„Zurück ins Reich“

Die neonazististische Szene im Phänomenbereich Rechtsextremismus


Von Dr. Christian Herrmann, Lübeck1

 

1 Ideologische Grundlagen

 

Der Mord an dem Kommunalpolitiker Walter Lübcke und der Anschlag in Halle 2019 haben wiederholt die Aufmerksamkeit auf den Rechtsextremismus gelenkt: Pauschalisierend wird dabei häufig von einen scheinbar homogenen Phänomenbereich ausgegangen, an deren Spitze die Parteien stünden, die als „geistige Brandstifter“ wirkten. Diesem Bild muss aus sicherheitspolitischer Perspektive widersprochen werden. Die Gewalt geht in tatsächlicher Sicht von zwei Untergruppen des Phänomenbereichs Rechtsextremismus aus, die sich seit Jahren weitgehend unabhängig und nur noch mit stellenweisen Überschneidungen vom parteiförmigen Rechtsextremismus entwickeln: Dem subkulturellen Milieu, stärker aber noch dem Neonazismus. Dieser ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags, der von einer in den letzten Jahren spürbaren Erosion des 11.800 Anhänger umfassenden parteiförmigen Rechtsextremismus ausgeht: Unter Beobachtung des Bundesamtes für Verfassungsschutz finden sich noch die in den vergangenen Jahren stets unter Mitgliederschwund leidende NPD, der AfD (Verdachtsfall) sowie die Kleinstparteien „Freie Sachsen“ (Verdachtsfall) und „Neue Stärke Partei“.2 Zum parteiförmigen Rechtsextremismus zählen auch die Parteien „Der III. Weg“ und „DIE RECHTE“. Hierbei muss aber tatsächlich von neonazististischen Personenzusammenschlüssen ausgegangen werden;3 der Parteistatus wurde aus taktischer Sicht angestrebt, um ein Verbot aufgrund der hohen staatsrechtlichen Hürden praktisch auszuschließen.4

Stark an Bedeutung gewonnen hat das subkulturelle rechtsextremistische Milieu, insbesondere bei Demonstrationslagen aufgrund hoher Kampfsportaffinität (Schwerpunkt schwach beziehungsweise nicht regelbasiert Systeme wie MMA und militärischer Nahkampf). Schwach organisiert und von hoher personeller Fluktuation geprägt, stellt dieses Milieu dennoch eine nicht zu unterschätzende, schnell zu mobilisierende Kräftegruppierung dar.5

Am bedeutendsten scheint aus sicherheitspolitischer Sicht aber der Teilbereich „Neonazismus“. Hier handelt es sich um netzwerkartiges strukturiertes Personenpotenzial, welches hohe und gefestigte ideologische Überzeugungen mit hoher krimineller Energie vereint.

„Neonazismus“ wird nach dem Bundesamt für Verfassungsschutz wie folgt definiert: Der Neonationalsozialismus bezieht sich auf die Weltanschauung des „Dritten Reiches“ und macht diese zur Grundlage seiner politischen Zielvorstellungen. Elementare Bestandteile der neonationalsozialistischen Weltanschauung sind Nationalismus und Rassismus sowie die Forderung nach einem autoritären „Führerstaat“ unter Ausschaltung wesentlicher Elemente demokratischer Gewaltenteilung. Abgrenzungskriterien zum subkulturell geprägten Rechtsextremismus sind der bei Neonazi-Aktivisten stärker ausgeprägte Wille zur politischen Arbeit sowie eine intensivere Auseinandersetzung mit inhaltlichen Aspekten des Weltbildes.6

Der Schritt in den Rechtsterrorismus ist bereits in der Vergangenheit ab den 1970er-Jahren erfolgt7 und wird auch künftig mit hoher Wahrscheinlichkeit aus diesem Bereich erfolgen. Ein Beispiel hierfür ist Stephan Baillet, der rechtsterroristische Attentäter von Halle 2019, der zwei Menschen ermordete, nachdem sein Versuch, in ein jüdisches Gotteshaus einzudringen, gescheitert war.

