Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht


§§ 176 Abs. 4 Nr. 1, 184g Nr. 2 StGB – Sexuelle Handlungen vor Kindern. Auslegung der Legaldefinition „sexuelle Handlung vor einem anderen„. Wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB macht sich strafbar, wer sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt. Dies sind nach § 184g Nr. 2 StGB nur solche, die vor einem anderen vorgenommen werden, der den Vorgang wahrnimmt. Seit der Neufassung der Vorschrift setzt der Tatbestand des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB nicht mehr voraus, dass der Täter in der Absicht handelt, sich, das Kind oder einen anderen sexuell zu erregen. Um eine vom Gesetzgeber nicht beabsichtigte unangemessene Ausdehnung der Strafbarkeit wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind infolge des Wegfalls des den subjektiven Tatbestand bislang einschränkenden Merkmals der Erregungsabsicht zu vermeiden, ist die Begriffsbestimmung in § 184g Nr. 2 StGB insoweit einengend auszulegen. Somit ist für die Annahme einer sexuellen Handlung vor einem anderen – über deren Wahrnehmung durch das Tatopfer hinaus – erforderlich, dass der Täter den anderen in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Tatopfer von Bedeutung ist. Es muss die Wahrnehmung durch den anderen, nicht aber dessen Alter für den Täter handlungsbestimmend gewesen sein. Kommt es dem Täter darauf an, dass das Tatopfer die sexuelle Handlung wahrnimmt, so reicht für die Erfüllung des Tatbestands des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB in subjektiver Hinsicht aus, dass er billigend in Kauf nimmt, dass das Tatopfer das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. Denn hinsichtlich des Alters des Kindes genügt, ebenso wie bei § 176 Abs. 1 StGB, bedingter Vorsatz. (BGH, Urt. v. 12.05.2011 – 4 StR 699/10)

Dirk Weingarten
Polizeihauptkommissar & Ass. jur.
Polizeiakademie Hessen

§§ 211, 212, 24 Abs. 2 StGB – Voraussetzungen des Rücktritts vom Tötungsversuch bei schweren Gewalthandlungen mehrerer Täter im Rahmen einer mehraktigen Tatausführung. Voraussetzungen des unbeendeten Versuchs. Halten die Täter eines mehraktigen einheitlichen Tötungsversuchs nach Abschluss der letzten Ausführungshandlung aufgrund der tatsächlichen Umstände den Tod ihres Opfers für möglich und machen sie sich über die Folgen ihre Handelns – namentlich bei schweren Gewalthandlungen, die zu schweren Verletzungen geführt haben (hier: vielfache Schläge mit einem Schlagstock mit bedingtem Tötungsvorsatz, Herabstoßen des Tatopfers auf einer Kellertreppe) – keine Gedanken, liegt ein beendeter Versuch vor. Liegt dagegen ein unbeendeter Versuch vor, kommt ein strafbefreiender Rücktritt unter den engen Voraussetzungen des § 24 Abs. 2 StGB auch dann in Betracht, wenn die Täter einvernehmlich nicht weiterhandelten, obwohl sie dies hätten tun können. Die äußeren Gegebenheiten sind bei der Abgrenzung eines beendeten von einem unbeendeten Versuch insoweit von Bedeutung, als sie Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Täters ermöglichen. (BGH, Beschl. v. 11.01.2011 – 1 StR 537/10)

§§ 244 Abs. 1 Nr. 2, 244a Abs. 1, 25, 27 StGB – Schwerer Bandendiebstahl. Abgrenzung zur Tatbeihilfe und Mittäterschaft. Allein der Umstand, dass sich zwei Angeklagte schon zuvor zu einer gemeinsam begangenen Tat mit anderen zu einer Bande mit dem Zweck der Begehung von Einbruchsdiebstählen zusammengeschlossen hatten, führt nicht ohne weiteres dazu, dass alle nachfolgenden Einbruchstaten eines Bandenmitglieds als bandenmäßig begangen einzustufen sind; dies gilt auch dann, wenn an der jeweiligen Tat ein weiteres Bandenmitglied beteiligt war. Zwar kann nach vorheriger Bandenabrede eine von nur zwei Mitgliedern verübte Diebstahlstat als Bandentat zu qualifizieren sein; denn das für das Vorliegen einer Bande erforderliche dritte Mitglied muss nicht in die konkrete Tatbegehung eingebunden sein. Voraussetzung für die Annahme einer Bandentat nach § 244 Abs. 1 Nr. 2, § 244a Abs. 1 StGB ist neben der Mitwirkung eines weiteren Bandenmitglieds, dass die Einzeltat Ausfluss der Bandenabrede ist und nicht losgelöst davon ausschließlich im eigenen Interesse der unmittelbar an dem Diebstahl beteiligten Bandenmitglieder ausgeführt wird. (BGH, Beschl. v. 01.02.2011 – 3 StR 432/10)

