dass Gewalt jedenfalls dann verwirklicht werden kann, wenn körperlich wirkender Zwang aufrechterhalten wird, entspricht im Übrigen der herrschenden Meinung zum Nötigungstatbestand."

2.4.4 Garantenstellung aus „vorausgegangenem Tun" (Ingerenz)?

„Das Abstellen allein auf die aktive Gewaltausübung wird aber auch dem Charakter der Freiheitsberaubung als Dauerdelikt nicht gerecht. Wer einen anderen einschließt oder fesselt, übt gegen diesen Gewalt aus, und war vis absoluta. Durch das Aufrechterhalten des rechtswidrigen Zustandes, den der Täter zurechenbar bewirkt hat, setzt sichanders als etwa beim Niederschlagen des Opfesdie Gewaltanwendung fort, sie ist erst beendet mit dem Aufschließen oder dem Lösen der Fesselung. Ob dieses Verhalten, das auf eine schuldhafte Verursachung eines rechtswidrigen Zustands durch den Täter aufbaut, als Gewaltanwendung durch positives Tun oder durch Unterlassen bei aus Ingerenz folgender Garantenpflicht des Täters anzusehen ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn auch wenn der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit im Unterlassen gesehen wird, bestehen gegen die Annahme eines Raubs durch Ausnutzung einer durch Freiheitsberaubung (mit anderer Zielrichtung) geschaffenen Zwangslage keine Bedenken. Soweit in der Literatur teilweise vertreten wird, dass es jedenfalls an der Finalität des Nötigungsverhaltens fehle, stellt sich dies letztlich nur als Konsequenz des verkürzten Gewaltbegriffs dar, wonach Gewalt nur als aktives Handeln begriffen wird. Tatsächlich schließen sich Unterlassen und Finalität nicht aus. Der Unterlassungstäter kann die Aufrechterhaltung des rechtswidrigen Zustands wollen, um die Wehrlosigkeit des Opfers zur Wegnahme auszunutzen.

Aber auch der Einwand, dass der Unrechtsgehalt bei einem so begangenen Raub nicht dem der aktiven Tatbestandsverwirklichung entspreche, erscheint jedenfalls für Fallgestaltungen wie der hier vorliegenden unbegründet. Gerade wenn wie hier die aus anderen Gründen erfolgte Gewaltanwendung durch positives Tun und ihre Ausnutzung zur Wegnahme durch den Täter, der das Opfer durch die Fesselung in seine Gewalt gebracht hatte, zeitlich und räumlich dicht beieinander liegen hier hatte der Angeklagte unmittelbar nach der (möglicherweise) aus anderen Gründen erfolgten Fesselung den Geschädigten nach dem Zündschlüssel gefragt und sich zur Wegnahme entschlossen _, kann von einem unterschiedlichen Unrechtsgehalt je nachdem, wann sich der Täter zur Wegnahme entschlossen hatte, nicht ausgegangen werden."

2.4.5 Gefährliches Werkzeug?

„Mit der Verwendung des am Tatort aufgefundenen Stricks zur Fesselung des Geschädigten hat der Angeklagte zwar im konkreten Fall kein gefährliches Werkzeug verwendet, wohl aber den Tatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 1 lit. b StGB erfüllt. Dies gilt nicht nur, wenn der Täter bereits bei der Fesselung mit Wegnahmevorsatz gehandelt hat, sondern auch dann, wenn er den Wegnahmevorsatz erst später gefasst und die durch die Fesselung bewirkte, schon bestehende Wehrlosigkeit des Opfers ausgenutzt hat, da gerade durch den Einsatz des Stricks zur Fesselung eine fortdauernde Zwangslage geschaffen wurde.

Ob der Angeklagte mit dem Einsperren des Geschädigten in der Hütte weitere der Wegnahme dienende Gewalt angewandt hat oder sich wie der Generalbundesanwalt ausgeführt hat Bedenken im Hinblick auf die Finalität dieser Gewaltanwendung deshalb ergeben, weil der Angeklagte nach der Misshandlung und Fesselung des Geschädigten möglicherweise keinen Widerstand gegen die Wegnahme mehr erwartete, bedarf keiner weiteren Erörterung."

3. Schlussbetrachtung

Der uneingeschränkte Beifall der Praxis ist dem BGH für dieses Urteil sicher. Was etwas irritiert, ist, dass bei der Art des Gewalteinsatzes nicht auch die Frage der versuchten Tötung näher erörtert wurde.

Für Strafrechtsexperten ist die Entscheidung sicher ein Leckerbissen: Gewaltanwendung durch Unterlassen bei Annahme einer Garantenstellung aus Ingerenz ist ein Aspekt, der nicht ohne weiteres einleuchtet. Die Auslegung des Gewaltbegriffs hat sich vom normalen sprachlichen Verständnis ja bisher schon recht weit entfernt. Dass man aber als Alleintäter auch Gewalt durch Unterlassen anwenden kann, ist noch etwas gewöhnungsbedürftig. Sicher hat der BGH mit dieser Entscheidung dafür gesorgt, dass der juristischen Wissenschaft und Literatur in nächster Zeit der Diskussionsstoff nicht ausgeht.


Wolfgang Jörg
Polizeidirektor a. D.