Sicherheit im freiheitlichen Rechtsstaat
Von Hartmut Brenneisen, Dekan des Fachbereichs Polizei der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung, Altenholz 1
Hartmut Brenneisen
Wie viel Sicherheit benötigt eine offene und demokratische Gesellschaft, die ein möglichst hohes Maß an Freiheitlichkeit bewahren will, zugleich aber auch mit Bedrohungslagen der unterschiedlichsten Qualität konfrontiert wird? Hat sie sich mit diesen Szenarien zu arrangieren, mit der real existierenden Kriminalität abzufinden, oder ist eine deutliche Hinwendung zu mehr Sicherheit geboten? Muss die staatliche Macht gebändigt werden, um der schleichenden Umdeutung der Grundrechte zu begegnen oder ist die Anpassung der Eingriffsbefugnisse an die spezifischen Bedrohungslagen unumgänglich und als allein angemessene kriminalpolitische Reaktion zu betrachten? Diese Fragen machen das besondere Spannungsverhältnis zwischen hoheitlicher Intervention auf der einen und rechtsstaatlicher Distanz auf der anderen Seite deutlich. Nachfolgend sollen einige grundsätzliche Überlegungen zu diesen widerstreitenden Positionen angestellt werden.
1. Vertrauen entspricht dem Menschenwürdegrundsatz der Verfassung
Das Grundgesetz als wertgebundene Ordnung sieht den Schutz von Menschenwürde und Freiheit als obersten Zweck, als Herzstück der Verfassung.2 Der Rechtsstaat hat nicht allein die Freiheitsrechte der Menschen zu achten, sondern durch aktive Leistungen auch Freiheit zu ermöglichen. Durch die Ausrichtung auf die Grundrechte ist dem Staat mit seinen monopolistischen Machtmitteln eine dienende Funktion zugewiesen und der Vorrang des Einzelnen festgeschrieben worden.3 In ihrer Substanz sind Grundrechtspositionen individuelle, gegen eine etwaige Willkür gerichtete Abwehrrechte. Sie garantieren einen staatsfreien Raum, der den Eingriffen der hoheitlichen Gewalt entzogen ist. Bereits Benjamin Franklin konstatierte: „Diejenigen, die bereit sind, eine wesentliche Freiheit aufzugeben, um ein wenig vorübergehende Sicherheit zu erlangen, verdienen weder Freiheit noch Sicherheit...".4 Bürger dürfen nicht als potenzielles Sicherheitsrisiko eingestuft werden;5 Vertrauen allein entspricht dem Menschenbild des Grundgesetzes. Effektivität, so z.B. das Bundesverfassungsgericht in der aktuellen Entscheidung6 zur akustischen Wohnraumüberwachung, kann für einen demokratischen Staat nicht die vorrangige Zielstellung sein. Zur Unantastbarkeit der Menschenwürde gehört auch die Anerkennung eines „... absolut geschützten Kernbereichs privater Lebensgestaltung".7 Der Zweck heiligt eben gerade nicht die Mittel. Im Gegenteil, ein hoheitliches Vorgehen nach diesem Motto stellt eine rechtsstaatliche Todsünde dar. Ein Staat, in dem die Guten alles tun dürfen, um die Bösen zu bekämpfen, erscheint auf Dauer deutlich beängstigender als jede Gefahr durch Kriminalität.8
2. Ohne Sicherheit gibt es keine Freiheit
Allerdings ist die innere Sicherheit auch eine entscheidende Voraussetzung für
das Bestehen der demokratischen Gesellschaft. Primäre Aufgabe des modernen Rechtsstaates ist es, Freiheit, Frieden, demokratische Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit im Sinne einer umfassenden Risikovorsorge zu sichern. Rechtswidrige Übergriffe anderer Gesellschaftsmitglieder sind mit aller Entschlossenheit zu unterbinden. Sicherheit bildet in diesem Sinne, nämlich als Rechtsgüter- und Integritätsschutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen durch andere Menschen, einen maßgeblichen Bestandteil jenes Vertrages, der die politische Herrschaft in der sich als Staat organisierten Gesellschaft legitimiert. Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates bilden das Fundament der Sicherheit.9 Obwohl das Grundgesetz den Staatszweck Sicherheit nicht ausdrücklich benennt, ist dieser doch als wesentliche hoheitliche Aufgabe anerkannt und mit Blick auf die zunehmende Globalisierung gerade auch durch das Europäische Gemeinschaftsrecht10 hervorgehoben worden. Bereits 1792 prägte Wilhelm von Humboldt den Satz: „... denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit".11 Anderslautende Ansätze können in einer defizitären Welt niemals aufgehen,12 insbesondere würden sie die Rechtspositionen potenzieller Opfer sträflich außer Acht lassen.