§§ 249, 253, 255 StGB – Besonders schwerer Raub bzw. räuberische Erpressung. Voraussetzungen einer Feststellung von Zueignungsabsicht bzw. Bereicherungsabsicht bei gewaltsamer Wegnahme einer „Kutte„ des Mitglieds einer rivalisierenden Motorradbande. Es fehlt an der für eine Verurteilung wegen (besonders schweren) Raubes (mit Todesfolge) erforderlichen Zueignungsabsicht, wenn Mitglieder einer „Rockerbande„ einem Mitglied einer rivalisierenden „Rockerbande„ die „Kutte„ gewaltsam mit dem Ziel wegnehmen, eigene „Präsenz zu zeigen„ und den Rivalen klarzumachen, dass mit der in der Nähe angesiedelten „Rockerbande„ stets zu rechnen ist. Daneben erfordert eine Verurteilung wegen räuberischer Erpressung die Absicht, sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern. Dies setzt voraus, dass eine Erhöhung des wirtschaftlichen Wertes des Vermögens angestrebt wird. Als ein solcher Vermögenszuwachs kann auch die Erlangung des Besitzes an einer Sache bewertet werden und zwar selbst bei einem nur vorübergehenden Besitzwechsel. Jedoch ist der bloße Besitz nur in den Fällen als Vermögensvorteil anerkannt, in denen ihm ein eigenständiger wirtschaftlicher Wert zukommt, was regelmäßig lediglich dann zu bejahen ist, wenn mit dem Besitz wirtschaftlich messbare Gebrauchsvorteile verbunden sind, die der Täter oder der Dritte nutzen will. Es genügt nicht, wenn der Täter zwar kurzzeitigen Besitz (an der „Kutte„) begründen will, die Sache aber unmittelbar nach der Erlangung vernichtet werden soll. (BGH, Urt. v. 27.01.2011 – 4 StR 502/10)

§§ 253 Abs. 1 und 2, 255 Abs. 2 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB – Gemeinschaftlich begangene besonders schwere räuberische Erpressung. Hier: Näheverhältnis bei der „Dreiecks-
erpressung„.
Der Rechtsprechung des BGH ist nicht zu entnehmen, dass das erforderliche Näheverhältnis nur beim Bestehen enger persönlicher Beziehungen in Form von Ehe, Lebenspartnerschaft oder Verwandtschaft oder bei einer besonderen Verantwortung für das Vermögen des Geschädigten anzunehmen ist. Eine „Dreieckserpressung„ setze weder eine rechtliche Verfügungsmacht noch eine tatsächliche Herrschaftsgewalt des Genötigten über die fremden Vermögensgegenstände im Sinne einer Gewahrsamsdienerschaft voraus. Es genüge vielmehr, dass das Nötigungsopfer spätestens im Zeitpunkt der Tatbegehung auf der Seite des Vermögensinhabers stehe. Hieraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass das geforderte Näheverhältnis jedenfalls dann vorliegt, wenn eine faktische Sonderbeziehung des Genötigten zu den fremden Vermögensgegenständen im Sinne einer Gewahrsamsinhaber oder -dienerschaft oder einer sonstigen Obhutsfunktion besteht. Das bei einer „Dreieckserpressung„ erforderliche Näheverhältnis zwischen dem Genötigten und dem in seinem Vermögen Geschädigten besteht auch dann, wenn der Genötigte als Angestellter des Geschädigten im Tatzeitpunkt untergeordneten Mitgewahrsam an den entzogenen Vermögensgegenständen hat, auch wenn der Inhaber des übergeordneten Mitgewahrsams als Tatbeteiligter mit der Entziehung der Vermögensgegenstände einverstanden ist und deshalb keine Wegnahme vorliegt. (OLG-Celle, Beschl. v. 13.09.2011 – 1 Ws 355/11)

§§ 267 ff. StGB – Manipulation an einer HU-Plakette (§ 29
Abs. 2 i.V.m. Anlage IX StVZO) stellt aufgrund ihrer festen Verbindung zum Kfz-Kennzeichen eine zusammengesetzte Urkunde dar.
Eine inhaltlich abgeänderte HU-Plakette stellt aufgrund ihrer festen Verbindung zum Kfz-Kennzeichen eine (zusammengesetzte) Urkunde dar. Mit den sich aus der Plakette ergebenden Symbolen und Farben liegt (zumindest) die verkörperte Gedankenerklärung vor, dass das Fahrzeug bis zum Ablauf des entsprechenden Datums zur Hauptuntersuchung vorzuführen wäre, wenn das Fahrzeug auch danach am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen soll. Die HU-Plakette ist wegen ihrer sich aus § 29 StVZO – insb. dessen Abs. 7 S. 4 – ergebenden Bedeutung auch zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt. (OLG Celle, Beschl. v. 25.07.2011 – 31 Ss 30/11)

