Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

I. Materielles Strafrecht § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen; hier: Obhutsverhältnis bei Lehrer-Schüler-Beziehung. Der Angeklagte (A.) war Lehrer einer Realschule, an der er außerdem für das Deutsche Rote Kreuz Schülerinnen und Schüler im Rahmen einer freiwilligen Arbeitsgemeinschaft zu Schulsanitätern ausbildete.

Von Dirk Weingarten, Polizeihauptkommissar & Ass. jur.,  Polizeiakademie Hessen

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht


§ 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB – Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen; hier: Obhutsverhältnis bei Lehrer-Schüler-Beziehung. 

Der Angeklagte (A.) war Lehrer einer Realschule, an der er außerdem für das Deutsche Rote Kreuz Schülerinnen und Schüler im Rahmen einer freiwilligen Arbeitsgemeinschaft zu Schulsanitätern ausbildete. Daneben leitete er außerhalb der Schulzeit bis Ende 2010 für das Deutsche Jugend-Rot-Kreuz (DJRK) Gruppenstunden. Zwischen A. und der Geschädigten, die Schülerin an derselben Realschule war, die A. aber weder als Klassen- noch als Fachlehrer, sondern nur in Vertretungsfällen unterrichtete und die sowohl an der von A. angebotenen schulischen Arbeitsgemeinschaft als auch an den von ihm geleiteten Gruppenstunden des DJRK teilnahm, entwickelte sich im Jahre 2010 eine enge persönliche Beziehung. Zwischen Oktober 2010 und März 2011 kam es in zwölf Fällen zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen A. und der damals 14 bzw. 15 Jahre alten Geschädigten.
Ein Obhutsverhältnis im Sinne von § 174 Abs. 1 Nr. 1 StGB ist grundsätzlich zu bejahen, wenn der Täter zur Zeit des Missbrauchs Klassen- oder Fachlehrer des Opfers war. Erteilte der Täter lediglich Vertretungsunterricht oder kam er mit dem Opfer nur im Rahmen von Veranstaltungen außerhalb des regulären Unterrichts in Kontakt, so bedarf es genauer Darlegung, inwieweit dadurch eine Obhutsbeziehung begründet wurde. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH ist Voraussetzung eines Obhutsverhältnisses eine Beziehung zwischen Täter und Opfer, aus der sich für den Täter das Recht und die Pflicht ergibt, Erziehung, Ausbildung oder Lebensführung des Schutzbefohlenen und damit dessen geistig-sittliche Entwicklung zu überwachen und zu leiten. Ein die Anforderungen der Vorschrift erfüllendes Anvertrautsein setzt ein den persönlichen, allgemein menschlichen Bereich erfassendes Abhängigkeitsverhältnis des Jugendlichen zu dem jeweiligen Betreuer im Sinne einer Unter- und Überordnung voraus. Die hierzu vom LG getroffenen Feststellungen, aus denen weder der Umfang der Vertretungstätigkeit des A. in der Klasse der Geschädigten noch Art, Ausmaß und Dauer der Betreuung im Rahmen des Schulsanitätsdienstes oder Einzelheiten zur – ohnehin nur bis Ende 2010 geleiteten – DJRK-Jugendgruppe erkennbar sind, reichen danach nicht aus. Die Sache bedarf daher einer erneuten Verhandlung. (BGH, Beschl. v. 25.04.2012 – 4 StR 74/12)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB – Grundsätzliches zur gefährlichen Körperverletzung durch gezieltes Anfahren mit einem Kraftfahrzeug; Frage der Ursächlichkeit für den Körperschaden. Eine gefährliche Körperverletzung mittels eines anderen gefährlichen Werkzeugs (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) begeht, wer seinem Opfer durch ein von außen unmittelbar auf den Körper einwirkendes gefährliches Tatmittel eine Körperverletzung im Sinne von § 223 Abs. 1 StGB beibringt. Ein fahrendes Kraftfahrzeug, das zur Verletzung einer Person eingesetzt wird, ist in der Regel als ein gefährliches Werkzeug im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB anzusehen. Wird eine Person durch ein gezieltes Anfahren zu Fall gebracht, kann darin eine gefährliche Körperverletzung im Sinne von § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB liegen, wenn bereits durch den Anstoß eine nicht unerhebliche Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens und damit eine körperliche Misshandlung gemäß § 223 Abs. 1 StGB ausgelöst worden ist. Zu bedenken ist jedoch: Erst infolge des anschließenden Sturzes erlittene Verletzungen sind dagegen nicht auf den unmittelbaren Kontakt zwischen Kraftfahrzeug und Körper zurückzuführen, sodass eine Verurteilung nach §?224 Abs. 1 Nr. 2 StGB allein darauf nicht gestützt werden kann. (BGH, Beschl. v. 25.04.2012 – 4 StR 30/12)