 

 

2 Überblick und Strukturdaten


In der Bundesrepublik Deutschland werden dem Neonazismus ca. 8.500 Personen zugerechnet,8 womit dieser hinter das weitgehend unstrukturierten subkulturellen Milieu (Kampfsport, Hooliganismus und Musikszene) zurückfällt, welches 2021 15.000 Personen zählte.9 2021 zählten die Verfassungsschutzbehörden 38 (2020: 180) Demonstrationen aus dem neonazistischen Spektrum.10 Bei insgesamt 88 Demonstrationen (inkl. der eigentlich neonazistischen Vereinigungen DIE RECHTE und Der III.Weg) stellte dieser Einzelbereich des Phänomenbereichs PMK-rechts damit den Löwenanteil der – auch polizeilich sehr relevanten – Demonstrationslagen.

Im Folgenden sollen einige Fälle aus der polizeilichen und justiziellen Praxis dargestellt werden, um einen plastischen Eindruck vom „Neonazismus“ innerhalb des Gesamtphänomens Rechtsextremismus zu erhalten:

  • Am 28. Januar 2021 verurteilte das OLG Frankfurt am Main den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke zu lebenslanger Haft. Das Gericht befand den 47-jährigen hessischen Rechtsextremisten des Mordes für schuldig. Das Gericht stellte das Vorliegen der Mordmerkmale „Heimtücke“ und „niedrige Beweggründe“ fest, darüber hinaus die besondere Schwere der Schuld. Ein Mitangeklagter wurde vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen; er erhielt eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten (ausgesetzt zur Bewährung) wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz. Der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof (GBA), die beiden Nebenklägerparteien und die Verurteilten legten Revision ein, über die im Berichtszeitraum nicht entschieden wurde.
  • Mit zwei Urteilen des OLG Dresden am 4. Februar 2021 und am 18. März 2021 endeten die seit 2015 geführten Strafverfahren gegen Mitglieder der „Gruppe Freital“, die unter anderem wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB vom Generalbundesanwalt geführt worden waren. Sieben Angeklagte wurden zu Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und zweieinhalb Jahren verurteilt, die teils zur Bewährung ausgesetzt wurden. Die Urteile sind rechtskräftig. Die Mitglieder der „Gruppe Freital“ hatten sich im Sommer 2015 zusammengefunden, radikalisiert und in unterschiedlicher Personenkonstellation mehrere Sprengstoffanschläge auf Asylbewerberunterkünfte sowie Wohnungen, Büros und Fahrzeuge der politischen Gegenseite verübt.
  • Am 13. April 2021 eröffnete das OLG Stuttgart den Prozess gegen zwölf Angeklagte einer in den Medien als „Gruppe S.“ bezeichneten Gruppierung wegen des Verdachts der Bildung beziehungsweise Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gemäß § 129a StGB. Der „Gruppe S.“ wird vorgeworfen, die bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland mittels Angriffen auf Moscheen und der Tötung oder Verletzung einer möglichst großen Anzahl von dort anwesenden muslimischen Gläubigen erschüttern und letztendlich überwinden zu wollen. Hierzu habe sich die „Gruppe S.“ bereits um die Beschaffung von Schusswaffen bemüht.
  • Am 24. Juni 2021 verbot der Innenminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern die Neonazi-Vereinigung „Nationale Sozialisten Rostock“ (NSR) einschließlich ihrer Teilorganisation „Baltik Korps“ gemäß Artikel 9 Abs. 2 GG i.V.m. § 3 VereinsG.11 Die Gruppierung war – insbesondere im Internet – auch unter der Bezeichnung „Aktionsblog“ in Erscheinung getreten. Der Verein richtete sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung, lief nach Zweck und Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider und stand dem Gedanken der Völkerverständigung entgegen. Bei den NSR bzw. dem „Aktionsblog“ handelte es sich um einen langjährigen neonazistischen Personenzusammenschluss, der sich selbst als elitäre und aktionistische Gruppierung im Neonazi-Spektrum inszeniert hatte.
  • Wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a StGB, Bedrohung gemäß § 241 Absatz 1 StGB und weiterer Delikte verurteilte das OLG München am 30. Juli 2021 eine 56-jährige bayerische Rechtsextremistin zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe. Das Gericht folgte damit der Forderung der Bundesanwaltschaft und ordnete zudem Führungsaufsicht an. Das Gericht befand die Frau für schuldig, einen Anschlag auf Amtsträger und Menschen muslimischen Glaubens vorbereitet zu haben. Anleitung und Material zum Bau einer Benzinbombe hatte sie sich bereits beschafft. Zudem hatte die Frau zwischen Dezember 2019 und März 2020 insgesamt sechs Drohschreiben an Politiker, einen Moscheeverein sowie einen Flüchtlingshilfeverein verschickt. Das Urteil ist rechtskräftig.
