Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

§ 142 StGB – Unerlaubtes Entfernen vom Internet. Das Entfernen nicht vom Unfallort selbst, sondern von einem anderen Ort, an welchem der Täter erstmals vom Unfall erfahren hat, erfüllt nicht § 142 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Auch eine Strafbarkeit nach § 142 Abs. 2 Nr. 2 StGB scheidet aus, da das unvorsätzliche Verlassen des Unfallorts nicht erfasst wird. (BGH, Beschl. v. 15.11.2010 – 4 StR 413/10)

Dirk Weingarten
Polizeihauptkommissar & Ass. jur.
Polizeiakademie Hessen

§ 146 StGB – Geldfälschung; Grenzen der Gewerbsmäßigkeit von Geldfälschungshandlungen bei mehraktigem Inververkehrbringen. Gewerbsmäßig handelt, wer sich durch wiederholte Tatbegehung eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle von einigem Umfang und einiger Dauer verschaffen will. Ein Täter handelt nicht gewerbsmäßig im Sinne des § 146 Abs. 1 Nr. 2 und 3, Abs. 2 StGB, wenn er sich eine Falschgeldmenge in einem Akt verschafft hat und diese Menge dann plangemäß in mehreren Teilakten in Verkehr bringt. (BGH, Beschl. v. 02.02.2011 – 2 StR 511/10)

§ 176a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 StGB – Schwerer sexueller Missbrauch eines Kindes. Die Rückfallklausel des § 176a Abs. 1 StGB setzt voraus, dass die Wiederholungstat nach einer einschlägigen rechtskräftigen Vorverurteilung begangen worden ist. Ohne Bedeutung ist hierbei der Zeitpunkt der letzten Tatsachenverhandlung. Die Verletzung sowohl des § 176a Abs. 1 als auch des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB stehen zueinander in Tateinheit. Bei § 176a Abs. 1 und 2 StGB handelt es sich um unterschiedliche, jeweils auf der Verwirklichung des Grundtatbestands des § 176 StGB aufbauende Qualifikationen. Die Strafverschärfungen in Abs. 1
und Abs. 2 betreffen jeweils unterschiedliche Unrechtsaspekte, welche die Handlung zum Verbrechen aufwerten. Abs. 1 qualifiziert Wiederholungstaten zum Verbrechen, Abs. 2 Nr. 1 besonders erhebliche sexuellen Handlungen, die durch ihre Intensität das sexuelle Selbstbestimmungsrecht in hohem Maße berühren. Der Tatbestand des 176a Abs. 1 wird durch den Tatbestand des § 176a Abs. 2 StGB nicht verdrängt. (BGH, Beschl. v. 18.05.2010 – 4 StR 139/10)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB – Gefährliche Körperverletzung; Straßenschuh als gefährliches Werkzeug und Überraschungsmoment als hinterlistiger Überfall. Ob der Schuh am Fuß des Täters als ein gefährliches Werkzeug anzusehen ist, kommt auf die Umstände des Einzelfalles an. Unter anderem auf die Beschaffenheit des Schuhes sowie auf die Frage, mit welcher Heftigkeit und gegen welchen Körperteil mit dem beschuhten Fuß getreten wird. Ein Straßenschuh von üblicher Beschaffenheit oder ein fester Turnschuhe sind regelmäßig als gefährliches Werkzeug anzusehen, wenn damit einem Menschen gegen den Kopf getreten wird, erst Recht für Tritte in das Gesicht des Opfers. Ein Überfall ist nicht schon dann hinterlistig, wenn der Täter für den Angriff auf das Opfer nur ein Überraschungsmoment ausnutzt. Erforderlich ist vielmehr, dass der Täter planmäßig in einer auf Verdeckung der wahren Absicht berechneten Weise vorgeht, um dadurch dem Gegner die Abwehr des nicht erwarteten Angriffs zu erschweren und die Vorbereitung auf seine Verteidigung nach Möglichkeit auszuschließen. (BGH; Urt. v. 15.09.2010 – 2 StR 395/10)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB – Gefährliche Körperverletzung; lebensgefährdende Behandlung durch Würgen. Festes Würgen am Hals kann zwar geeignet sein, eine Lebensgefährdung herbeizuführen; es reicht hierfür jedoch nicht jeder Griff an den Hals aus, der zu würgemalähnlichen Druckmerkmalen oder Hämatomen führt. Von maßgeblicher Bedeutung sind vielmehr Dauer und Stärke der Einwirkung, die zwar nicht dazu führen muss, dass das Opfer der Körperverletzung tatsächlich in Lebensgefahr gerät, aber zur abstrakten Lebensgefährdung geeignet sein muss. (BGH; Beschl. v. 28.09.2010 – 4 StR 442/10)

