Herausforderungen der Cyberkriminologie

Von Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger, Oranienburg*

 

1 Digitaler Transformationsprozess

 

Kaum eine Entwicklung in den letzten Jahrzehnten hat vermutlich solch ein Potential grundlegende gesellschaftliche Transformationsprozesse auszulösen wie die allgegenwertige Digitalisierung. Dabei nur von Digitalisierung im Sinne einer Nutzung technischer Möglichkeiten und Geräte auszugehen, geht hierbei nicht weit genug. Vielmehr umfasst die Digitalisierung auch die Etablierung eines globalen digitalen Raumes – besser vermutlich einer globalen digitalen Sphäre – der grenzfreien Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen auf der ganzen Welt und aus jedem Kulturkreis. Diese Kommunikation und Interaktion findet gegenwärtig vor allem über sog. Soziale Medien statt, diese stellen dabei eine Art Metabegriff für unterschiedlichste Formen von Programmen dar. Am ehesten kann man sich hierunter onlinebasierte Programme vorstellen, die eine Vernetzung und Kommunikation zwischen den Nutzern zu lassen. Diese Definition erfasst dann sowohl die klassische Vorstellung Sozialer Netzwerke wie Facebook, Instagram, TikTok oder Twitter, geht über Messenger wie Whatsapp, Telegram oder Kik und reicht bis zu dem hier klar dazu zählenden Bereich der Onlinespiele (Bayerl und Rüdiger 2017, 921 ff). Diese Medien sind schon lange kein Randphänomen mehr, sondern Menschen halten sich in diesen genauso selbstverständlich auf wie im öffentlichen Straßenverkehr.

 

2 Mediennutzung in Deutschland


Knapp 94% aller Deutschen ab 14 Jahren sollen in irgendeiner Form in diesem digitalen Raum unterwegs sein. Bei den 14- bis 49-jährigen sollen es 100% sein, bei den bis 69-jährigen 95% und bei den über 77-jährigen noch immer 77% (Krupp und Bellut 2021, S. 6). Täglich nutzen sogar 76% der Deutschen ab 14 Jahren das Internet, was in etwa 54 Millionen Menschen entspricht (Beisch und Koch 2021, S. 488). Bei der Internetnutzung spielen auch in Deutschland die Sozialen Medien eine wichtige Rolle, diese werden von 59% der Bevölkerung ab 14 Jahren genutzt. Allein WhatsApp wird von 70% der Bevölkerung täglich genutzt. Bei der Nutzung Sozialer Medien zeichnet sich zudem eine gewisse Alterskluft ab, so nutzen in der Alterskategorie der 14- bis 29-jährigen 66% täglich Soziale Medien, bei den 50- bis 69-jährigen hingegen nur 17%. Als verbreitetes klassisches Soziales Medium, hat Instagram, das von 18% der Befragten täglich genutzt wird, mittlerweile Facebook abgelöst, dass nur von 15% am Tag noch angesteuert wird. Trotz der medialen Präsenz von Twitter nutzen es nur 2% der Befragten, genauso viele wie Twitch, eine Plattform auf der primär Gamingsessions gestreamt werden (Beisch und Koch 2021, S. 498). Alleine die 14- bis 29-jährigen nutzen Onlinemedien mittlerweile 269 Minuten also fast 5 Stunden am Tag (Beisch und Koch 2021, S. 491). Dabei ist diese Entwicklung nicht nur auf Jugendliche und Erwachsene beschränkt. Bereits im Jahr 2014 nutzten 25% der Kinder von 6 bis 7 Jahren zumindest selten das Internet. Mittlerweile sind es in dieser Alterskategorie 34%, bei den 8- bis 9-jährigen sind es sogar 60% und bei den 12- bis 13-jährigen kann mit 97% von einer Vollabdeckung gesprochen werden. Im Durchschnitt nutzen 82% der Kinder unter 14 Jahren mehrmals das Internet in der Woche (Feierabend et al. 2020, S. 37). Auch in diesen Altersstufen ist WhatsApp das wichtigste Soziale Medium und wird von 53% der Kinder täglich und 68% zumindest mehrmals in der Woche genutzt. Weitere 59% nutzen Youtube, 20% Instagram und Snapchat (Feierabend et al. 2020, S. 39). Nach der „Mediensuchtstudie 2020“ der DAK ist die Nutzungszeit Sozialer Medien bei Minderjährigen um 66% von 115 auf 192 Minuten täglich angestiegen (Bodanowitz und Scharf 2020, S. 10). Es erscheint daher nicht unrealistisch anzunehmen, dass viele Menschen über alle Altersgrenzen hinweg spätestens im Rahmen der Corona-Einschränkungen täglich mehr Zeit in der digitalen Sphäre verbringen als im gesamten physischen Straßenverkehr.