II. Prozessuales Strafrecht

§ 100g StPO; §§ 113a, 113b TKG – Vorratsdatenspeicherung. Verwertbarkeit rechtmäßig erhobener und übermittelter Telekommunikationsdaten in Ansehung zwischenzeitlicher Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG). Telekommunikationsdaten, die vor dem 02.03.2010 auf der Grundlage der einstweiligen Anordnung des BVerfG vom 11.03.2008 im Verfahren 1 BvR 256/08 rechtmäßig erhoben und an die ersuchenden Behörden übermittelt wurden, bleiben auch nach dem Urteil des BVerfG vom 02.03.2010 zu §§ 113a, 113b TKG, § 100g StPO in einem Strafverfahren zu Beweiszwecken verwertbar. Die weitere strafprozessuale Verwendung der rechtmäßig erhobenen und übermittelten Telekommunikationsdaten ist gesetzlich erlaubt. Ein selbständiges Verwertungsverbot, das dem entgegenstehen könnte, besteht weder aus einfachem Recht noch aus der Verfassung. Dies würde selbst dann gelten, wenn ein rückwirkendes Beweiserhebungsverbot anzunehmen wäre. Beweiserhebungsverbote ziehen nicht in jedem Fall ein Beweisverwertungsverbot nach sich. (BGH, Beschl. v. 18.01.2011 – 1 StR 663/10)

§ 261 StPO – Beweiswürdigung im Strafverfahren. Sequentielle Wahllichtbildvorlage. Wiedererkennen in der Hauptverhandlung. Die Ermittlungsbehörden haben bei Wahllichtbildvorlagen wie auch bei Wahlgegenüberstellungen alles zu unterlassen, was den jeweiligen Zeugen in seiner Unvoreingenommenheit beeinflussen kann. Dem Ergebnis einer sequentiellen Wahllichtbildvorlage kommt in der Regel ein höherer Beweiswert zu als dem einer gleichzeitigen Vorlage aller Bilder. Die Mitteilung des Vernehmungsbeamten, in jeder Bildserie befinde sich das Bild eines der Verdächtigen, stellt noch keine unzulässige Suggestion des betroffenen Tatzeugen dar, es sei denn, dass die Unbefangenheit des Zeugen beim Wiedererkennungsvorgang durch Hinzutreten besonderer Umstände unsachgemäß in eine bestimmte Richtung gelenkt wird. Auch das (wiederholte) Wiedererkennen in der Hauptverhandlung kann einen, wenn auch eingeschränkten, Beweiswert haben. (BGH, Urt. v. 14.04.2011 – 4 StR 501/10)

III. Sonstiges

Nachdem mit Wirkung vom 01.07.2011 der Tatbestand der Zwangsheirat, § 237 StGB, im StGB seinen Platz gefunden hat, wurden zum 05.11.2011 weitere Normen geändert. So wurden die Widerstandsparagraphen, in concreto § 113 (Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte) und § 114 (Widerstand gegen Personen, die Vollstreckungsbeamten gleichstehen) StGB geändert und „andere gefährliche Werkzeuge„ in § 121 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 (Gefangenenmeuterei) und § 125a S. 2 Nr. 2 (Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs) StGB ergänzt. Mit § 244 Abs. 3 StGB (Diebstahl mit Waffen, Bandendiebstahl, Wohnungseinbruchdiebstahl) wurde der minder schwere Fall eingefügt und zur Erhöhung des strafrechtlichen Schutzes der Anwendungsbereich des § 305a
Abs. 1 Nr. 2 (Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel) auf weitere Sachen ausgedehnt.Auch das noch: Wer als Fahrer eines Kraftfahrzeuges vor dem Erreichen eines Parkplatzes ein die Höchstgeschwindigkeit begrenzendes Verkehrszeichen passiert, kann sich nach dem Verlassen des Parkplatzes und Weiterfahrt in die ursprüngliche Richtung nicht damit entlasten, dass sich nicht unmittelbar nach der Ausfahrt des Parkplatzes erneut ein entsprechendes Verkehrszeichen befunden und er die angeordnete Geschwindigkeitsbegrenzung mittlerweile vergessen habe. (OLG Oldenburg, Beschl. v. 16.09.2011 – 2 SsRs 214/11)