3. Ausgleich über die rechtsstaatliche Schnittmenge
Das hoheitliche Normengefüge im demokratischen Rechtsstaat darf nicht beliebig ausgeweitet werden, sondern ist an der real existierenden Bedrohungslage auszurichten, die durch Organisierte Kriminalität ebenso gekennzeichnet ist wie durch den internationalen Terrorismus, die Alltagskriminalität und letztlich auch durch Aspekte der öffentlichen Unordnung.13 Gefragt ist stets eine sorgfältige Analyse und die Entscheidung für die zum Schutz gefährdeter Rechtsgüter unbedingt erforderlichen Eingriffsermächtigungen.14 Das Ziel neuer Befugnisnormen darf es niemals sein, die Freiheit einzuschränken oder gar abzuschaffen; es muss vielmehr um ihre Erhaltung und Erweiterung gehen.15 Insbesondere sind die Entscheidungen des Gesetzgebers mit einer eindeutigen Absage an so
genannten „rechtspolitischen Beifang"16 zu verbinden. Unnachgiebigkeit gegenüber einer überbordenden Kriminalität ist nicht mit symbolischer Gesetzgebung zu verwechseln, die lediglich den Anschein einer weitsichtigen und proaktiven Sicherheitspolitik erweckt. Gleichfalls sind alle Versuche der Eingriffsverwaltung, die vermeintliche Gunst der Stunde zu nutzen und das bestehende Instrumentarium einseitig auszuweiten, entschieden zurückzuweisen. Der Nutzen jeder Maßnahme muss eingehend diskutiert werden, um keine Scheinsicherheit zu erzeugen, die später im Vollzugsdefizit endet.17 Der Prozess einer beständigen, schließlich nicht mehr transparenten und handhabbaren Aufschichtung von immer neuen Rechtsgrundlagen ist durch ein Netzwerk rechtsstaatlicher Sicherungen zu unterbrechen.18 Denkbar sind hier neben einschränkenden Anordnungsvorbehalten insbesondere die Befristung hoheitlicher Eingriffsermächtigungen, eine Normevaluation und die darauf aufbauende parlamentarische Kontrolle.
Der rechtsstaatliche Doppelauftrag scheint zunächst in ein Dilemma zu führen. Bei umfassender Beachtung des gebotenen Augenmaßes und der Unterbindung jeder Einseitigkeit können jedoch beide Zielstellungen zum Ausgleich gebracht werden.19 Schutz und Freiheit sind gleichrangige materiell-rechtliche Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, die eine gemeinsame Schnittmenge aufweisen. Denn ohne Sicherheit kann es keine Freiheit geben und ohne Freiheit keine rechtsstaatliche Demokratie.20
4. Die Bedeutung einer neuen Sicherheitskultur
Es ist eine neue Sicherheitskultur21 als Steuerungsmodus notwendig, die dem verfassungsrechtlichen Auftrag des Staates auf allen Ebenen gerecht wird und eine Synthese von Freiheit und Sicherheit fördert.
Aussagen wie „Das Bundesverfassungsgericht stellt Freibriefe für die Organisierte Kriminalität aus" oder „Datenschützer sind Komplizen des inter-
nationalen Terrorismus" sind ebenso zurückzuweisen wie plakative Forderungen nach einer „Entwanzung des Rechts" oder die Gleichsetzung der rechtsstaatlichen Polizeiarbeit in der Bundesrepublik Deutschland mit den „Gestapo-Methoden" des nationalsozialistischen Unrechtsregimes.22 „Sieg und Niederlage" für die Anwälte demokratischer Grundüberzeugungen stellen verhängnisvolle Termini dar.23 Der ehemalige Generalstaatsanwalt des Landes Schleswig-Holstein, Ostendorf, hat bereits 1993 berechtigt festgestellt: „Kriege beginnen immer mit Worten."24
Freiheitsrechte behindern naturgemäß die Polizei und können faktisch potenziellen Rechtsbrechern Vorteile verschaffen. Das liegt in der Natur der Sache und ist vollkommen undramatisch, denn jede Norm, die eine hoheitliche Eingriffshandlung zulässt, begrenzt diese eben auch. Unversöhnliche Standpunkte sind daraus indes nicht abzuleiten. Im Gegenteil, eine rechtsstaatliche Eingriffsverwaltung muss an möglichst umfassenden Freiheitsrechten ein fundamentales Interesse haben, denn es geht um die Grundlagen der Demokratie25 und um das gesellschaftliche Klima der „... Empathie für andere und der Toleranz für das Andersartige."26
1 Der Autor ist Dekan des Fachbereichs Polizei und Prorektor der Fachhochschule für Verwaltung und Dienstleistung in Schleswig-Holstein.
2 BVerfGE 7, 198; 12, 51; Stern, in: Merten/Papier, 2004, Handbuch der Grundrechte, S. 45; Dreier, 2004, Grundgesetz _ Kommentar (Band I), 2. Auflage, Vorbemerkungen, Rdnr. 84.
3 Calliess, 2003, Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse, DVBl, S. 1096; ders., 2002, Sicherheit im freiheitlichen Rechtsstaat, ZRP, S. 1; Leutheusser-Schnarrenberger, 1999, Neue Dimensionen des Politischen, ZRP, S. 313; Kniesel, 1996, „Innere Sicherheit" und Grundgesetz, ZRP, S. 482.
