Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

§ 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Akustische Wahrnehmbarkeit der Tathandlung. § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB – Sexuelle Nötigung; hier: Verwenden eines gefährlichen Werkzeuges zur eigenen Luststeigerung. § 306 Abs. 1 Nr. 1, § 306a Abs. 1 Nr. 1, § 22 StGB – Versuchte (schwere) Brandstiftung; hier: In Brand setzen eines Gebäudes; Vorstellungsbild vom möglichen Brandverlauf. (...)

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur., Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

§ 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Kindern; hier: Akustische Wahrnehmbarkeit der Tathandlung. Der Angeklagte (A.) stand nach einer früheren Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern und anschließender Strafverbüßung seit 2008 unter Führungsaufsicht. Im August 2010 wurde ihm die Weisung erteilt, telefonischen Kontakt zu Personen unter 18 Jahren zu unterlassen. Der A. hielt gezielt nach Zeitungsinseraten Ausschau, aus denen sich ergab, in welchem Haushalt Mädchen unter 14 Jahren lebten. Dabei stieß er im November 2010 auf die von der Mutter der späteren Geschädigten in Auftrag gegebene Anzeige zum Verkauf von Mädchenkleidung. Er wählte erstmals die in der Anzeige genannte Festnetznummer. Wie von ihm erhofft, nahm die Tochter das Telefonat entgegen. A. begann geräuschvoll zu onanieren und fragte das Mädchen, ob sie es auch hören könne und es ihr gefalle. Tatsächlich nahm das Mädchen die Geräusche wahr. Der Ablauf des Telefonats diente seiner sexuellen Befriedigung, die er durch das Zuhören einer weiblichen Person am Telefon erlangte. Solche Anrufe bei der Familie wiederholte er über zwei Monate bei 23 Gelegenheiten. Legte das Opfer auf, bevor A. zu seiner sexuellen Befriedigung gelangt war, rief er sofort wieder an, gegebenenfalls auch mehrmals hintereinander. Das Opfer nahm auf diese Weise 40 Telefonate entgegen. Der A. ging davon aus, dass das Mädchen noch ein Kind sei. Das Gespräch mit kindlichen Mädchen war ihm auch deswegen lieber, da sie nach seiner Erfahrung länger am Apparat blieben als reifere Mädchen oder Frauen und er sich so größere Chancen ausrechnete, noch während des Telefonats einen Orgasmus zu erleben. Das Opfer war tatsächlich 14 Jahre alt.
Es ist zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB ausreichend, dass die sexuelle Handlung von dem Kind zeitgleich akustisch wahrgenommen wird. Anhaltspunkte dafür, die tatbestandsmäßige Wahrnehmung auf eine optische zu beschränken, ergeben sich weder aus dem Wortlaut der Vorschrift noch lassen sie sich aus einer teleologischen Auslegung gewinnen. (BGH, Beschl. v. 21.10.2014 – 1 StR 79/14)

§ 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB – Sexuelle Nötigung; hier: Verwenden eines gefährlichen Werkzeuges zur eigenen Luststeigerung. Der Angeklagte (A.) holte ein Jagdmesser aus der Schreibtischschublade und demonstrierte der bereits früher wiederholt ohne Einsatz eines gefährlichen Werkzeugs zum Oralverkehr genötigten Geschädigten dessen Schärfe durch Zerschneiden eines Papierstückes. Dann zog er die Messerspitze von der rechten Kopfseite aus über ihren Hals bis zur Brust über ihre Haut, ohne sie zu verletzen. Er wolle dadurch bei ihr Todesangst hervorrufen und für sich ein Lustgefühl erzeugen, bevor er die Geschädigte erneut durch Ergreifen mit der Hand zum Oralverkehr nötigte.
Die zur Erfüllung des Qualifikationstatbestands genügende abstrakte Gefahr erheblicher Verletzungen war auch bei einem zurückhaltenden Einsatz unmittelbar an Kopf, Hals und Brust der Geschädigten gegeben. Zur Verwirklichung des Tatbestands des Verwenden eines gefährlichen Werkzeugs bei einer sexuellen Nötigung reicht es aus, wenn der Täter das Werkzeug ohne Nötigungskomponente, sondern allein zur eigenen Luststeigerung im unmittelbaren Zusammenhang mit dem sexuellen Geschehen gegen das Tatopfer einsetzt. (BGH, Beschl. v. 15.04.2014 – 2 StR 545/13)