§§ 234, 30 Abs. 2 StGB – Aussetzen in hilfloser Lage; Verabredung zum Totschlag. Beim Aussetzen in hilfloser Lage muss es dem Täter darauf ankommen, das Opfer in eine Lage zu bringen, in der es, zur Selbsthilfe unfähig, auf fremde Hilfe angewiesen und konkret an Leib oder Leben gefährdet ist. Der Tatbestand des § 30 Abs. 2 StGB ist auch dann erfüllt, wenn die Teilnehmer an der Verabredung mehrere Begehungsmöglichkeiten ins Auge fassen und in ihren Willen aufnehmen, jedoch nur eine von ihnen ein Verbrechen ist. BGH; Beschl. v. 27.04.2010 – 1 StR 153/10)

§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB – Gefährliches Werkzeug; Legen eines Kunststoffbandes um den Hals des Opfers. Ein gefährliches Werkzeug im Sinne dieses Qualifikationstatbestandes § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB wird nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nicht nur dann benutzt, wenn der Täter ein generell gefährliches Tatmittel einsetzt, sondern auch, wenn sich die objektive Gefährlichkeit eines an sich ungefährlichen (neutralen) Gegenstandes erst aus seiner konkreten Verwendung ergibt, weil diese geeignet ist, erhebliche Verletzungen zuzufügen; die Gefährlichkeit kann sich gerade daraus ergeben, dass ein Gegenstand bestimmungswidrig gebraucht wird. (BGH; Urt. v. 05.08.2010 - 3 StR 190/10)

§ 263 StGB – Betrug durch „Abo-Fallen„ im Internet; Vorliegen einer konkludenten Täuschung durch Webseitenbetreiber über die Entgeltlichkeit seines Angebots. Eine Täuschungshandlung im Sinne des § 263 StGB ist jede Einwirkung des Täters auf die Vorstellung des Getäuschten, welche objektiv geeignet und subjektiv bestimmt ist, beim Adressaten eine Fehlvorstellung über tatsächliche Umstände hervorzurufen. Dabei kann die Täuschung außer durch bewusst unwahre Behauptungen auch konkludent durch irreführendes Verhalten, das nach der Verkehrsanschauung als stillschweigende Erklärung zu verstehen ist, erfolgen. Davon ist auszugehen, wenn der Täter die Unwahrheit zwar nicht ausdrücklich erklärt, sie aber durch sein Verhalten mit äußert. Auf einer Internetseite ist ein hinreichend deutlicher Hinweis auf die Entgeltlichkeit des fraglichen Angebots nur zu bejahen, wenn diese Information für den Nutzer bereits bei Aufruf der Seite erkennbar ist und im örtlichen und inhaltlichen Zusammenhang mit den Angaben, die sich auf die angebotene Leistung direkt beziehen, steht. Genügt der Hinweis auf die Entgeltlichkeit einer Leistung nicht diesen Anforderungen, ist ein konkludentes Miterklären der Unentgeltlichkeit trotz verdeckter Hinweise auf eine Kostenpflichtigkeit zu bejahen, wenn sich aus dem Gesamteindruck der Webseitengestaltung eine Kostenfreiheit ergibt. (OLG FFM, Beschl. v. 17.12.2010 – 1 Ws 29/09)

§ 306a Abs. 1 Nr. 3 StGB – Ladengalerie eines Einkaufszentrums als Tatobjekt. Der Tatbestand des § 306a Abs. 1 Nr. 3 StGB kann auch dann erfüllt sein, wenn ein einheitliches zusammenhängendes Gebäude nur zu einem Teil Räumlichkeiten enthält, die zum zeitweisen Aufenthalt von Menschen dienen. Ausschlaggebend für die "Einheitlichkeit" des Gebäudes ist allein seine bauliche Beschaffenheit. Insoweit genügt es nicht, wenn eine Räumlichkeit "angebaut" ist, unmittelbar angrenzt oder sich in räumlicher Nähe befindet. Erforderlich ist insbesondere, dass zwischen den verschiedenen Gebäudeteilen eine Verbindung besteht, beispielsweise durch ein gemeinsames Treppenhaus, einen gemeinsamen Flur oder ineinander übergehende Räume. Gegen ein einheitliches Gebäude kann das Vorhandensein einer Brandmauer, besonderer sonstiger Brandschutzvorrichtungen oder einer nur ausnahmsweise, unter Beseitigung besonderer Schutzvorrichtungen benutzbaren Verbindung sprechen. (BGH, Beschl. v. 15.09.2010 – 2 StR 236/10)