4 Franklin, 1759, Historical Review of Pennsylvania („They that give up essential liberty to obtain a little temporaray safety deserve neither liberty nor safety"). Vgl. dazu Dix, 2004, Informations- und Kommunikationskriminalität, Kriminalistik, S. 81.
5 Kniesel, 1996, aaO, S. 482; zum Thema „Menschenwürde versus Kontrollen" vgl. kritisch Schwabe, 1998, „Kontrolle ist schlecht, Vertrauen allein der Menschenwürde gemäß?", NVwZ, S. 709.
6 BVerfGE vom 03.03.2004, NJW 2004, S. 999; vgl.
dazu Schaar, 2004, Trendwende für das Recht, SZ, Nr. 53, S. 5 und Nowak, 2004, Fesseln für Ermittler, Deutsche Polizei, Heft 4, S. 6.
7 BVerfGE vom 03.03.2004, NJW 2004, S. 999.
8 Vgl. dazu z.B. Haurand/Vahle, 2003, Rechtliche Aspekte der Gefahrenabwehr in Entführungsfällen, NVwZ, S. 513.
9 Callies, 2003, aaO, S. 1096; Hoffmann-Riem, 2002, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP, S. 497; Hetzer, 2002, Attentat und Rechtsstaat, Kriminalistik, S. 490; Pitschas, 2002, Polizeirecht im kooperativen Staat, DÖV, S. 221; ders., 1993, Innere Sicherheit und internationale Verbrechensbekämpfung als Verantwortung des demokratischen Verfassungsstaates, JZ, S. 857.
10 Art. 6 Charta der Grundrechte der EU: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit". Vgl. dazu: Dreier, 2004, aaO, Vorbemerkungen, Rdnr. 45; Häberle, 2004, Eine EU-Verfassung als Chance für den „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts", Polizei-heute, S. 2; Pietsch, 2003, Die Grundrechtecharta im Verfassungskonvent, ZRP,
S. 1; Leutheusser-Schnarrenberger, 2002, Die Entwicklung des Schutzes der Grundrechte in der EU, ZRP, S. 329; Calliess, 2002, aaO, S. 1; Denninger, 2002, Freiheit durch Sicherheit?, Kritische Justiz, S. 467.
11 Humboldt von, 1792 (1967), Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, S. 58; vgl. dazu Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier, 2004, Handbuch der Grundrechte, S. 434.
12 So z.B. Stümper, 1996, Neue Dimensionen des Datenschutzes, Kriminalistik, S. 530; ders., 1997, Ist unsere Kriminalpolitik zukunftsfähig?, Die Polizei, S. 231.
13 Brenneisen, 2002, Polizeiliche Informationseingriffe im Spannungsfeld zwischen aktuellen Bedrohungsszenarien, effektiven Befugnisnormen und datenschutzrechtlichen Sicherungen, DPolBl, Heft 4,
S. 7.
14 Ziercke, 2002, Neue Sicherheitsarchitektur für Deutschland, Kriminalistik, S. 346.
15 Simitis, 1997, Daten- oder Tatenschutz _ ein Streit ohne Ende?, NJW, S. 1902 (unter Hinweis auf John Locke, 1680, Two Treatises of Civil Government).
16 Ziercke, 2002, aaO, S. 346.
17 Ziercke, 2002, aaO, S. 346; Brenneisen, 2002, Datenschutz aus Sicht der Polizei, PVT, S. 98; ders. 2002, aaO, S. 7.
18 Brenneisen, 2002, aaO, S. 7; Lange, 2003, Zehn-Punkte-Erklärung des AKIS zur inneren Sicherheitspolitik.
19 Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier, 2004, aaO, S. 434.
20 Denninger, 2002, aaO, S. 467.
21 Calliess, 2003, aaO, S. 1096; ders., 2002, aaO, S. 1; Schaefer, 2001, Strafverfolgung und innere Sicherheit nach den Terroranschlägen, NJW, S. 3755; Kniesel, 1996, aaO, S. 482.
22 Zu Aussagen dieser Art vgl. z.B.: Nowak, 2004, aaO, S. 6; Prantl, 2004, Der Staat der alles wissen will, SZ, Nr. 12, S. 4; Hetzer, 2002, Polizeibehörde oder Geheimdienst?, Der Kriminalist, Heft 1, S. 14; Lisken, 1998, Für eine demokratische Polizeiverfassung, ZRP, S. 270; ders., 1997, Auf dem Weg zum Kontrollstaat, Polizei-heute, S. 85.
23 So aber z.B. Jansen, 2004, BDK-Aktuell, Der Kriminalist, S. 138 („... wer ist Gewinner, wer ist Verlierer?").
24 Ostendorf, 1993, Kriege beginnen immer mit Worten, Deutsche Polizei, Heft 1, S. 21.
25 Brenneisen, 2002, aaO, S. 98.
26 Hoffmann-Riem, 2002, aaO, S. 497.
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