Islamistisch- terroristische Anschläge in Deutschland 2016

Eine Analyse ihrer Taktik und Akteure

Von Dr. Stefan Goertz, Lübeck1

Die zahlreichen geplanten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge innerhalb der letzten 24 Monate in Europa und Deutschland haben den Grad der Bedrohung verdeutlicht, die aktuell und zukünftig von Islamisten, Salafisten und islamistischen Terroristen für demokratische, westliche Staaten wie Deutschland ausgeht.

Dennoch besteht auch über 15 Jahre nach den historischen Anschlägen des 11.9.2001 immer noch ein eklatantes Analysevakuum im Phänomenbereich Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch innerhalb der Sicherheitsbehörden. Spätestens die zahlreichen in den Jahren 2016 und 2017 versuchten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union sollten bzw. müssen eine Zeitenwende der Betrachtung und Analyse des Phänomenbereiches islamistischer Terrorismus auslösen. Eine effektive Analyse des Phänomenbereiches Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus muss erkennen, dass dieser Phänomenbereich hoch komplex ist und Prioritäten zu setzen sind, auf welchen Analyseebenen wissenschaftliche Forschung, Sicherheitsbehörden und andere relevante Akteure diesen Phänomenbereich untersuchen müssen.

Folgende Analysefragen stehen im Mittelpunkt dieses Beitrages:

  • Radikalisierung:Warum und wie entfernen sich Menschen von demokratischen Prinzipien wie der Freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FdGO) und wenden Gewalt an, um religiös-politische Ziele zu erreichen? Die folgenden Radikalisierungsfaktoren werden sowohl von der internationalen psychologischen und sozialwissenschaftlichen Forschung als auch von europäischen Sicherheitsbehörden als entscheidend dafür identifiziert, warum und wie Extremisten und Terroristen entstehen.2
    • Die islamistische Ideologie
    • Der soziale Nahbereich, das islamistische Milieu
    • Islamistische Angebote des Internets
  • Akteursanalyse: Wer wird warum Islamist, Salafist und/oder islamistischer Terrorist?
  • Taktik und Mittel: Wie gehen Islamisten, Salafisten und islamistische Terroristen vor? Können (wiederkehrende) Muster identifiziert werden, aus denen dann Gegenmaßnahmen entwickelt werden können?


Im Folgenden werden vier islamistisch-terroristische Anschläge des Jahres 2016 in Deutschland untersucht, darunter in zwei Fällen internationale islamistische Akteure, Flüchtlinge und in zwei Fällen homegrown-Akteure des salafistischen Spektrums.3

1 Der salafistische Anschlag auf Bundespolizisten am 26.2.2016 im Hauptbahnhof Hannover

1.1 Die Taktik und die Mittel des salafistischen Akteurs

Am 26.2.2016 provozierte die Deutsch-Marokkanerin Safia S., eine 15 jährige Schülerin, durch ein – in der später folgenden Gerichtsverhandlung als auffällig beschriebenes Verhalten – eine Ausweiskontrolle im Bahnhof Hannover und sticht dabei mit einem Messer – in ihrem Rucksack führt sie ein weiteres Messer mit sich – einem jungen Bundespolizisten unvermittelt in den Hals.4 Der Bundespolizist bricht zusammen, die Verletzung ist lebensgefährlich, sein Streifenpartner überwältigt die Schülerin. Safia S. führt ein Gemüsemesser mit einer sechs Zentimeter langen Klinge und ein Steakmesser mit einer fünfzehn Zentimeter langen Klinge mit sich.

