Schusswaffengebrauch unter strafverfolgender Zielsetzung (Teil 1)


Von Prof. Michael Knape, Berlin1

1 Vorbemerkungen

Setzt man sich mit der Problematik des Schusswaffengebrauchs zum Zwecke der Strafverfolgung auseinander, stößt der sachkundige Rechtsanwender zugleich auf zwei zentrale Fragen, die es vorab zu klären gilt. Zum einen ist zu prüfen, ob diejenigen Vorschriften der Länderpolizeigesetze, welche den Schusswaffengebrauch gegen Personen unter repressiver Zielsetzung regeln, gesetzessystematisch mit der Verfassung in Einklang stehen, zum anderen stellt sich die Frage, ob die einschlägigen Länderregelungen den unmittelbaren Zwang durch Schusswaffengebrauch, dessen gesetzliche Regelung seit jeher Teil des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts ist, in Hinblick auf Maßnahmen nach der StPO – strafprozessuale Handlungen wie z.B. die Identitätsfeststellung, vorläufige Festnahme oder Vollstreckung von Haft- bzw. Vorführungsbefehlen – rechtsdogmatisch überhaupt ergänzen dürfen.

Letzterer Aspekt mündet einmal mehr in der rechtlich so wichtigen wie diffizilen Problematik, ob Landesrecht Bundesrecht ergänzen, d.h. ob Landespolizeirecht strafprozessuale Materie aufgreifen und normieren darf, berücksichtigt man, dass die bundesrechtliche Regelungssystematik der StPO mit Blick auf § 6 EGStPO nach herrschender Meinung abschließender Natur ist. Die Problematik wird noch deutlicher, wenn man an die Stelle des Begriffs „Polizeigesetz“ den des „allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts“ setzt. Letzterer indiziert deutlicher denn je klassisches Gefahrenabwehrrecht, das – berücksichtigt man die jeweiligen Zweckbindungen – zur Strafverfolgung eindeutig im Widerspruch steht. Des Weiteren stellt sich aber auch die Frage, wie es mit dem verfassungsmäßigen Bestimmtheitsgebot und dem Zitiergebot, beides sog. Schranken-Schranken2 und zugleich wichtige Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips, im Rahmen der StPO bestellt ist. Damit ist sowohl die Diskussion um Art. 20 Abs. 3 als auch um Art. 72, 74 Abs. 1 Nr. 1 GG eröffnet. Eine Reihe von Ländern orientierten sich strikt am „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder“ (MEPolG)3, indem sie Bestimmungen, die den Schusswaffengebrauch zum Zwecke der Strafverfolgung regeln, unmittelbar – wortgleich – in ihren Polizei- bzw. Gefahrenabwehrgesetzen aufgenommen haben; beispielhaft sollen hier die gesetzlichen Varianten der Länder Brandenburgs und Nordrhein-Westfalens dienen. Diese Länder haben quasi „aus einem Guss“ in ihren Polizeigesetzen4 den Schusswaffengebrauch gegen Personen in einer Norm, so wie es der MEPolG 1977 mit präventiver und repressiver Zielrichtung vorsieht, geregelt. Es handelt sich hierbei um Vorschriften, die zum Regelungsbereich der Anwendung unmittelbaren Zwanges im gleichnamigen Abschnitt bzw. Unterabschnitt der jeweiligen Polizeigesetze beider Länder zählen. Berlin hat – ähnlich wie der Bund – für die Anwendung unmittelbaren Zwanges ein eigenes Gesetz geschaffen. Hier gelten neben dem Allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht für Berlin, dem ASOG Bln,5 das Berliner Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz6 mit besonderen Vollzugsermächtigungen für Verwaltungsmaßnahmen als vorausgegangenen Grund-Verwaltungsakt – diesbezüglich ist auch von Maßnahmen in der Verwaltungsvollstreckung die Rede7 –, dem, soweit das Zwangsmittel des unmittelbaren Zwanges als schärfstes Zwangsmittel der Polizei zur Anwendung kommt, das Gesetz über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin (UZwG Bln) angefügt ist. In Form einer kasuistischen Gesetzesstruktur hat der Berliner Gesetzgeber für diese Form polizeilichen Eingriffshandelns, der Anwendung unmittelbaren Zwanges durch hoheitlichen Schusswaffengebrauch, im UZwG Bln sechs Vorschriften für den Schusswaffengebrauch gegen Personen geschaffen: §  11: Schusswaffengebrauch zur Verhinderung rechtswidriger Taten, § 12: Schusswaffengebrauch zum Anhalten flüchtender Verdächtiger, § 13: Schusswaffengebrauch zum Anhalten flüchtender Straftäter, § 14: Schusswaffengebrauch gegen Ausbrecher, § 15: Schusswaffengebrauch bei Befreiungsversuchen und § 16: Schusswaffengebrauch gegen eine Menschenmenge.8 Während § 11 UZwG Bln ausschließlich gefahrenabwehrende Ziele verfolgt, die Regelungen der §§ 12 und 13 UZwG Bln klassischer Weise der Strafverfolgung dienen, kann bei den §§ 14, 15 und 16 UZwG Bln typischerweise von einem doppelfunktionalen Handeln in Gemengelage ausgegangen werden, d.h., dass