Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität zwischen Quantität und Qualität

I. Einleitung
Der italienische Händlerverband „Confesercenti„ schätzt, dass die „Mafia„ mit einem Umsatz von jährlich 90 Milliarden Euro das zweitgrößte „Unternehmen„ Italiens ist. Der Verband selbst ist die zweitgrößte Vereinigung Italiens für Handels- und Dienstleistungsunternehmen, die jedes Jahr einen Bericht über die Folgen der Organisierten Kriminalität (OK) für das Wirtschaftsleben erstellt. Nach ihren jüngsten Erhebungen werden jährlich 160.000 Händler Opfer von Schutzgelderpressungen und ca. 150.000 Opfer von Wucherern. Alleine die Einnahmen der kriminellen Organisationen in Süditalien aus Schutzgelderpressungen sollen sich auf ca. 30 Milliarden Euro belaufen, diejenigen aus Wucher auf 10 Milliarden Euro. Fälschungen und Produktpiraterie brächten 7, 4 Milliarden Euro, Diebstahl und Raub 7 Milliarden Euro. In dem zitierten Bericht wird als neueste Entwicklung beklagt, dass sich in Süditalien auch große Unternehmen den Regeln der Mafia unterworfen hätten. Sie bemühten sich auf diese Weise, von vornherein Problemen aus dem Weg zu gehen und betrachteten Schutzgelder oder Gefälligkeiten als eine Art Versicherungspolice.1

Dr. Wolfgang Hetzer,
Adviser to the Director General, European Anti-Fraud Office, Brüssel

Jüngeren Meldungen zufolge sind nach Jahren eher oberflächlicher Ruhe die Unternehmen in Sizilien auch wieder einer neuen Gewaltbereitschaft des organisierten Verbrechens ausgesetzt. Zugleich versucht jedoch der sizilianische Unternehmerverband, ein deutliches Signal gegen die Mafia zu setzen. Er hat in den Verhaltenskodex für seine Mitglieder die Verpflichtung aufgenommen, keine Kontakte mit ihr zu unterhalten, kein Schutzgeld zu bezahlen und mit den Polizeikräften zusammenzuarbeiten. Damit will man auch einen Bruch mit der Vergangenheit herbeiführen, für die in Palermo der Unternehmer Libero Grassi steht, der sich 1991 gegen die Schutzgelderpressung auflehnte und deswegen von Mitgliedern der Cosa Nostra auf offener Straße ermordet wurde.
Zuvor hatte man Grassi alleine gelassen und über ihn gelacht, so wird das damalige Klima unter den Unternehmern von dem jetzigen Vorsitzenden der „Confindustria„, Ivan Lo Bello, beschrieben. Faule Kompromisse und Angst seien die Gründe für das Verhalten der damaligen Spitze des Unternehmerverbandes in Palermo und Sizilien gewesen, das nun von den Medien offen als „Feigheit„ bezeichnet wird. Neue Appelle des Unternehmerverbandes und des italienischen Unternehmerpräsidenten Luca di Montezemolo zeigen, dass sich nicht nur die Sizilianer mehr Unterstützung von der römischen Politik wünschen und gleichzeitig befürchten, nach tapferen Erklärungen doch alleine dazustehen.2
In Frankfurt begann am 19. März 2007 ein Strafprozess gegen den ehemaligen Geschäftsführer der Deka-Immobilien Investment GmbH. Der Angeklagte räumte zu Beginn der Verhandlung ein, 470.000 Euro „Schmiergelder„ angenommen zu haben, die ihm von Geschäftspartnern angeboten worden seien. In einem Fall habe er von einem Manager der Deutschen Bank eine Zahlung auf ein eigens eingerichtetes Nummernkonto in der Schweiz akzeptiert. Bereits nach dreitägiger Verhandlung wurde der Angeklagte zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe verurteilt. Er war nur einer von insgesamt ca. 100 Beschuldigten, die ein kriminelles Netzwerk bildeten und bei Grundstücksgeschäften in ganz Europa mindestens 5 Millionen Euro „Schmiergelder„ gezahlt oder angenommen haben sollen. Die zur Sparkassengruppe gehörende Deka-Bank hatte im Jahre 2004 dreistellige Millionenbeträge aufwenden müssen, um den durch diese Vorgänge in eine existenzielle Krise geratenen Fonds zu stützen.
Über vergleichbare Fälle wird mittlerweile fast täglich berichtet. Für erfahrene Polizeipraktiker besteht kein Zweifel daran, dass sich der zitierte Fall unter „Organisierte Kriminalität„ subsumieren lässt.3 Auch andere Analytiker zeigen, dass hoch entwickelte Betrugsformen im Bankenbereich („Prime Bank Instruments Fraud„) der OK zugerechnet werden können.4 Aus Frankfurter Perspektive scheint Süditalien dennoch immer noch weit weg zu sein. Nicht nur aus diesem Grunde sind viele Zeitgenossen in Deutschland der Meinung, dass es sich bei der „Mafia„ um einen historisch überkommenen Bestandteil italienischer Folklore handele. Die OK ist aber nicht nur in Deutschland ein umstrittener Kriminalitätsbereich. In der öffentlichen Diskussion wird – wenn auch mit abnehmender Tendenz – sogar prinzipiell an ihrer Existenz gezweifelt. Nach wie vor ist man selbst in der Wissenschaft und auch in der politischen Diskussion von einem gemeinsamen Problemverständnis weit
entfernt.
In der Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge („Berliner Erklärung„ aus dem Jahre 2007) verspricht die Europäische Union (EU), den Terrorismus, die organisierte Kriminalität und die illegale Einwanderung gemeinsam zu bekämpfen. Die Einlösung dieses Versprechens ist aber nur möglich, wenn vielfältige und anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllt werden. Dazu gehört nicht nur ein europaweit gültiges und klares Konzept der OK-Bekämpfung. Erforderlich ist auch die Abkehr vom überkommenen Verständnis dieser Kriminalitätsform. Bislang sind damit - fast reflexartig - bestimmte Schlagwörter verbunden:

