Professionelle polizeiliche Arbeit am Ereignisort
Eine Frage der Berufsehre
Von KHK a.D. Rolf Strehler, Aschersleben1
Der Erfolg des „Ersten Angriffs“2 und somit auch der Tatortarbeit bei der Suche nach Wahrheit und Beweisen hängt in einem nicht zu unterschätzenden Maße vom persönlichen Engagement der eingesetzten Kräfte ab. Bei zahlreichen Lebenssachverhalten der polizeilichen Alltagspraxis ist es unverzichtbar, sich an den Ereignisort3 zu begeben, diesen zu untersuchen und einen Befund zu erheben. Ziel dieses Beitrages ist es, die polizeiliche Arbeitsweise am Ereignisort/Tatort selbstkritisch zu hinterfragen.
1 Die Bedeutung der Prävalenz des Sachbeweises – ein Quantensprung
Unaufschiebbar notwendige polizeiliche Aktivitäten zur Gefahrenabwehr oder/und Strafverfolgung lösen in aller Regel den „Ersten Angriff“ aus. Es handelt sich um Sofortmaßnahmen, deren Kern oftmals in der Spuren- und Beweismittelsuche am Ereignis-/Tatort und in dessen Wahrnehmbarkeitsbereich besteht. Dabei haben die Qualität der durchgeführten Maßnahmen und deren Dokumentation wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der sich anschließenden polizeilichen Sachbearbeitung. Die grundsätzliche Bedeutung des Ereignis-/Tatortes im juristischen und auch im kriminalistischen Sinne ist allgemein bekannt4. Der zu untersuchende Geschehensablauf hat dort offen wahrnehmbare aber auch latente Veränderungen verursacht. Bei der Suche nach den Geheimnissen des Tatortes wurden in der Kriminalistik schon immer neueste wissenschaftliche Erkenntnisse gezielt angewendet und weiterentwickelt. Der rasant verlaufende innovative Fortschritt in den letzten Jahrzehnten ist beindruckend. Als Beispiel soll hier die ursprüngliche Daktyloskopie5 und die damit gewonnene Möglichkeit, Personen beweiskräftig und zweifelsfrei zu identifizieren, genannt werden. Der Autor hatte vor ca. 18 Jahren wiederholt Gelegenheit, voller Hochachtung einem Sachverständigen für Daktyloskopie bei seiner mühseligen – damals noch ausschließlich analogen – Arbeit am Lesegerät über die Schulter zu schauen. Inzwischen ist mit der Digitalisierung der Daktyloskopie
ein Quantensprung erreicht worden. Erinnert sei hier auch an die früher begrenzten Möglichkeiten zur Auswertung einer Blutspur. Man konnte, anhand der ermittelten Blutgruppe, Personen als Spurenverursacher ausschließen bzw. als Mitglied einer Gruppe mit gleicher Blutgruppe weiter verdächtigen. Eine direkte Individualidentifizierung war jedoch nicht möglich. Das ist jetzt mittels DNA-Analyse revolutioniert worden und es können auch andere biologische Spuren entsprechende Antworten liefern. Denken wir an scheinbar ewig rätselhafte Kapitalverbrechen, die plötzlich mit modernsten DNA-Verfahren quasi wie im Flug aufgeklärt werden. Methoden, die vor Jahren noch undenkbar gewesen waren, haben in die Kriminalistik Einzug gehalten und beeindruckende Aufklärungspotentiale eröffnet. Die Konsequenz aus diesen Entwicklungen ist die Prävalenz des Sachbeweises. Das gilt gleichermaßen für die Untersuchung von Verkehrsunfällen, an denen Fahrzeuge und/oder Personen zu Schaden gekommen sind. Die Staatsanwaltschaften der Länder stellen in jedem Fall hohe Anforderungen an die Beweissicherung. Dies kommt auch in der PDV 100 zum Ausdruck, wenn in Ziffer 2.2.1 die Rede davon ist, dass „der Polizei Aufgaben und Befugnisse zu Ermittlungen im Strafverfahren6(Legalitätsprinzip) und im Ordnungswidrigkeitenverfahren (Opportunitätsprinzip) übertragen sind“. Qualität am Ereignis-/Tatort war schon immer unabdingbar, das gilt natürlich auch noch uneingeschränkt in der Gegenwart, z.B. beim Einsatz der klassischen Spurensicherungsmethoden. Die Nachrichten über plötzliche, spektakuläre Klärungen lange zurückliegender, ungelöster Fälle, sind beeindruckend, haben jedoch nichts mit Zauberei zu tun. Die ausgewerteten Spuren muss damals jemand professionell gesucht, gefunden, interpretiert, gesichert, verpackt, transportiert, dokumentiert und asserviert haben. Der nunmehr gelungene „Superspurentreffer“ muss aber Teil eines stimmigen Gesamtbildes im Gleichklang mit der gesamten Aktenlage sein. Was früher geleistet oder unterlassen wurde, muss gleichwohl ausreichen. Niemand kann später etwas nachjustieren, abgesehen von der Neubewertung der alten Spuren. Was für eine Genugtuung für die Kollegen, die den betreffenden Sachverhalt vielleicht vor vielen Jahren im „Ersten Angriff“ bearbeitet und schon alle Hoffnung auf Klärung aufgegeben hatten. Die kompetente Suche, die fachgerechte Sicherung, der schonende Transport von Spuren und Beweisgegenständen sind also Arbeitsschritte, bei denen es darauf ankommt, eine möglichst fehlerfreie, kompetente kriminalpolizeiliche Arbeit zu leisten. Die modernen Auswertemethoden sind zwar sehr erfolgversprechend, aber eben auch sensibler und anfälliger für Fehler. Exaktheit, Ordnung, handwerkliche Sicherheit, aber auch der unbedingte Aufklärungswille zählen zu den Tugenden, die – stärker denn je – unbedingt notwendig sind. Qualität ist zunehmend die Voraussetzung für gerichtsfähige Antworten auf jene Fragen, die der Tatort der polizeilichen Arbeit vorgibt. Nicht die Menge der Spuren und sonstiger Beweismittel ist entscheidend, sondern ihre individuelle Beweiskraft und deren folgerichtiges, überzeugendes Zusammenspiel.