1.2 Der Radikalisierungshintergrund der Attentäterin

Im Laufe der Gerichtsverhandlung ergibt sich das Bild, dass Safia S. von ihrer Mutter streng religiös erzogen wurde und Safia S. sehr häufig den deutschsprachigen Islamkreis besuchte – eine Gemeinde in Hannover, die der niedersächsische Verfassungsschutz als extremistisch, salafistisch – einstuft. Bereits als Kind ist Safia in der salafistischen Szene durchaus bekannt, im Alter von sieben Jahren trifft sie – öffentlich dokumentiert – den bekannten Salafisten-Prediger Pierre Vogel. Verschiedene Youtube-Videos – zwischen 2008 und 2010 aufgenommen – zeigen die beiden in Moscheen, wie Safia, bereits in sehr jungen Jahren Kopftuch tragend, Koran-Verse rezitiert. Begeistert spricht Piere Vogel „das ist der Nachwuchs in Deutschland“; weiter kommentiert er ihr Auftreten mit den Worten „Ich hab voll die Gänsehaut bekommen.“5 Eines dieser Youtube Videos lautet „Pierre Vogel – Neuigkeiten von Safia aus Hannover“. Der Salafisten-Prediger Pierre Vogel fragt darin die neun Jahre alte Safia „Ziehst du jetzt schon die Hidschab an? Cool. Ich würde sagen, du machst heute den Vortrag, ich fahre wieder nach Hause.“ Dann schwärmt Vogel davon, dass es ja schon zwei Jahre alte Mädchen gebe, die sich vor dem Spiegel etwas über den Kopf werfen und dann stolz durch die Wohnung liefen. Er finde das toll, das Problem sei oft, sagt er, dass sich viele Mädchen bis zu ihrem 14. Lebensjahr westlich kleiden würden und stolz darauf wären, wenn sie mit offenen Haaren „tanzen wie Madonna“. „Aber hier haben wir das Gegenbeispiel“, sagt Vogel und zeigt auf Safia. „Und das ist die neue muslimische Generation“.6
In einem ersten Verhör nach ihrem Anschlag auf den jungen Bundespolizisten erklärt Safia S. – nach Beratung durch ihren Rechtsanwalt – dass die „Tat spontan“ gewesen sei. Die Auswertung der Protokolle ihrer Chats und E-Mails durch die Bundesanwaltschaft allerdings kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. So schreibt Safia in einem Chat vom 14.11.2015, ein Tag nach den islamistischen Terroranschlägen in Paris, bei denen 130 Menschen getötet und über 350 Menschen (schwer) verletzt werden „Gestern war mein Lieblingstag, Allah segne unsere Löwen, die gestern in Paris im Einsatz waren.“7
Die Bundesanwaltschaft wertet ihren Chatbeitrag als Sympathiebekundung für den „Islamischen Staat“ und damit für den internationalen islamistischen Terrorismus. Nur zwei Monate später, Ende Januar 2016, reist Safia S., eine 15 jährige in Hannover aufgewachsene Schülerin in die Türkei. In Chats deutet sie an, dass sie nach Syrien zum IS ausreisen möchte. Doch ihre Mutter reist ihr nach und holt sie zurück nach Hannover. In Chats mit einem Freund in Norddeutschland, Mohammed Hassan K., berichtet Safia S. von ihrer „Planänderung“. Sie komme zurück ins „Ungläubigen-Gebiet“, weil man ihr gesagt habe, das hätte „größeren Nutzen“.8 Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, dass Safia während des Aufenthalts in der Türkei von Mittelsmännern des IS mit einer „Märtyreroperation“ in Deutschland beauftragt wurde. Zurück in Deutschland bleibt Safia S. mit einigen Mitgliedern des IS über Chats im Kontakt, kurz vor ihrem Anschlag auf den Bundespolizisten am 26.2.2016 chattet sie mit „Leyla“, einem Mitglied des IS, bekommt von ihr erklärt, wie sie einen Polizeibeamten unter einem Vorwand in eine Ecke des Bahnhofs locken und zustechen, seine Pistole entwenden und schießen soll.9 „Ich werde die Ungläubigen überraschen, wenn du verstehst, was ich meine“, schrieb sie in einem Chat. Auch von einem Angriff auf Polizisten ist die Rede, sie wolle „an seinem Hals spielen“, heißt es.
Am 25. Februar 2016, einen Tag vor der Tat, soll Safia ihrem IS-Kontakt ein Bekennervideo geschickt haben. Die Bundesstaatsanwaltschaft geht davon aus, dass Safia S. den Polizisten „als Repräsentanten der von ihr verhassten Bundesrepublik“ töten wollte.10
In der Gerichtsverhandlung fordert die Bundesanwaltschaft wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung sowie Unterstützung der islamistisch-terroristischen Organisation IS sechs Jahre Haft für die Attentäterin. Der Strafverteidiger von Safia S., Mutlu Günal fordert eine „milde Strafe“, nennt aber kein konkretes Strafmaß.
Das Oberlandesgericht Celle verurteilt Safia S. wegen versuchten Mordes und der Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung zu sechs Jahren Haft, da sie die islamistisch-terroristische Organisation IS habe unterstützen wollen. Die Verbindung der Angeklagten zum IS war nach Einschätzung des Gerichts unter anderem durch Chats auf ihrem Mobiltelefon belegt.
Der Strafverteidiger von Safia S., Mutlu Günal, bezeichnete das Urteil als „zu hart“ und legte Revision ein. Seiner Ansicht nach „liegt das eigentliche Versagen bei der Polizei in Hannover. Wenn alle aufgepasst hätten, hätte die Tat verhindert werden können.“ Günal sah weder eine Tötungsabsicht noch die Unterstützung der Terrormiliz IS für erwiesen an und erklärt, dass sich Safia S. „lediglich der gefährlichen Körperverletzung schuldig gemacht“ habe. Nach der Urteilsverkündung erklärte er, er werde in Revision gehen.11 Einen mitangeklagten Freund von Safia S., den Deutsch-Syrer Hassan K., verurteilt das Gericht wegen Nichtanzeigens einer Straftat zu einer Jugendhaft von zwei Jahren und sechs Monaten, da der heute 20-Jährige wusste, dass Safia S. ein Attentat plante und den IS unterstützen wollte.

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