„Rauschgift„, „Rotlichtmilieu„, „Menschenhandel„,
„Ausländer„, „Gewalt„, „Mafia„.

Solche Begriffe führen zu einer Stigmatisierung besonderer Art. In der öffentlichen Wahrnehmung gerät OK zur mythologischen „Unterwelt„, die fernab der bürgerlichen Gesellschaft ihr eigenes Leben nach geheimnisvollen Riten und Traditionen führt, weitab von den Zentren des sonstigen bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens. Dieses Verständnis sorgt für gewisse Entlastungen. Die „Mafia„, das sind immer nur die Anderen, Fremden, Fernen, eine unheimliche Bedrohung, die von außen kommt, die wohlgeordnete eigene Welt bedroht und mit brutaler Energie drangsaliert oder auch mit korruptiven Praktiken unbescholtene Bürger verführt. Wenige Blicke in beliebige Tageszeitungen eröffnen jedoch andere Perspektiven. Die Nachrichten über kriminelles Geschehen auf allen Etagen von Wirtschaft, Verwaltung und Politik könnten und müssten zu einer grundlegend veränderten Einschätzung des Phänomens „OK„ führen. Davon wären nicht nur einzelne Kriminalitätsbereiche, sondern auch die „üblichen Verdächtigen„ betroffen.
Das kriminologische und kriminalistische traditionelle Verständnis von OK muss sich jedenfalls ändern. Unter dem Eindruck äußerst attraktiver Tatgelegenheiten, die sich angesichts der Höhe der in der EU und aus öffentlichen Haushalten zur Verfügung stehenden Mittel bieten und wegen der anhaltenden Zeiten wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Umbruchs, haben sich die Methoden kriminellen Handelns verfeinert. Die besonders gefährlichen Vertreter der OK greifen zu kaufmännischen Kalkulationen und identifizieren die höchsten Gewinnspannen und die geringsten Risiken mit unternehmerischer Weitsicht. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat die OK in den letzten Jahren mehrere qualitative Sprünge gemacht. Dadurch ist es ihr in zunehmendem Maße gelungen, das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU, die strukturellen Umwälzungen, die für einen offenen Binnenmarkt typischen Kontrolldefizite, die Vielzahl und Komplexität gesetzgeberischer Akte sowie die Anfälligkeit von Teilen der wirtschaftlichen, politischen und administrativen Eliten für Korruption in allen Staaten planvoll auszunutzen.


Keine Seltenheit: Beispiele für Korruption in Deutschland

Womöglich sind alle Versuche einer begrifflichen Klärung nur Ausdruck einer lächerlichen Naivität. Es wird immer deutlicher, dass wir in Gesellschaften leben, in denen Lebenssinn sich in Gewinnmaximierung erschöpft. In solchen Gesellschaften hat die OK alle Chancen weiter zu blühen und zu gedeihen. Letztlich ist zu prüfen, ob die Grundsätze des fairen Wettbewerbs in der Wirtschaft, die Gesetzesbindung der Verwaltung und die Gemeinwohlverpflichtung der Politik durch das „Gangsterprinzip„ abgelöst sind.