§ 306 Abs. 1 Nr. 1, § 306a Abs. 1 Nr. 1, § 22 StGB – Versuchte (schwere) Brandstiftung; hier: In Brand setzen eines Gebäudes; Vorstellungsbild vom möglichen Brandverlauf. Der Angeklagte (A.), seine Ehefrau und Sohn bezogen ein angemietetes renoviertes Einfamilienhaus in O. Er bevorzugte jedoch ein anderes Haus und stimmte der Anmietung nur seiner Ehefrau zuliebe zu. Als die Heizung ausfiel, zog die Familie vorübergehend zu den Schwiegereltern des A., dieser erhielt jedoch keinen Schlüssel; er war häufig auf Einlass angewiesen. Nach zwei Monaten begab sich A. allein in das Haus in O., weil er dort Verdünner gelagert hatte, den er brauchte. Dort angekommen, musste er feststellen, dass seine Ehefrau sämtliche Innentüren des Hauses abgeschlossen und die Schlüssel mitgenommen hatte. Darüber geriet der A. in Wut, weil er sich kontrolliert fühlte. Dergestalt verärgert brach er die Innentüren auf. Als er sah, was er angerichtet hatte, kam ihm die Idee, einen Einbruch vorzutäuschen. Zu diesem Zweck nahm er mehrere Elektrogeräte, lud sie in sein Fahrzeug und entsorgte sie später auf einer Müllkippe.
Immer noch sehr aufgebracht ging er mit dem Verdünner in das neben dem Heizungsraum gelegene Schlafzimmer. Er setzte sich zunächst auf das Bett und dachte an seine unglückliche Situation; in dieser Lage nahm er den Verdünner, verschüttete die Flüssigkeit neben dem Bett auf dem Fußboden und zündete sie mit einem Feuerzeug an. Es kam zu einer ca. einen Meter hohen Stichflamme, die den A. sehr erschreckte. Er erkannte, dass der Brand sich weiter ausbreiten konnte; er wollte jedoch nicht, dass das Haus abbrannte, in dem sich seine Firmenunterlagen und der gesamte Hausrat befanden. Er nahm deshalb eine Decke und versuchte damit, die Flamme zu ersticken. Als er meinte, dies erreicht zu haben, verließ er das Haus und fuhr zu seiner Familie. Tatsächlich waren seine Löschungsbemühungen jedoch nicht erfolgreich; zunächst geriet das Bett und später das gesamte Schlafzimmer in Brand. Das Fenster zerbarst, der Putz sprang ab, die Möbel und die Schlafzimmertür verbrannten. Das gesamte Haus war innen vollständig verrußt und unbewohnbar; die Renovierungskosten beliefen sich auf circa 100.000 €.
In Brand gesetzt ist ein Gebäude, wenn es so vom Feuer erfasst ist, dass es selbständig ohne Fortwirken des Zündstoffs weiterbrennt, wobei es erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass sich der Brand auf Teile des Gebäudes ausbreiten kann, die für dessen bestimmungsgemäßen Gebrauch von wesentlicher Bedeutung sind. Zu den wesentlichen Bestandteilen eines Gebäudes können insbesondere auch die Fußböden zählen. Maßgeblich dafür, ob der A. durch das vorsätzliche („bewusst und gewollt“) Anzünden des Verdünners gemäß § 22 StGB zu einer schweren (§ 306a Abs. 1 Nr. 1 StGB) oder – sollte die Bestimmung des Hauses zu Wohnzwecken durch den zeitweiligen Auszug des Angeklagten und seiner Familie aufgehoben gewesen sein – einfachen Brandstiftung (§ 306 Abs. 1 Nr. 1 StGB) unmittelbar ansetzte, ist daher, ob er in diesem Moment zumindest für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, dass sich die Flammen auf wesentliche Gebäudeteile im dargestellten Sinne ausbreiten und diese ohne Fortwirken des Verdünners selbständig weiterbrennen könnten. (BGH, Urt. v. 10.07.2014 – 3 StR 210/14)


II. Prozessuales Strafrecht


§§ 94, 102 StPO – Beschlagnahme und Durchsuchung bei Anfangsverdacht; hier: Fall „Edathy“. Mit Beschluss ordnete das AG die Durchsuchung der Wohnung, eines Nebenwohnsitzes sowie zweier Bürgerbüros des Beschwerdeführers (B.) an, da zu vermuten sei, dass die Durchsuchung zur Auffindung von näher bezeichneten Beweismitteln führen werde. Aufgrund der dem B. zugeordneten kostenpflichtigen Film- und Fotosets mit Nacktaufnahmen von Minderjährigen sei auch bei Einordnung des Materials als strafrechtlich irrelevant ein Anfangsverdacht dafür gegeben, dass er sich wegen des Besitzes kinderpornografischer Schriften strafbar gemacht habe. Die von ihm mutmaßlich bestellten Produkte zeigten zwar keine sexuellen Handlungen, wohl aber unbekleidete Kinder und Jugendliche einschließlich gezielter Darstellungen ihres Genitalbereiches. Dies spreche für eine pädophile Neigung und, aufgrund kriminalistischer Erfahrung aus einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle, dafür, dass dieser auch strafrechtlich relevantes Material besitze. Zudem bedürfe es noch einer abschließenden Bewertung, ob nicht bereits einzelne Bilder des dem B. zugeordneten Materials dem Begriff der Kinderpornografie unterfielen. (BVerfG, Nichtannahmebeschluss v. 15.08.2014 – 2 BvR 969/14)