§§ 306a Abs. 2, 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB – Gebäudebegriff bei gesundheitsgefährdender Brandstiftung. Ist das betroffene "Gebäude" zugleich ein "Wohngebäude", wie es der insoweit enger gefasste § 306a Abs. 1 StGB als Brandstiftungsobjekt voraussetzt, dann müssen zur Vollendung des Auffangtatbestands nicht notwendigerweise auch Wohnräume von der teilweisen Zerstörung durch Brandlegung betroffen sein. Es genügt, wenn ein anderer funktionaler Gebäudeteil, etwa ein Kellerraum, für nicht unerhebliche Zeit nicht bestimmungsgemäß gebraucht werden kann, sofern durch die typischen Folgen der Brandlegung, wie Rauch- und Rußentwicklung, auch eine konkrete Gefährdung der Gesundheit verursacht wird. (BGH; Urt. v. 17.11.2010 – 2 StR 399/10)

II. Prozessuales Strafrecht

§ 81a Abs. 2 StPO – Einwiligung des Beschuldigten in die Blutentnahme. Willigt der Beschuldigte in die Blutentnahme ein, so bedarf es keiner Anordnung nach § 81a Abs. 2 StPO. Er muss die Sachlage und sein Weigerungsrecht kennen und muss die Einwilligung ausdrücklich und eindeutig aus freiem Entschluss erklären. Dies liegt vor, wenn der Beschuldigte nach entsprechender Belehrung durch die Polizei eine eindeutige Einverständniserklärung ausdrücklich und aus freiem Entschluss abgibt. Zum Zeitpunkt der Abgabe der Einwilligung genügt eine Verstandesreife, die Tragweite der Einwilligungserklärung zu erkennen. Die Grenze, bei der deutliche Beeinträchtigungen in der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit angenommen werden, liegt bei etwa 2 Promille Blutalkohol. Bei einem BAK von 1,23 Promille ist ohne Hinzutreten deutlicher Ausfallerscheinungen somit von der Einwilligungsfähigkeit auszugehen. (OLG Hamm; Beschl. v. 02.11.2010 – 3 RVs 93/10)

§§ 102, 105 StPO Annahme eines ausreichenden Tatverdachts für Wohnungsdurchsuchung. Bloße Vermutungen eines Verstoßes gegen das BtMG rechtfertigen den schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte persönliche Lebenssphäre in Form einer Wohnungsdurchsuchung nicht. Eine Durchsuchung darf nicht der Ermittlung von Tatsachen dienen, die zur Begründung eines Verdachts erforderlich sind; denn sie setzt einen Verdacht bereits voraus. (BVerfG; Beschl. v. 11.06.2010 – 2 BvR 3044/09)

III. Sonstiges

Verwertbarkeit illegal erlangter Steuerdaten aus Liechtenstein.
Steuerdaten (hier: Steuer-CD), welche durch Privatpersonen im Ausland rechtswidrig erlangt wurden, dürfen grundsätzlich sowohl zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens als auch zur Anordnung der Durchsuchung der Wohnung des Beschuldigten herangezogen werden. Von Verfassungs wegen besteht ein Beweisverwertungsverbot aber zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer acht gelassen worden sind. (BVerfG; Beschl. v. 09.11.2010 – 2 BvR 2101/09)

Strafprozessuale Zwangsmaßnahmen in der Verteidigungssphäre. In einem Folgebeitrag in Der Strafverteidiger Nr. 03/2011 S. 180 – 188 und Nr. 04/2011 S. 252 – 260 stellen Prof. Dr. W. Beulke und Rechtsanwalt Dr. F. Ruhmannseder strafprozessuale Zwangsmaßnahmen dar. Dabei werden Möglichkeiten und Grenzen einiger Ermittlungsmaßnahmen aufgezeigt. So etwa die der Durchsuchung und Beschlagnahme, Überwachung der Telekommunikation und des nicht öffentlich gesprochenen Wortes, sonstige besondere für Observationszwecke bestimmte technische Mittel, Einsatz verdeckter Ermittler und Ausforschung des Verteidiger-Mandanten-Verhältnisses durch Vernehmung des Mandanten als Zeugen.Kriminalistische List im Ermittlungsverfahren. Prof. Dr. M. Soiné stellt in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht, Ausgabe 11/2010, sehr anschaulich die Zulässigkeitsgrenzen von Ermittlungsbefugnissen anhand von Beispielen dar. Die Ausführungen basieren auf der Grundlage des Rechts auf ein faires Verfahren, des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit und des Täuschungsverbotes im Sinne des § 136a StPO. Beachtung finden Maßnahmen, die ihren Ausgangspunkt in spezialgesetzlichen Eingriffsermächtigungen oder in der strafprozessualen Ermittlungsgeneralklausel (§ 163 Abs. 1 S. 2 StPO) haben.