 

3 Cyberkriminologische Betrachtung eines globalen digitalen Raums


Ein Grundgedanke der Kriminalwissenschaft ist, dass Kriminalität und normenabweichendes Verhalten immer aus einer Interaktion und Kommunikation zwischen Menschen entsteht. Das gleiche gilt im Umkehrschluss auch für die Normengenese und Formen der Normendurchsetzung. Eine Gemeinschaft einigt sich durch unterschiedliche Prozesse auf gemeinsame Verhaltensweisen und darauf, dass diese dann bei Bruch der Regeln auch durchgesetzt und geahndet werden oder im Falle von einer Neubetrachtung zu Legalisierungen führen. Hierfür braucht es einerseits das Verständnis, dass man sich als eine Gemeinschaft definiert und damit die Regeln akzeptiert. Andererseits müssen die Gruppenmitglieder zumindest rudimentär wissen welchen Regeln sie konkret unterliegen. Eine Thematik die sich auch im sog. Bestimmtheitsgebot als Ausformung des Art. 20 Abs. 3 GG widerspiegelt. Ein hierzu notwendiges und gleichzeitig naheliegendes Grundkonstrukt ist es, dass ein Mensch weiß in welchem Land er sich aufhält und welchen Regeln er damit auch unterliegt. Dies wird faktisch auch dadurch gewährleistet, dass ein Mensch – je nach Konstellation – physische Landesgrenzen überqueren muss und dadurch ahnt, dass er neuen Regeln unterliegt. Auch die Kriminalwissenschaft hat hierbei die leichte Tendenz, die Betrachtung von Kriminalität auf das jeweilige nationale Verständnis von unterschiedlichen Deliktsformen auszurichten.

Das Konzept, dass Menschen wissen sie befinden sich physisch an einem Ort und unterliegen dessen Gesetzen, findet aber seine Grenze im digitalen Raum. Denn das Kennzeichen vor allem von Sozialen Medien, Onlinegames und Co. ist gerade die Schaffung einer prinzipiell globalen und grenzfreien Vernetzungs- und Kommunikationssphäre. Diese Globalität des digitalen Raums kennt aber im Gegenzug keine sichtbaren virtuellen Landesgrenzen in sozialen Medien und im Internet im Allgemeinen, die man überschreiten könnte. Dies bedeutet faktisch auch, dass die moralischen und damit auch rechtlichen Vorstellungen unterschiedlichster Länder in derselben Sphäre aufeinandertreffen. Genauer die Menschen, die durch diese Vorstellungen geprägt wurden, nun aber ihre eigenen Vorstellungen in diesem Raum transportieren, ohne das klar definiert ist, wer welchem Recht in welchem Moment eigentlich unterliegt. Was in dem einen Land in den Sozialen Medien strafbar sein könnte, könnte in dem anderen Land, vielleicht überhaupt nicht gesetzlich geahndet werden.

Als ein Beispiel was damit gemeint ist könnte eventuell die Einordnung sog. „Posingbilder“, also Abbildungen von unnatürlichen Köperhaltungen von Kindern in teils bekleideten oder unbekleideten Zustand, als kinderpornographische Inhalte herangezogen werden. Hierunter können beispielsweise entsprechende Inhalte von Kindern in Unterwäsche fallen. Spätestens seit der Reform des § 184b StGB im Jahr 2014/2015 sind solche Abbildungen in § 184b Abs. 1 Nr. 1 StGB als strafbar einzuordnen. Für einige immer wieder überraschend sind kinder- oder auch jugendpornographische Inhalte nicht nur auf das Darknet beschränkt. Nach einer Analyse im Rahmen des Projekts Arachnid des Canadian Centre for Child Protection (CSAM) waren 97% der festgestellten Missbrauchsabbildungen im Clearweb abgelegt und nicht im Darknet (CSAM 2021, S. 2). In letzter Zeit wird immer klarer, dass Missbrauchsabbildungen auch in Sozialen Medien zu finden und über Messenger geteilt werden. In den USA können Missbrauchsabbildungen, auf die Nutzer stoßen, über die Meldefunktion „CyberTipline“ des National Center for Mising & Exploited Children (NCMEC) gemeldet werden, die nach einer Prüfung die Informationen an Sicherheitsbehörden auch in Deutschland weitermelden. Im Jahr 2020 gab es hierüber etwa 22 Millionen Meldungen, etwa 100.000 davon entfielen auf Deutschland (NCMEC 2021b). Von diesen 22 Millionen Meldungen betrafen knapp 90% die Social Media Programme von Meta (früher Facebook), also Facebook, Instagram und WhatsApp. Die Problematik von Missbrauchsabbildungen in Sozialen Medien greift daher auch die polizeiliche Prävention durch entsprechende Kampagnen auf (ProPK 2021).

Hier schließt sich nun der gedankliche Kreis. Es gibt nämlich keine weltweit absolut gültige Definition von kinderpornographischen Inhalten. Das bedeutet, dass beispielhaft ein Nutzer auf einer Social Media Plattform ein problematisches Bild eines Kindes sehen könnte, dass in Deutschland z.B. als Posingbild qualifiziert wird, aber in dem Land in dem der Nutzer das hochgeladen hat, vielleicht gar keine strafrechtliche Relevanz hat. Dadurch kann theoretisch die Situation eintreten, dass Nutzer aus dem einen Land sich fragen, warum offenbar andere völlig unproblematische aus ihrer Sicht strafbare Handlungen posten können. Wessen strafrechtliche Wertevorstellung sollen dann in Sozialen Medien eigentlich greifen?

 

 

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