Was wird gemessen, wenn „Islamfeindlichkeit“ gemessen wird?

Von Dr. Michail Logvinov

Das Islambild im historischen und sozialen Kontext


Ursachen für die pauschale Ablehnung des Islam und der Muslime lassen sich mit unterschiedlichen Ansätzen erklären. Sozialpsychologisch interpretiert, gehört die Abgrenzung der Eigengruppe im Vergleich zu Fremdgruppen bzw. zum Anderen zu einer der Konstanten gesellschaftlicher Identitätsstiftung. Daraus resultiert ein Autoimage, ein Bild des Eigenen, welchem ein Heteroimage, ein Bild des Anderen bzw. Fremden, gegenübersteht. Auf ethnische und/oder nationale Kollektive respektive Gruppen bezogen bedeutet dies, dass zwecks Distinktion im sozialen Raum entsprechende Merkmale und Unterscheidungskriterien herangezogen werden, um Gruppenkohäsion und -identität zu gewährleisten. Die Selbstkategorisierung der Gruppe in Abgrenzung zu anderen Kollektiven ist somit keine Pathologie, sondern eine sozialpsychologische Universalie.

Problematisch wirkt dieser Distinktionsmechanismus allerdings, wenn rassische, kulturelle, religiöse u. a. Unterscheidungsmerkmale mit antipluralistischen identitären Argumentationsmustern gerahmt werden, die dann zum Postulieren einer sozialen und politischen Interessenidentität in einer angestrebten homogenen Gesellschaft führen. Die Folge eines solchen Gesellschaftsbildes wäre nämlich vom Ideal einer offenen Gesellschaft weit entfernt und von der Stigmatisierung und/oder Bekämpfung der vom propagierten „Ideal“ Abweichenden geprägt.
Nehme man als Beispiel „den“ Westen oder besser Europa als Beschreibung einer solchen sozial-kulturellen Makro-Gruppe und -Identität, ließen sich in der Geschichte zahlreiche identitätsstiftende Interaktionen mit dem Islam ausmachen. Denn sowohl die europäische als auch die muslimische kulturelle Identität sind nicht unwesentlich von einer binären, durch Feindbilder belasteten, Grenzziehung zwischen der Umma und der Christianitas geprägt (Jonker 2012: 49). Christen betrachteten den Islam genealogisch als eine christliche Irrlehre. Eschatologisch wurde Muhammad als „Pseudoprophet“ dargestellt, vor dem die Evangelien warnen. Muslimische Eroberungen galten in der apokalyptischen Interpretation als Zeichen der Endzeit und als Wirken des Antichrist (Höfert 2010b: 62). Das Christentum galt bzw. gilt im Islam demgegenüber als überholt und als unvollkommene Religion, „die sich von der ursprünglichen Botschaft Jesu Christi, wie sie der Koran festlegt, eigenmächtig entfernt hat“ (Khoury 2010a: 261). An manchen Stellen des Koran wird es mit dem Unglauben gleichgesetzt (Bobzin 2010a: 200ff.). Somit stellte das theologische Programm des Islam „eine strukturelle theologische Demütigung“ für das Christentum dar. Das war einer „der inneren Gründe für die große propagandistische Anstrengung, welche im christliche Europa über viele Jahrhunderte hin zur Diffamierung des Islam und seines Propheten unternommen wurde“ (Naumann 2010b: 26).
Für die frühneuzeitliche Christenheit war die „Türkengefahr“ eines der herausragenden Themen (Höfert 2010b: 62). Infolge der europäischen Expansion veränderte sich jedoch die Perspektive: Politische, moralische sowie geschichtsphilosophische Zuschreibungen ersetzten theologische Vorurteile (Naumann 2010b: 30). Die muslimische Bevölkerung an den Rändern Europas stellte somit den Katalysator für die europäische Selbstwahrnehmung dar, wobei der Islam in der Gestalt von Arabern, Osmanen, Tataren oder Türken als Europas Antithese und „der gefährlichste Feind Europas“ empfunden wurde (Jonker 2012: 50). Es ließ sich in der historischen Entwicklung somit eine allgemeine Tendenz in beiden Religionsgemeinschaften beobachten – von der Toleranz zur Intoleranz, vom Gemeinsamen zum Trennenden (Khoury 2010a: 261). Auf der Meso-Ebene der nationalen Selbstbeschreibungen sind allerdings historisch bedingte Unterschiede sichtbar. Stellte doch für Italien und Spanien die Zugehörigkeit zur Pax Arabica einen Teil ihrer eigenen Geschichte dar, während andere Staaten weder historische Erfahrungen noch ein Interesse an der Abgrenzung von den andersgläubigen Nachbarn hatten (Jonker 2012: 49).