  • Die Bundesanwaltschaft hat in den frühen Morgenstunden des 6. April 2022 auf Grundlage von Haftbefehlen des Ermittlungsrichters beim Bundesgerichtshof vier mutmaßliche Mitglieder einer rechtsextremistischen kriminellen Vereinigung festnehmen lassen. Die Festnahme der drei erstgenannten Personen erfolgte in Eisenach, die des letztgenannten Beschuldigten in Rotenburg a.d. Fulda. Zeitgleich mit den Festnahmen haben richterlich angeordnete Durchsuchungsmaßnahmen in derzeit 61 Objekten begonnen. Die Ermittlungsmaßnahmen dauern derzeit an und finden in elf Bundesländern – Thüringen, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Berlin, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Saarland und Baden-Württemberg – statt. Der örtliche Schwerpunkt liegt in Thüringen, insbesondere in Eisenach. Die Durchsuchungen richten sich auch gegen weitere 46 Beschuldigte.
  • Aufgrund von konkreten Erkenntnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz wurden seit September 2019 Ermittlungen gegen Mitglieder der „Atomwaffen Division Deutschland“ (AWDD), einer rechtsextremistischen terroristischen Vereinigung mit Ursprung in den USA, sowie gegen Mitglieder der terroristischen Vereinigung „Sonderkommando 1418“ (SKD 1418) geführt. Einer der Beschuldigten war der festgenommene Leon R., mutmaßlicher Gründer und Rädelsführer der kriminellen Vereinigung „Knockout 51“. Seine Kontakte zu einem anderen Beschuldigten führten zur Einleitung von Ermittlungen wegen des Verdachts des Verstoßes gegen das Verbot der Vereinigung „Combat 18 Deutschland“. Im Verlauf der Ermittlungen haben sich Anhaltspunkte für personelle Verbindungen von Beschuldigten in die rechtsextreme Kampfsport- und Musikszene ergeben.12
  • Die Ermittlungen, in die auch das Bundesamt für den Militärischen Abschirmdienst eingebunden war, wurden in enger Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt geführt. Für die Festnahmen und Durchsuchungsmaßnahmen sind über achthundert Polizeibeamte des BKA, der GSG9 der Bundespolizei, der LKÄ Bayern, Berlin, Baden-Württemberg, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein und Thüringen sowie Einsatzhundertschaften aus Nordrhein-Westfalen und Bayern im Einsatz.Die Bundesanwaltschaft hat am 1. Juni 2022 auf Grundlage eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 30. Mai 2022 ein mutmaßliches Mitglied einer rechtsextremistischen kriminellen Vereinigung festnehmen lassen.
  • Die Festnahme erfolgte in Röderaue (Sachsen). Zudem wurden Räumlichkeiten des Beschuldigten sowie weiterer drei Beschuldigter in Sachsen und Brandenburg durchsucht. Eingesetzt waren Beamte der sächsischen und brandenburgischen Polizei unter Führung der mit den Ermittlungen beauftragten Sonderkommission Rechtsextremismus (Soko Rex) des LKA Sachsen.
  • Die Beschuldigten sind der Gründung und/oder Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung verdächtig (§ 129 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 StGB). Gegen den festgenommenen Matthias B. besteht dringender Tatverdacht.
  • Alle Beschuldigten betätigten sich gemeinsam spätestens ab August 2018 mitgliedschaftlich in einer kriminellen Vereinigung. Der Zweck dieser Vereinigung war es, unter dem Dach des Verlags „Der Schelm“ eine nationalsozialistische und antisemitische Ideologie insbesondere durch den Verkauf entsprechender Bücher zu verbreiten und damit fortgesetzt Volksverhetzungsdelikte (§ 130 StGB) zu begehen. Über den Verlag vertrieben die Beschuldigten rechtsextremistische Schriften, vor allem Nachdrucke indizierter Werke. Sie nutzten dafür auch Lagerräume, in denen sie mehrere tausend im Ausland gedruckter Bücher mit strafrechtlich relevanten Inhalten vorrätig hielten. Matthias B. kam in der Vereinigung eine herausgehobene Funktion zu. Unter anderem bearbeitete er über das Internet eingegangene Bestellungen und wies andere Gruppenmitglieder zum Versand der Bücher an.13

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