II. Statistik und Schätzung
Aus der Sicht der deutschen Bundesregierung sind die Schwierigkeiten in der Natur der Sache selber angelegt.5 Die OK wird als ein komplexes, verzweigtes, vielfach auch diffuses Feld von Strukturen, Personengemeinschaften und Handlungsvollzügen verstanden, das in viele Kriminalitätsbereiche hineinrage. Gleichwohl mangelt es an soliden und empirisch abgesicherten Befunden. Praktische Erfahrungen und Untersuchungen lassen sich noch nicht zu einem allseits klaren Bild der OK in Deutschland und der Welt zusammenfügen. Vorherrschend sind nach wie vor Mythen, Schätzungen und Spekulationen. Das „Gesetz des Schweigens„ (omertà) verhindert weitgehend verlässliche empirische Feststellungen. Zudem erschwert die häufige „doppelte Verortung„ der an der OK Beteiligten in der Illegalität und der Legalität eine hinreichend effiziente Strafverfolgung. In diesem Zusammenhang muss man verstehen, dass die OK in ihrer entwickelten Form nicht nur durch die Planung und Begehung von Straftaten charakterisiert wird. Die erwähnten personalen Bindungen, Verbindungen („connections„) und Beziehungsnetze bestehen und funktionieren auch außerhalb konkreter Kriminalitätsbereiche. OK zeichnet sich immer durch soziale Netzwerke innerhalb eines Wohngebietes, einer Stadt, einer Region oder eines Landes aus. Damit wird natürlich auch die Tarnung illegaler Aktivitäten erleichtert.6
Soweit die Aussagekraft der vorliegenden wissenschaftlichen Untersuchungen reicht, kann man in Italien und anderen europäischen Ländern dennoch zumindest von der gesicherten Existenz der OK in Gestalt von nach wie vor traditionell verwurzelten Organisationen ausgehen. Gleichzeitig darf man z. B. die „Cosa Nostra„ und die „’Ndrangheta„ nur als Spezialfälle in einem großen Feld von illegalen Märkten und ihren Akteuren sehen. Als solche sind sie das Produkt bestimmter historischer, sozialer und kultureller Bedingungen, welche an beliebigen Orten nicht einfach wieder herstellbar sind. Auch grenzüberschreitende Kontakte zwischen den an der OK Beteiligten rechtfertigen im Übrigen noch nicht die Annahme einer umfassenden Steuerung moderner komplexer und finanziell ertragreicher Kriminalität durch mächtige und durchorganisierte Syndikate.7Für Deutschland geht die Bundesregierung davon aus, dass es sich bei der OK eher um professionell organisierte Tätergruppen und Netzwerke handelt als um landesweit oder gar bundesweit fest gefügte hierarchische Strukturen mit intensivem Einfluss auf legale Märkte und soziale wie politische Strukturen. Sie hält dies für einen „kriminalpolitisch durchaus beruhigenden Befund„.8 Obschon man einräumt, dass die Lage in Europa differenziert betrachtet werden muss, ist man zu dem Ergebnis gekommen, dass die „Mafia„ oder andere endemische Strukturen den Staat, die Wirtschaft oder die Gesellschaft nicht dergestalt im Griff hätten, dass man wirklich von einer unmittelbaren Gefährdung der Bevölkerung oder des demokratischen Gemeinwesens sprechen könne.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass keine einheitliche Meinung über die Erforderlichkeit eines offiziellen Begriffs der OK existiert. In Deutschland gibt es dementsprechend neben dem Organisationstatbestand der „kriminellen Vereinigung„ (§ 129 StGB) auch keinen materiell-strafrechtlichen Tatbestand „Organisierte Kriminalität„. Diese Lage unterscheidet sich insoweit von Italien und den USA und den Bemühungen, auf europäischer Ebene zu einer Vereinheitlichung der begrifflichen Grundlagen für die Bekämpfung der OK zu gelangen.9 In Deutschland gibt es zwar eine Richtlinie zur Bekämpfung der OK, die aber keine hinreichend exakte Definition der OK enthält.10 Beschrieben wird vielmehr ein phänomenologisches Feld von (auch) kriminellen Aktivitäten.11 Der deutschen Strafverfolgungspraxis sollen die Ansätze der Richtlinie helfen, OK als Qualifikation „normal-kriminellen„ Verhaltens zu verstehen, um bestimmte, meist deliktsübergreifende Aktivitäten und ihre gesellschaftsbedrohende Wirkung zu beurteilen. Sie sind also nicht mehr als ein weit gespannter Orientierungsrahmen für Ermittlungen, dem neben einer allgemeinen Ordnungsfunktion auch wichtige andere Funktionen zukommen, wie etwa die Begründung von Zuständigkeiten oder von besonderen Ermittlungsmaßnahmen.12
Der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) lassen sich keine detaillierten und zugleich schlüssigen Nachweise über den Umfang der Delikte entnehmen, die einen erkennbaren Bezug zur OK haben. Auch die Strafverfolgungsstatistik ist insoweit unzureichend. Die dort verfügbaren Daten beziehen sich nur auf bekannt gewordene Straftaten oder ermittelte bzw. abgeurteilte Personen. Dagegen enthalten die bei den Staatsanwaltschaften geführten Statistiken seit Januar 1998 Daten darüber, ob das jeweilige Ermittlungsverfahren eine Strafsache der OK betrifft. Anders als in den gesonderten Lageberichten des Bundeskriminalamtes (BKA) werden in der genannten Statistik tendenziell jedoch nur Einzelhandlungen und Einzelpersonen abgebildet. In den Lageberichten und -bildern stehen dagegen größere Ermittlungsverfahren oder sogar Ermittlungskomplexe im Zentrum der Erfassung. Es ist anerkannt, dass die Kategorien der statistischen Nachweise für die Erfassung der Bedrohung durch die OK ungeeignet sind. Die Untersuchungen bleiben an der Oberfläche. Häufig werden zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens Straftatbestände zugrunde gelegt, weil dies für die Begründung von Eröffnungszuständigkeiten oder für Zwangsmaßnahmen erforderlich erscheint, während am Ende der Ermittlungen ein Verzicht nahe liegt.13 Die Gründe sind praktischer Natur. Professionelle Gegenmaßnahmen der Täter oder der hinter ihnen stehenden Strukturen bewirken die „Ausdünnung„ ursprünglich überzeugender Ermittlungsansätze. Anfangshinweise von V-Personen oder verdeckten Ermittlern lassen sich nicht zu einem in der Hauptverhandlung durchsetzungskräftigen Beweisbild verdichten. Solche und andere Umstände erklären auch den „Zahlenschwund„ von der Ebene der bekannt gewordenen Straftaten und ermittelten Tatverdächtigen zur Ebene der gerichtlich Abgeurteilten.
In Deutschland erstellt das BKA seit 1991 in Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern, der Grenzschutzdirektion Koblenz und dem Zollkriminalamt in Köln Lagebilder zur OK. Anfänglich stützte sich die Lageerhebung vor allem auf die verfügbaren statistischen Daten. Die im Berichtszeitraum anhängigen OK-Verfahren werden nach wie vor anhand eines Erhebungsrasters auf der Grundlage der „amtlichen„ Begriffsbestimmung erhoben. Die entsprechenden Daten übermittelt man nach einer Plausibilitätsprüfung in den Zentralstellen dem BKA in elektronischer Form.
Mittlerweile bemüht man sich um eine Fortentwicklung der Lagebilder, indem man qualitative Aspekte stärker hervorhebt. Für diesen Zweck wird seit 1998 eine „Strukturanalyse„ betrieben. Deren Ergebnisse fließen ebenfalls in das Lagebild ein.14 Die Strukturanalyse soll eine qualitative Bewertung der in Deutschland vorhandenen Gruppenstrukturen ermöglichen. Darüber hinaus sollen Besonderheiten der OK-relevanten Kriminalitätsbereiche erkannt werden. Letztlich will man eine Dimensionierung des Gesamtphänomens und einen sachgerechten Ressourceneinsatz ermöglichen. Ziel der Bewertungen ist die Festlegung eines
„OK-Potentials„.
Darin soll sich der Organisations- und Professionalisierungsgrad einer Tätergruppierung widerspiegeln.15