Auf der anderen Seite der mentalen Grenze scheinen historische Erinnerungen an die Kreuzzüge der Christenheit instrumentalisierbar zu sein. Sie werden auch noch im 21. Jahrhundert politisch berühmt, wenn es darum geht, Muslime als Opfer der westlichen Kriegstreiberei zur „Auslöschung des Islam“ darzustellen. Die „Kreuzzüge des Westens“ in Bosnien (sic), Afghanistan oder im Irak rahm(t)en sich in diese Erinnerungskultur ein.
Größtenteils geben die Muslime aus dem arabischen Raum „Menschen aus dem Westen“ die Schuld für die schlechten Beziehungen zwischen Abendland und Morgenland. Sie schreiben ihnen negative Eigenschaften zu: gewalttätig (66 %), unmoralisch (61 %), arrogant (57 %), fanatisch (53 %) (Pew Research Center 2011: 19). Der Westen gilt heutzutage vielerorts als ausbeuterische Kolonialmacht, deren Herrschaftsstreben durch den (pseudo-)demokratischen Interventionismus kaschiert ist. Muslime pflegen zudem ein Image der „christlich-abendländlichen Arroganz“ und nehmen sich als die „neuen Juden Europas“ wahr (Frindte 2013: 103). Es kann daher von der „Dialektik von Ausgrenzung und Selbstausgrenzung“ sowie „Viktimisierung und Selbstviktimisierung“ die Rede sein (Uslucan 2010a: 371ff).
Obwohl in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre die Existenz eines Feindbildes des Islam beklagt wird, waren die Deutschen lange Zeit immun gegen islambezogene Bedrohungsgefühle. Trotz der Anschläge vom 11. September 2001 ließ sich dieses Feindbild Anfang der 2000er Jahre empirisch nicht nachweisen. Deutschland wies zudem die kleinste Rate anti-muslimischer Übergriffe im westeuropäischen Vergleich auf (Seidel 2003: 266). Eine GMF-Erhebung aus dem Jahr 2003 kam zu dem Schluss, dass die Islamophobie keine besondere Ausprägung in Deutschland hatte.
„Insofern lässt sich auch die Behauptung von einem besonderen ‚Feindbild Islam‘, das aus unterschiedlichen Motiven zum Teil von bundesdeutschen Intellektuellen und zum Teil von islamischen bzw. islamistischen Gruppen beschworen wird, nicht bestätigen“, schlussfolgerten ihre Autoren und fügten prognostisch hinzu: „Es ist anzunehmen, dass weniger Terroranschläge das Klima besonders verschärfen werden, sondern vielmehr ungelöste und unthematisierte (Alltags-)Konflikte im sozialen Nahraum“ (Leibold & Kühnel 2003: 113).
Doch es kam anders. Nach dem heimtückischen Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh am 2. November 2004 änderte sich die Lage fundamental. Die Stimmung in Deutschland schlug in „moralische Panik“ um: „Über Nacht bestimmten neue Schlagworte die Agenda: Islam, Islamismus, […] Muslime, Parallelgesellschaften, Frauenunterdrückung, Nahost-Konflikt, das Ende der multikulturellen Gesellschaft, islamisierter Antisemitismus – alles wurde in einen Topf geworfen und der Islam und Islamismus zu einem ununterscheidbaren Brei zusammengerührt“ (Seidel 2008: 253).
Eine der Folgen war auch, dass in der medialen Berichterstattung „das Feld Islam, Islamismus und Einwanderer mit muslimischen Hintergrund neu vermessen“ und die Integrations- und Ausländerdebatte vermehrt „islamisiert“ wurde (ebd.). Die Unvereinbarkeit des Islam mit den westlichen Wertvorstellungen wird seitdem wieder und wieder debattiert, wobei es an den dazu Anlass gebenden Ereignissen nicht mangelt.

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