§§ 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BtMG, §§ 22, 23 StGB – Übernahme und Transport von Cannabissetzlingen. Der Angeklagte (A.) betrieb in dem Nebengebäude seines Wohnhauses eine Cannabisplantage. Nachdem diese abgeerntet war, fuhr er in die Niederlande und übernahm dort 551 Cannabissetzlinge mit einer THC-Gesamtwirkstoffmenge von 23 g. Mit den Setzlingen wollte A. die Plantage neu bestücken. Auf einem Rastplatz erfolgte die Festnahme des A.
Handeltreiben im Sinne des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG ist jede eigennützige auf den Umsatz von Betäubungsmitteln gerichtete Tätigkeit. Die Handlungen müssen auf die Ermöglichung oder Förderung eines bestimmten Umsatzgeschäftes mit Betäubungsmitteln zielen und dieses nicht nur vorbereiten. Hinsichtlich des in den Setzlingen enthaltenen Wirkstoffs scheidet die Annahme eines Umsatzgeschäftes aus. A. wollte die Setzlinge nicht verkaufen. Hinsichtlich des von A. geplanten – indes noch nicht näher konkretisierten – Umsatzgeschäfts ausschließlich mit den erst am Ende des Wachstumsprozesses noch zu gewinnenden Blütenständen stellten die Übernahme und der Transport der Setzlinge fernab der Plantage noch keine Ermöglichung oder Förderung eines solchen Geschäfts dar. Es diente lediglich dessen Vorbereitung. Zur erfolgreichen Gewinnung von Blütenständen aus Cannabispflanzen sind mannigfache Vorbereitungen notwendig, die noch nicht als vollendetes oder versuchtes unerlaubtes Handeltreiben zu bewerten sind. So bedarf es geeigneter Räumlichkeiten sowie der Herbeischaffung und Installation der für die Plantage erforderlichen Gerätschaften. Maßgebliches Unterscheidungsmerkmal insofern ist, dass das später zum Verkauf zu stellende Cannabis noch nicht existiert und allenfalls in Setzlingen angelegt ist, die ihrerseits noch nicht angepflanzt wurden. Da mit den Setzlingen selbst kein Handel betrieben werden sollte, können sie hier als solche nicht den Gegenstand des Handeltreibens bilden. Eine andere Auslegung, die einen solchen Sachverhalt als Anwendungsfall des § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG ansähe, würde den sowieso schon weiten Begriff des Handeltreibens nochmals weiter ausdehnen. Damit würde nicht nur die Möglichkeit einer tragfähigen Abgrenzung zu Vorbereitungshandlungen zusätzlich erschwert. Jede weitere Ausdehnung wäre auch mit dem Wortsinn der Formulierung des Gesetzes kaum mehr vereinbar. (BGH, Urt. v. 15.03.2012 – 5 StR 559/11)

§ 353b StGB, §§ 33, 39 StVG – Verletzung von Dienstgeheimnissen: Weitergabe von Daten aus den Informationssystemen POLIS und ZEVIS. Bei den Daten aus der polizeilichen Datensammlung POLIS und auch bei dem Umstand, dass zu bestimmten Personalien in dieser Datenbank keine Erkenntnisse vorliegen, handelt es sich um Geheimnisse im Sinne des § 353b Abs. 1 StGB. Beides sind tatsächliche Gegebenheiten, deren Kenntnis wegen der beschränkten Zugriffsmöglichkeit auf das Informationssystem nicht über einen begrenzten Personenkreis hinausgeht. Dabei sind auch Negativauskünfte über fehlende Einträge in der polizeilichen Datensammlung geheimhaltungsbedürftig, da auch sie nachteilige Auswirkungen auf die polizeiliche Aufgabenerfüllung haben können etwa durch Minimierung des Kontrolldrucks.
Bei im zentralen Verkehrsinformationssystem ZEVIS zugänglichen Halterdaten aus dem Zentralen Fahrzeugregister des Kraftfahrt-Bundesamtes handelt es sich nicht um Geheimnisse im Sinne des § 353b Abs. 1 StGB. Unter Geheimnissen sind Tatsachen zu verstehen, die nur einem begrenzten Personenkreis bekannt und zudem geheimhaltungsbedürftig sind. Dies trifft auf die nach § 33 Abs. 1 StVG im Zentralen Fahrzeugregister gespeicherten Halterdaten, die im Rahmen einer einfachen Registerauskunft nach § 39 Abs. 1 StVG jedermann zu den gesetzlich genannten Zwecken übermittelt werden dürfen, nicht zu. (BGH, Urt. v. 15.11.2012 - 2 StR 388/12).