Die Ergebnisse der regierungsamtlichen Beschäftigung mit der OK lassen sich für Deutschland zusammenfassen16:

  • Bei der „OK„ handelt es sich nicht um einen eindeutig definierten Begriff, mit dem sich eine eindeutig gegebene Wirklichkeit erschließen lässt.
  • Die Annäherung an das Phänomen ist unter verschieden Perspektiven möglich, so dass entsprechend unterschiedliche Ergebnisse erzielt werden.
  • Die OK zeichnet sich durch eine große Spannbreite aus, die von klassischer Bandenkriminalität über kriminelle Vereinigungen bis hin zu so genannten Syndikaten reicht.
  • Die entwickelte OK ist nicht auf die Begehung Straftaten reduziert, sondern zeichnet sich typischerweise durch die Schaffung und Aufrechterhaltung stabiler persönlicher Beziehungen und interpersonaler Netzwerke aus.
  • Die gegenwärtige empirische Forschung über OK reicht nach wie vor nicht, um ein insgesamt aussagekräftiges und überzeugendes Bild dieser Kriminalitätsform zu zeichnen.
  • Ungeachtet der ausgeprägten Professionalisierung und Internationalisierung verschiedener Tätergruppen, ist es der „Mafia„ (welchen Ursprungs auch immer) in Deutschland nicht gelungen, eine „Parallelgesellschaft„ zu errichten und die Fundamente von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu bedrohen.
  • Die internationale OK stellt zwar ein beachtliches Bedrohungspotential dar, weil sie versucht, sich durch Gewalt, Drohung und Korruption rechtsfreie Räume zu schaffen. Deutschland ist aber (behauptet die Bundesregierung!) nach wie vor weit entfernt von der Situation in anderen Teilen der Welt, in denen die OK durch Verflechtungen in Politik und Wirtschaft bereits ein staats- und demokratiezersetzendes Ausmaß erreicht hat.
  • Mit der Globalisierung der Wirtschaft und der Öffnung der Märkte ist auch die Gefahr einer Globalisierung der OK verbunden.
  • Der technische Wandel (z. B. Internet17) hat zur weiteren Internationalisierung der OK beigetragen, so dass auch deshalb nationale Bekämpfungsstrategien schon lange nicht mehr ausreichen.
  • Es ist erforderlich, die Erträge aus der Tatbegehung im Rahmen der OK in einem möglichst hohen Umfang abzuschöpfen, um den OK-Gruppierungen die finanziellen Grundlagen zu entziehen.
  • Die deliktsbezogene Ausrichtung der Strafverfolgung bei Polizei und Justiz wird dem Phänomen der OK im Kern nicht gerecht.
  • Angesichts der von der OK für die Gesellschaft ausgehenden Gefahren ist eine ganzheitliche Wahrnehmung der OK im Sinne eines „Unternehmensansatzes„ erforderlich, wozu vor allem Analysen der Strukturen und der Logistik gehören.
  • Es müssen neue strategische Auswerteansätze entwickelt werden, um Risikoabschätzungen zu ermöglichen.
  • Die operativen Auswerteansätze sind ebenfalls zu intensivieren, wobei eine enge und frühzeitige Zusammenarbeit zwischen Polizei und spezialisierten Staatsanwaltschaften stattfinden muss.
  • Mit Hilfe von Strukturermittlungsmaßnahmen sollen unter Berücksichtigung des Unternehmensansatzes die kriminellen Organisationen getroffen und eine Bestrafung der Hintermänner erreicht werden.
  • Erfolge und Grenzen zunehmender europäischer Kooperations- und Koordinationsmaßnahmen müssen Gegenstand unabhängiger wissenschaftlicher Forschung werden.
  • Eine weitere Harmonisierung der rechtlichen und operativen Bedingungen in den Mitgliedstaaten der EU ist zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden OK notwendig.
  • Bilaterale Abkommen können dazu beitragen, die Hindernisse für eine grenzüberschreitende Strafverfolgung abzubauen.
  • Fortlaufende Initiativen auf der Ebene der EU und der UNO dienen dem Ziel, für bestimmte zu bestrafende Verhaltensweisen Vorgaben zu machen, die notwendigen Ermittlungsmethoden im nationalen Recht vorzusehen und eine stärkere Koordinierung der Ermittlungen herbeizuführen.