hier sowohl präventive als auch repressive Zweckbindungen eine Rolle spielen. Die Struktur der Berliner Gesetzeslage – der Weg vom ASOG Bln bis zum UZwG Bln – ähnelt in etwa der des BPolG mit Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz und dem Gesetz über den unmittelbaren Zwang (UZwG Bund).9 Soweit reines polizei- und ordnungsrechtliches Handeln vorliegt, ist diese Normkette rechtlich völlig unproblematisch. Fragen und Probleme treten immer dann auf, wenn eine Polizeivollzugsbeamtin oder ein Polizeivollzugsbeamter unter repressiver Aufgabenstellung bzw. Zweckbindung10 von der Schusswaffe Gebrauch macht. Dann stellt sich sofort die Frage: Aus welcher Norm ergibt sich die Ermächtigung, Zwang im Wege der Anwendung unmittelbaren Zwanges durch Schusswaffengebrauch anwenden zu dürfen? Angemerkt sei: Abgesehen von der Sondervorschrift des Schusswaffengebrauchs gegen Personen in einer Menschenmenge, der in jedem Länderpolizei-/Gefahrenabwehrgesetz speziell geregelt ist, finden sich entsprechende Bestimmungen zu den §§ 11, 12, 13, 14 und 15 UZwG Bln auch in denjenigen Ländergesetzen, die den Schusswaffengebrauch gegen Personen nur in einer Vorschrift geregelt haben,11 und zwar in vergleichbarer Regelungssystematik, d.h. jeweils getrennt nach präventiver und repressiver Zielrichtung. Sprachliche Abweichungen im Rahmen der gesetzlichen Regelungen zwischen dem UZwG Bln einerseits und dem MEPolG 1977, PolG NRW, BbgPolG und dem UZwG Bund andererseits sind zwar unverkennbar, führen jedoch im Ergebnis keinesfalls zu unterschiedlichen Folgerungen hinsichtlich der problematischen Frage nach dem Recht zur Zwangsanwendung beim Schusswaffengebrauch mit strafprozessualer Zielsetzung. An diesem rechtlichen Befund ändert weder § 12 noch § 13 UZwG Bln etwas, die speziell den Schusswaffengebrauch gegen einen flüchtenden Verdächtigen (§ 12) bzw. flüchtenden Straftäter (§ 13) regeln. Beide Vorschriften sollen nach dem Willen des Gesetzgebers lediglich das „Wann“ und „Wie“, nicht aber des „Ob“ des Schusswaffengebrauchs bestimmen. Den Vorschriften des unmittelbaren Zwanges aller sechzehn Länder einschließlich des Bundes ist daher eigen, dass sie lediglich die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges regulieren wollen, insoweit reine Verfahrensgesetze sind, die unter keinen rechtlichen Gesichtspunkten Befugnisnormen im materiellen Sinne darstellen sollen, mag auch der Gesetzestext z.B. des § 13 UZwG Bln, der die repressive Stoßrichtung des Schusswaffengebrauchs am deutlichsten widerspiegelt, womöglich etwas anderes suggerieren. Die Vorschrift bestimmt, dass „ein Vollzugsbeamter auf einzelne Personen schießen darf, die zu Freiheitsstrafe verurteilt sind oder deren Sicherungsverwahrung angeordnet ist und gegen die ein Vorführungs- oder Haftbefehl oder ein Steckbrief zur Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe oder zum Vollzug der Sicherungsverwahrung erlassen worden ist, wenn sie sich ihrer Festnahme durch die Flucht zu entziehen versuchen“. Diese Bestimmung ist im Übrigen eine Berliner Besonderheit, die so in dieser Form in den genannten Polizeigesetzen der Länder Brandenburg und Nordrhein-Westfalen sowie im UZwG Bund nicht existiert. Ein vergleichbarer Fall wird in den o.a. Ländergesetzen jeweils durch die Regelung der Nr. 4 der genannten Vorschriften aufgefangen, die sich – im Unterschied zum UZwG Bln – strikt am Wortlaut des § 42 Nr. 4 MEPolG 1977 orientieren.12

Anmerkung: Ist das UZwG Bln tatsächlich ein reines Verfahrensgesetz, das nur die Art und Weise der Anwendung unmittelbaren Zwanges regelt,13 mit der Folge, dass seine Regelungen insoweit lediglich besondere Ausprägungen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne darstellen, fragt sich der geschulte Rechtsanwender, warum sich Politiker in Berlin seit Jahrzehnten der Normierung des „Finalen Rettungsschusses“ mit dem Argument verschließen, der Polizei keine Befugnis in die Hände legen zu wollen, um zu verhindern, dass die Polizei – ermächtigt durch den hoheitlich-rechtlichen Schusswaffengebrauch (!) – einen Täter womöglich tötet.14 Diese Auffassung zeugt von einem hohen Maß an Rechtsunkenntnis und ist in Hochzeiten des internationalen Terrorismus äußerst nachlässig, weil die Polizei auf Grundlage eines Gesetzes von der Schusswaffe Gebrauch machen muss, das der Gefährdungslage in keiner Weise gerecht wird, berücksichtigt man, dass jeder hoheitliche Schusswaffengebrauch im Land Berlin der vorherigen Androhung bedarf.15

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