2 Die Bedeutung des „Ersten Angriffs“ am Ereignis-/Tatort
Wie es den eingesetzten Kräften im „Ersten Angriff“ gelungen ist, dieses Zusammenspiel im konkreten Sachverhalt zu durchschauen und zu interpretieren, sollen sie später im Tatortbefundbericht beschreiben. Wesentliche inhaltliche Bestandteile sind die erhobenen objektiven und subjektiven Befunde. Im direkten Anschluss daran soll beschrieben werden welche Versionen zum Täter, Tatverlauf und weiteren kriminalistisch erforderlichen Fragen erarbeitet worden sind, welche mutmaßlichen Beweise die Tatortteams deshalb am Tatort gesichert haben, kurzum, was sie sich von ihnen erhoffen. Die spätere Vorgangsbearbeitung kann sich dann auf diese Ergebnisse stützen. Die Inaugenscheinnahme, Untersuchung, beweiskräftige Auswertung und Interpretation der gesicherten potentiellen Beweise hängen von dieser Basisarbeit ab. So können klare Entscheidungen ermöglicht werden. Je besser die Zuarbeit für den Gutachter, umso treffsicherer und unantastbarer kann er sein Ergebnis präsentieren. Der „Erste Angriff“ beschränkt sich aber nicht nur auf die kriminaltechnische Tatortarbeit. Er ist ein Komplex von Standardschritten. Die Suche nach Zeugen, Fahndung nach Tatverdächtigen, Anordnung erforderlicher und unaufschiebbarer körperlicher Untersuchungen sind weitere Kernaufgaben. Was dort übersehen, falsch beurteilt oder unterlassen worden ist, kann sich als schweres Ermittlungsdefizit durch die gesamte Sachbearbeitung ziehen. Der „Erste Angriff“ wird in den Sicherungsangriff und in den Auswertungsangriff unterteilt.7 Den Tatort zu sichern und erste wesentliche Feststellungen über den Tathergang zu treffen, ist für den sog. Sicherungsangriff kennzeichnend. Den gründlichen, „offiziellen“ Tatbefund zu erheben, zählt hingegen zum Auswertungsangriff. Im Grunde geht es also darum, zunächst den Ereignisort in seiner Beschaffenheit vor Veränderungen zu schützen.8 Das bedeutet auch, alle sich bietenden Chancen zur Aufhellung bzw. Aufklärung des Sachverhalts zu erkennen und zu nutzen, bevor sie unwiederbringlich verloren sind. Deshalb soll schon bei der Anfahrt auf tatbezogene Umstände geachtet werden. Eine wirksame Absperrung setzt voraus, dass bereits in dieser Phase ein relativ klares Bild davon besteht, was zum unmittelbaren Tat-/Ereignisort gehört und wie er umrissen ist. Bei Straftaten gehört auch der Weg, den die Täter wahrscheinlich genutzt haben, zum Tatort „im weiteren Sinne“. Darum sollten Beamte der Schutzpolizei sich nicht nur mit der Absperrung des wichtigsten Zugangsweges begnügen und auf die Kriminalpolizei warten, sondern sich möglichst sofort einen Überblick darüber verschaffen, wie der Täter den Tatort – zu Fuß oder gar motorisiert – erreicht und später wieder verlassen haben könnte. In der Folge sind Aktivitäten von unberechtigten Personen im abgesperrten Bereich zu unterbinden. Das Querstellen eines Einsatzfahrzeuges ist manchmal effektiv, in anderen Fällen kann es für eine Sperrung völlig ungeeignet sein. Die Absperrung ist also keine Alibimaßnahme, sondern ein unverzichtbarer Baustein für die Folgemaßnahmen. Über Notwendigkeit, Aufwand, Dauer, Umfang der Absperrung sollten die eingesetzten Beamten der Schutz- und Kriminalpolizei von Anfang an bewusst nachdenken und diesbezüglich eine klare Entscheidung treffen. Sie sollten den Tatort nur mit höchster Sensibilität betreten oder befahren. Intern wird gern über das „Spurenvernichtungskommando“ geflachst. Aufgabe der Absperrung ist es eben im besonderen Maße zu verhindern, dass unberechtigte, aber auch berechtigte Personen, den Tatort in schädlicher Weise verändern. Es ist z.B. wenig förderlich, wenn Einsatzfahrzeuge die Absperrung nicht eindeutig wahrnehmen und beim Eintreffen ahnungslos auf der Reifeneindruckspur des Tatfahrzeuges manövrieren. Kurz gesagt, der vorgefundene Zustand des Ereignisortes ist mit seinem Informationspotential für den Auswertungsangriff vor Veränderungen zu schützen und zu sichern. Das gilt für den Schutz von Spuren und Beweismitteln, aber auch für die Feststellung und Identifizierung von Zeugen einschließlich deren Erstbefragung. In dieser Phase können bereits die Fahndung nach den Tätern, Gefahrenabwehr- und Erste Hilfe-Maßnahmen für Verletzte auf Hochtouren laufen, was die Aufgabe nicht einfacher macht.
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