III. Soziale Kontrolle und Gerechtigkeit
Der Bereich der Wirtschaftsstraftaten hat nicht nur Berührungspunkte und Überschneidungen mit der OK. Von den zur OK gezählten Taten werden im entsprechenden Bundeslagebild derzeit ca. 12 % der Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben zugerechnet. Der Schwerpunkt der hier ermittelten Straftaten liegt im Bereich der Finanzierungsdelikte, der Anlage- sowie der Wettbewerbsdelikte.18 Fraglich bleibt, ob Wirtschaftskriminalität nicht grundsätzlich und immer eine Form der OK ist, vielleicht sogar deren höchst entwickelte und gefährlichste.
Die seinerzeit amtierende Bundesregierung war schon vor mehr als 30 Jahren zu einer bedenkenswerten Erkenntnis gelangt. In der Begründung zu ihrem Entwurf eines „Ersten Gesetzes zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität„ hatte sie im April 1975 hervorgehoben, dass eine Rechtsordnung, die dem Fehlverhalten eines durchschnittlichen Bürgers ohne Schwierigkeiten begegnen könne, jedoch vor Manipulationen von „Intelligenztätern„ im Wirtschaftsverkehr allzu oft die Waffen strecken müsse, dem Grundsatz der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz nicht genüge.19 Vor diesem Hintergrund war man bemüht, durch die beiden Gesetze zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität von 1976 und 1986, durch die beiden Gesetze zur Bekämpfung der Umweltkriminalität von 1980 und 1994 sowie durch zahlreiche Gesetze im Nebenstrafrecht das materielle Wirtschaftsstrafrecht zu reformieren und auch die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine effektivere Verfolgung entsprechender Taten zu schaffen.
Diese Bemühungen waren nicht im erforderlichen Maße erfolgreich, weil es auch für die Wirtschaftskriminalität an einem allgemein anerkannten und trennscharfen Begriff fehlt.20 Für die Bundesregierung geht es im Kern um Bereicherungskriminalität, die im Zusammenhang mit der (tatsächlichen oder auch nur vorgetäuschten) Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern oder der Erbringung und Entgegennahme von Leistungen des wirtschaftlichen Bedarfs verübt wird. Dabei ist nicht nur die Phase der aktiven Wirtschaftstätigkeit, sondern auch die der Gründung (z. B. Gründungsschwindel durch Angabe falscher Vermögensverhältnisse) und des Ausscheidens aus dem Wirtschaftsverkehr (Konkursdelikte) berücksichtigt.
In der Literatur gibt es Versuche, diese sehr weit geratene Definition einzuschränken. In der polizeilichen und justitiellen Praxis Deutschlands orientiert man sich unterdessen am Regelungsgehalt des § 74 c Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG).
Es liegt im Übrigen auf der Hand, dass die Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität durch das Wirtschaftssystem und durch die Wirtschaftsverfassung, durch die Sozialstruktur, den technischen Stand sowie die Wirtschaftsentwicklung bestimmt werden. Dementsprechend generieren Innovationen in Wirtschaft und Technik neue Formen dieser Delinquenz. Die nachfolgende Aufzählung von Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität kann daher weder vollständig noch abschließend sein:

  • Buchhaltungs- und Bilanzdelikte.
  • Steuerhinterziehung.
  • Insolvenzdelikte.
  • Wucher und Bestechung.
  • Nahrungs- und Genussmittelverfälschungen.
  • Wirtschaftsspionage.
  • Insidergeschäfte.
  • Illegale Arbeitnehmerüberlassung.
  • Produktpiraterie.
  • Betrügerische Warenterminoptionen.