II. Prozessuales Strafrecht


§§ 261, 252, 69, 52 StPO – Einführung einer richterlichen Zeugenvernehmung eines das Zeugnis verweigernden Angehörigen durch Vorhalt. Im Anschluss an eheliche Streitigkeiten versetzte die Angeklagte (A.) ihrem Ehemann – ohne Tötungsvorsatz – einen wuchtigen Stich mit dem Küchenmesser in den linken Halsbereich. Der drei Zentimeter breite Einstich führte zu einem acht Zentimeter tiefen Stichkanal, womit die A. gerechnet hatte. Wäre die nur wenige Millimeter daneben verlaufende große Halsvene getroffen worden, wäre ihr Ehemann infolge des dann hohen Blutverlustes mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch vor dem Eintreffen des Notarztes verstorben. So musste die Wunde zwar in einer Notfalloperation behandelt werden; der Geschädigte konnte aber noch gemeinsam mit der A. die in der Küche befindlichen Blutspuren wegwischen. Er hat vor, die Ehe fortzusetzen. Der geschädigte Ehemann der A. hat in der Hauptverhandlung als Zeuge lediglich bekundet, er habe „seiner Ehefrau absolut verziehen“, und sich im Übrigen auf sein Zeugnisverweigerungsrecht berufen (§?52 Abs. 1 Nr. 2 StPO). Das LG hat daher den Ermittlungsrichter zeugenschaftlich dazu gehört, was der Geschädigte ihm gegenüber im Rahmen der am Tag nach der Tat durchgeführten Vernehmung – als mit der A. verheirateter Zeuge ordnungsgemäß belehrt – angegeben hat.
Es trifft zu, dass frühere Vernehmungen eines die Aussage gemäß § 52 StPO verweigernden Zeugen grundsätzlich nicht verwertet werden dürfen. Nach ständiger Rechtsprechung des BGH darf dann nur das herangezogen werden, was ein vernehmender Richter über die vor ihm gemachten Angaben des über sein Zeugnisverweigerungsrecht ordnungsgemäß belehrten Zeugen aus seiner Erinnerung bekundet. Hierzu darf ihm sein Vernehmungsprotokoll – notfalls durch Verlesen – vorgehalten werden. Dies darf allerdings nicht dazu führen, den Inhalt der Niederschrift selbst für die Beweiswürdigung heranzuziehen. Verwertbar ist vielmehr nur das, was auf den Vorhalt hin in die Erinnerung des Richters zurückkehrt, und es genügt nicht, wenn er lediglich erklärt, er habe die Aussage richtig aufgenommen. (BGH, Urt. v. 21.03.2012 – 1 StR 43/12)

III. Sonstiges


Braun/Keller: §§ 100c, 100a – Heimliches Betreten von Wohnungen durch die Polizei in: Die Polizei 2012, 102. Der Beitrag kommt zu dem Ergebnis, dass ein heimliches Eindringen in Wohnungen durch die Polizei nur zum Zwecke der Vorbereitung eines großen Lauschangriffes als rechtlich unproblematisch bewertet werden dürfe. Zu anderen Zwecken, wie beispielsweise Online-Durchsuchung oder Quellen-TKÜ, seien entsprechende Maßnahmen nicht zulässig.Prof. Dr. Tobias Singelnstein zu den „Möglichkeiten und Grenzen neuerer strafprozessualer Ermittlungsmaßnahmen – Telekommunikation, Web 2.0, Datenbeschlagnahme, polizeiliche Datenverarbeitung und Co“ in: Neue Zeitschrift für Strafrecht (NStZ) 2012 Heft 11, 593 – 606. Der Schreiber geht auf die Möglichkeiten neuer Ermittlungsmaßnahmen im Bereich Telekommunikation, Datenbeschlagnahme und Datenverarbeitung ein. Er unterzieht die dargestellten Möglichkeiten einer kritischen strafprozessualen Würdigung. Themen sind neben der Überwachung des E-Mail-Verkehrs, des Surfverhaltens oder der Nutzung sozialer Netzwerke auch die Frage, welche Form der Datenübertragung dem Fernmeldegeheimnis unterliegen. Der Verfasser geht auf die Datenerhebung in den verschiedenen Phasen ein und stellt die Problematik der Eingriffe dar, die bei einer Datenerhebung während des Übertragungsvorgangs erfolgen (§§ 100a, 100b StPO), bei einer Erhebung der Daten bei den Diensteanbietern (§§ 94 ff. StPO), bei den Beteiligten der Telekommunikation, sowie der Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ. Die Handhabe auf WLAN-Netze zuzugreifen ließe sich grundsätzlich nach §§ 100a, 100b StPO rechtfertigen. Nach seiner Auffassung stelle der Zugriff auf soziale Netzwerke keinen grundrechtlichen Eingriff dar, wenn die Daten öffentlich zugänglich seien. Bei einem gezielten Zusammentragen verschiedener öffentlich zugänglicher Daten liege jedoch ein Eingriff des Staates in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vor. Allgemeine Eingriffsmöglichkeiten werden abgebildet, genauso wie Verkehrsdaten im Besonderen (§ 100g StPO). Im Hinblick auf die Verkehrsdatenabfrage sind die sog. „stille SMS“ sowie die Funkzellenabfrage Thema. Schließlich findet sich noch eine Darstellung, wie Strafverfolgungsbehörden auf bestehende staatliche und private Datenbestände zugreifen können.