§§ 102, 105 Abs. 1 StPO – Anordnung von Durchsuchung; hier: Eilkompetenz endet mit Befassung des zuständigen Richters. Drei ähnliche Fälle wurden entschieden. Im Ausgangsverfahren teilte ein A. der Polizei gegen 16:30 Uhr mit, der Beschwerdeführer sei im Besitz einer Pistole und dessen Mutter habe gedroht, den A. umbringen zu lassen. Der gegen 17:25 Uhr telefonisch erreichte Ermittlungsrichter erklärte, ohne Vorlage einer Ermittlungsakte keine Entscheidung über die beantragte Durchsuchungsanordnung treffen zu können. Daraufhin ordnete die Staatsanwaltschaft die Durchsuchung aufgrund der akuten Bedrohungslage für den A. um 17:30 Uhr selbst an.
Im zweiten Verfahren wurde die Polizei gegen 13:43 Uhr informiert, dass die Beschwerdeführerin in einem Internetcafé ein Selbstbezichtigungsschreiben für einen geplanten Brandanschlag auf Kraftfahrzeuge von Postdienstleistern verfasst habe. Der zuständige Ermittlungsrichter konnte nicht erreicht werden; sein Vertreter erklärte um 16:42 Uhr telefonisch, er könne ohne Vorlage der Ermittlungsakte keine Entscheidung über die beantragte Durchsuchungsanordnung treffen. Die Staatsanwaltschaft ordnete um 16:50 Uhr die Durchsuchung selbst an, da die Erstellung und Übersendung der angeforderten Akte aus ihrer Sicht etwa zweieinhalb Stunden gedauert hätte, die Beschwerdeführerin in der Zwischenzeit aber die Gelegenheit gehabt hätte, in ihre Wohnung zurückzukehren.
Im dritten Fall leitete die Staatsanwaltschaft (STA) ein Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer ein, weil dieser verdächtig sei, gegen das Verbot des Inverkehrbringens nicht zugelassener Arzneimittel verstoßen zu haben. Aufgrund eines Zeitungsartikels, durch den der Beschwerdeführer von dem Ermittlungsverfahren hätte erfahren können, beantragte die STA eine Durchsuchungsanordnung. Der zuständige Ermittlungsrichter erklärte, dass er ohne Ermittlungsakte nicht entscheiden könne und zudem gleich in eine Haftvorführung müsse; daher liege ein Fall von „Gefahr im Verzug“ vor. Daraufhin ordnete die STA die Durchsuchung selbst an.
Das BVerfG hat drei Verfassungsbeschwerden gegen die gerichtliche Bestätigung von staatsanwaltschaftlichen Durchsuchungsanordnungen stattgegeben und entschieden, dass die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden für die Anordnung einer Durchsuchung mit der Befassung des zuständigen Ermittlungs- oder Eilrichters und der dadurch eröffneten Möglichkeit präventiven Grundrechtsschutzes endet. Die Eilkompetenz der Ermittlungsbehörden lebe nicht dadurch wieder auf, dass der mit der Sache befasste Richter nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums entscheidet. Sie könne nur dann erneut begründet werden, wenn nachträglich eintretende oder bekannt werdende neue Tatsachen die Annahme von Gefahr im Verzug rechtfertigen. Dem Staat obliege es, eine effektive Durchsetzung des grundrechtssichernden Richtervorbehalts zu gewährleisten, insbesondere durch angemessene sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte. (BVerfG, Entsch. v. 16.06.2015 – 2 BvR 2718/10, 2 BvR 1849/11, 2 BvR 2808/11)

§ 243 Abs. 4 S. 1 StPO – Beginn und Gang der Hauptverhandlung; hier: Notwendigkeit einer sog. Negativmitteilung. Das BVerfG hat entschieden, dass das Gericht in einem Strafverfahren zu Beginn der Hauptverhandlung ausdrücklich auch mitteilen muss, dass kein Verständigungsgespräch („Negativmitteilung“) stattgefunden habe. Es hob zwei Revisionsentscheidungen des BGH auf wegen Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG). Der § 243 Abs. 4 S. 1 StPO („Der Vorsitzende teilt mit, ob Erörterungen […] und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt.“) beinhalte den Wortlaut „und wenn ja, deren wesentlichen Inhalt“ und ist – wenn gleich auch sprachlich wenig geglückt – so zu verstehen, dass eine Mitteilungspflicht zwingend besteht, auch für den Fall, dass keine Verständigungsgespräche stattgefunden haben. (BVerfG, Urteil v. 26.08.2014 – 2 BvR 2172/13, 2 BvR 2400/13)


III. Sonstiges


In der Juristischen Schulung (JuS) 07/2015 ab S. 577, ist ein sehr informativer Beitrag von Hettinger/Bender zu finden, der sich mit den Aussagedelikten (§§ 153-162 StGB) beschäftigt.