Die Bundesregierung räumt ein, dass die in den Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken registrierten Fälle von Wirtschaftskriminalität nur einen Ausschnitt darstellen. Es ist nach wie vor unbekannt, wie groß dieser Ausschnitt tatsächlich ist, weil die erforderlichen Forschungen zum Dunkelfeld weitgehend fehlen. Die herkömmlich kriminologischen Instrumente versagen in diesem Delinquenzbereich weitgehend. Man kann gegenwärtig nur vermuten, dass das Dunkelfeld relativ groß ist. Für diese Situation gibt es strukturelle Gründe:

  • Mangelnde oder späte Kenntnisnahme des Delikts wegen der Involvierung juristischer Personen als Geschädigte.
  • Identität zwischen Mitwissern und Mittätern.
  • Mangel sozialer Kontrolle.
  • Hoher Anteil (50 %) von Kollektivopfern (z. B. Staat, soziale Einrichtungen).
  • Verflüchtigung der Opfereigenschaft bei Kollektivopfern.
  • Verringerte Wahrnehmung der Schädigung.
  • Reduzierung der Anzeigebereitschaft.
  • Hoher Anteil von Unternehmen unter den Individualopfern.
  • Gefahr der Selbstschädigung durch Anzeigerstattung (Schwarzgeldbesitzer als Opfer eines Kapitalanlagebetruges). • Bevorzugung zivilrechtlicher Mittel.
  • Diskretionsinteresse angesichts eines möglichen Imageschadens.

Aber auch außerhalb des Dunkelfeldes, also bei Umfang, Struktur und Entwicklung der registrierten Wirtschaftskriminalität gibt es kaum gesicherte Erkenntnisse. Die gegenwärtige Konzeption der amtlichen Statistiken erlaubt entweder die Erfassung der Wirtschaftskriminalität gar nicht oder nur höchst unvollständig.21 Die Schlussfolgerung ist eindeutig:
„Die Informationen über Wirtschaftskriminalität, die derzeit in den Kriminal- und Strafrechtspflegestatistiken sowie in einigen Sonderstatistiken verfügbar sind, lassen danach weder die Quantität noch die Qualität der amtlich bekannt gewordenen Wirtschaftskriminalität vollständig und hinreichend zuverlässig erkennen.„22
Als Planungs- und Informationsinstrument für den Gesetzgeber sind sie deshalb nur bedingt geeignet. Ungeachtet der Fehleranfälligkeit der gegenwärtigen Verfahren werden folgende Feststellungen verbreitet:

  1. Im Jahre 2005 betrug der Anteil der Wirtschaftskriminalität an der Gesamtkriminalität in Deutschland 1, 4 % (6, 4 Millionen: 89.224 Fälle).
  2. Im Schnitt der letzten zehn Jahre lag die Aufklärungsquote bei über 90 %, ein Umstand, welcher dem Charakter der Überwachungs- und Kontrolldelikte geschuldet ist.
  3. Im Jahre 2005 entfielen auf vollendete Straftaten der Wirtschaftskriminalität 2, 1 % aller Delikte mit Schadenserfassung in der PKS, aber 50 % der dort insgesamt erfassten Schadenssummen.
  4. Der Anteil der im Jahre 2005 wegen Wirtschaftskriminalität polizeilich ermittelten Tatverdächtigen an allen Tatverdächtigen belief sich auf lediglich 1, 7 %.
  5. Wirtschaftskriminalität wird in Deutschland überdurchschnittlich häufig von Erwachsenen und von Deutschen verübt.

Für die Bundesregierung ergibt sich daraus, dass Wirtschaftskriminalität nicht ein quantitatives, sondern ein qualitatives Problem ist.23
In staatsanwaltschaftlichen bundesweiten Erhebungen nach einheitlichen Gesichtspunkten im Zeitraum von 1974 bis 1985 stellte sich heraus, dass es sich bei ca. zwei Dritteln der Fälle schwerer Wirtschaftskriminalität um Delikte handelte, die unter dem Mantel einer Einzelfirma oder einer handelsrechtlichen Gesellschaft - vornehmlich einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, einer offenen Handelsgesellschaft oder einer Kommanditgesellschaft - begangen worden waren. Mangels entsprechender aktueller Erhebungen ist nicht bekannt, ob dies gegenwärtig noch zutrifft.
Im Jahre 2005 waren lediglich 4, 6 % aller registrierten Betrugsfälle der Wirtschaftskriminalität zuzuordnen. Eine genauere Analyse zeigt, dass lediglich die als Beteiligungs- und Kapitalanlagebetrug zusammengefassten Fallgruppen sowie der Kredit- und der Subventionsbetrug aus polizeilicher Sicht fast ausnahmslos die Kriterien für eine Zuordnung zur Wirtschaftskriminalität erfüllten. Nur der Kreditvermittlungsbetrug, der Abrechnungsbetrug sowie der Grundstücks- und Baubetrug zeigten mit Anteilen von 40 bzw. 27, 5 % noch eine deutliche Affinität zur Wirtschaftskriminalität. Zwar unterfallen 59 % des Wertpapierbetruges ebenfalls der Wirtschaftkriminalität. Es handelt sich aber nur um sehr wenige Fälle, so dass eine zurückhaltende Bewertung angebracht ist.
53, 3 % der Betrugsfälle, die der Wirtschaftskriminalität zugeordnet werden, fallen in die Restkategorie „sonstiger Betrug„. Dies erhellt die Vielfalt wirtschaftsstrafrechtlich relevanter Betrugsformen.24 Betrug gilt zwar als eine Haupterscheinungsform der Wirtschaftskriminalität. Es fehlen aber nach wie vor geeignete Kriterien, die den Betrug in seiner wirtschaftskriminellen Erscheinungsform von der allgemeinen Kriminalität trennscharf unterscheiden könnten. Immerhin besteht der Eindruck, dass ein Schwerpunkt der Betrugstaten die so genannten Finanzierungsdelikte sind. Darunter versteht man alle Deliktsformen im Zusammenhang mit der Vermittlung, Erlangung und Gewährung von Krediten, also insbesondere Betrugshandlungen im Rahmen der Abwicklung von Waren-, Leistungs- oder auch Geldkreditgeschäften.25
Seit es die „Sondererfassung Wirtschaftskriminalität„ in der PKS gibt, zeigen sich insgesamt zwar erhebliche Schwankungen der absoluten Zahlen wie der Häufigkeitszahlen, die vor allem auf einzelnen, komplexen Ermittlungsvorgängen mit zahlreichen Einzelfällen beruhen. Es ist aber kein eindeutiger Trend in Richtung eines Anstiegs erkennbar. Generell kann aus den Zahlen über polizeilich registrierte Wirtschaftskriminalität nicht auf eine entsprechende Veränderung im Dunkelfeld geschlossen werden. Umfang und Entwicklung der Wirtschaftskriminalität sind eben nicht nur davon abhängig, was tatsächlich geschieht, sondern auch davon, was angezeigt oder der Polizei durch eigene Ermittlungstätigkeit bekannt wird.
Die Wirtschaftskriminalität ist in jedem Fall durch eine hohe Sozialschädlichkeit gekennzeichnet, insbesondere wegen der durch sie verursachten materiellen Schäden. Die Bundesregierung hebt in diesem Zusammenhang jedoch ebenfalls hervor, dass insoweit verlässliche Angaben fehlen. In der Vergangenheit seien Globalschätzungen erfolgt, die weder hinsichtlich der Höhe noch hinsichtlich des behaupteten Anstiegs der Schadenssummen hinreichend begründet gewesen seien. Eine entsprechend große Varianz bestehe bei den Schadensschätzungen für einzelne Wirtschaftsbereiche. Die PKS enthält – beschränkt auf das Hellfeld – immerhin Anhaltspunkte über die deliktisch verursachten Schäden. Erfasst werden aber nur die unmittelbare Wertminderung, nicht die Folgeschäden und nicht die mittelbaren Schäden. Man darf dabei nicht vergessen, dass komplexe Ermittlungsverfahren mit zahlreichen Einzelfällen nicht nur bei der Fallzählung zu teilweise außergewöhnlich großen Schwankungen führen, sondern auch bei der Schadenserfassung, die deshalb nicht mehr als eine erste Orientierungsgröße sein kann. Unter diesen und anderen Einschränkungen ist der PKS zu entnehmen, dass sich im Jahre 2005 der Schaden bei sämtlichen mit Schadenssummen erfassten 3, 6 Millionen vollendeten Fällen auf 8, 4 Milliarden Euro belief. 2, 1 % dieser Fälle waren der Wirtschaftskriminalität zuzuordnen, die immerhin 50 % der Gesamtschadenssumme ausmachten, also 4, 2 Milliarden Euro.26
In der Wirtschaftskriminalität ist grundsätzlich eine Verschiebung hin zu den schwereren Schadenskategorien zu beobachten, relativ wenige Fälle verursachen also hohe Schäden. Dennoch zeigt die Entwicklung der durch Wirtschaftskriminalität verursachten Schäden keinen eindeutigen Trend. Die z. T. erheblichen Schwankungen werden offenbar durch einzelne Großverfahren verursacht. Dabei handelt es sich um die Folge der Erfassungsregel, die Fall- und Schadenserfassung insgesamt dem Berichtsjahr zuzuschlagen, in dem das polizeiliche Ermittlungsverfahren abgeschlossen wurde.
Die Bundesregierung glaubt, dass die immateriellen Schäden, die durch Wirtschaftskriminalität verursacht werden, noch gravierender seien als die materiellen. Das Spektrum ist weit:

  • Folgewirkungen von Wettbewerbsverzerrungen.
  • Ansteckungs- und Sogwirkungen auf Mitbewerber.
  • Begleitkriminalität im Rahmen der Unterstützung durch Dritte.
  • Gefährdung rechtstreuer Geschäftspartner durch Kettenreaktion nach wirtschaftlichem Zusammenbruch.
  • Gesundheitliche Gefährdungen und Schädigungen.
  • Schwund des Vertrauens bei Mitbewerbern und Verbrauchern in die Redlichkeit einzelner Berufs- und Handlungszweige und/oder gar in die Funktionsfähigkeit der geltenden Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.

Es versteht sich fast von selbst, dass es äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich ist, den durch Vertrauensverlust entstehenden Schaden zu beziffern.27 Insgesamt gelangt die Bundesregierung in ihrer Analyse der Wirtschaftskriminalität in Deutschland zu mehreren Ergebnissen und Perspektiven28:

  • Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalität.
  • Vom Durchschnitt deutlich abweichendes Täterprofil.
  • Essenzielle Bedeutung der Verhinderung und Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität für das Funktionieren einer marktwirtschaftlichen Ordnung.
  • Hohes öffentliches Interesse an der effektiven Verfolgung von Wirtschaftsstraftaten.
  • Erforderlichkeit ausreichender polizeilicher und justizieller Ressourcen.
  • Institutioneller Ausbau und Bündelung von Spezialwissen.
  • Einbeziehung von Wirtschaftsprüfern bei der Gewinnabschöpfung.
  • Konsequenter Ausbau der Kooperation mit den betroffenen Wirtschaftszweigen.
  • Prävention durch Transparenzvorschriften innerhalb der Wirtschaftskreise.
  • Verbesserung der „Corporate Governance„ (Information der Kontrollgremien, Sicherung der Unabhängigkeit dieser Gremien, Frühwarnsystem, internes Controlling, Beurteilung durch Abschlussprüfer).
  • Besondere Berücksichtigung der internationalen Verflechtungen und der Globalisierung der Märkte.

IV. Schlussbemerkungen
Es ist hoffentlich deutlich geworden, dass der Begriff „OK„ wie kaum ein anderer durch Mythen, Schätzungen und Spekulationen geprägt ist. Dessen ungeachtet wird mittlerweile von der OK sogar als „Wirtschaftsform„ gesprochen.29 In unserem Zusammenhang geht es nicht um „die Mafia„ als eine konkrete historische und leider auch aktuelle Variante der OK in Italien.30 Es handelt sich vielmehr um ein globalisiertes System unkontrollierbarer Macht. Der Begriff ist als Metapher zu verstehen, die für Machtmissbrauch in verschiedener Weise steht. OK ist nicht nur ein Merkmal strukturschwacher Gesellschaften. Sie hat sich mittlerweile in allen Wirtschaftsordnungen und politischen Systemen etabliert. Keine hierarchische Ebene in Wirtschaft, Verwaltung und Politik ist ausgenommen.
Das Postulat der Unterscheidbarkeit von Gewinn und Beute hat offensichtlich den Überzeugungswert eines Ammenmärchens bekommen. Steuerhinterziehung, korruptive Praktiken und systemische Illegalität in weltweit agierenden Wirtschaftsunternehmen haben zu funktionellen und strukturellen Überschneidungen mit der OK geführt. Man kann zwar noch nicht von einer vollständigen Deckungsgleichheit zwischen bestimmten Unternehmen, Regierungen und Verwaltungen sprechen. In immer mehr Ländern ist aber jetzt schon zu beobachten, dass die Finanzierungsbedürfnisse von Parteien, die Machtinteressen von Politikern, die Gewinnorientierung von Konzernen und die Verführbarkeit von führenden Gewerkschaftsmitgliedern in gefährlicher Weise zusammenfließen.
Korruption ist zu einem der wichtigsten Funktionsprinzipien globalisierter Wirtschaft geworden.31 Sie hilft der OK auf ihrem Weg nach oben. Gewaltanwendung wird überflüssig. Vielleicht gerät wegen der dadurch möglichen geräuschlosen Effizienz in Vergessenheit, dass die Wirtschaftskriminalität in ihrer nationalen Bedeutung und in ihrer internationalen Verflechtung und Organisation eine „kapitale„ Gefahr ist, die immer größer wird. Mittlerweile drängt sich manchen die Frage auf, ob Wirtschaftskriminalität bereits ein spezieller Teil jener „anarchischen Shareholdervalue-Ökonomie„ geworden ist, die Spekulanten begünstigt, langfristige Investitionen behindert und dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg unmöglich macht.32
Wie dem auch sei: Alleine mit den Instrumenten des Strafrechts ist weder der konventionellen OK noch der Wirtschaftskriminalität mit dem erforderlichen Wirkungsgrad zu begegnen. Nötig sind unter anderem stabile Leitlinien und Institutionen, z. B. klare und praktisch umsetzbare Richtlinien für „Compliance„ und „Corporate Governance„. Auf diese Weise könnten schließlich eine gute Unternehmensverfassung definiert und die Einhaltung von gesetzlichen Regelungen und internen Standards erleichtert werden.33
Die Empfänglichkeit bestimmter Charaktere für rechtliche oder gar moralisierende Belehrungen bleibt unterdessen begrenzt. Dies gilt insbesondere für erfolgreiche Wirtschaftsführer, machtorientierte Politiker und geldgierige Kriminelle. Die Möglichkeiten des Strafrechts für eine ethisch-moralische Umerziehung sind unzureichend. Deshalb sollte man mit einer empirisch bewährten Logik operieren, die vor allem für den Bereich der Wirtschaftskriminalität attraktiv ist. Immerhin haben Studien in den USA gezeigt, dass der Ehrliche nicht zwangsläufig der Dumme sein muss. Der Aktionärsverband „Institutional Shareholders Services„ hat eine Untersuchung veröffentlicht, in der mehr als 5.000 Firmen im Hinblick auf Ethikgrundsätze und Buchprüfungsergebnisse durchleuchtet wurden. Nach den Ergebnissen der Studie waren die zehn verantwortungsvollsten Unternehmen um mehr als 11 % profitabler als die zehn verantwortungslosesten. Ihre Aktienkurse waren weniger volatil, und ihre Dividenden lagen höher.34 Sollten diese Erkenntnisse verallgemeinerungsfähig sein und handlungsleitende Kraft entfalten, könnte die scheinbar unauflösbare Diskrepanz zwischen Eigennutz und Gemeinwohl vielleicht wieder auf ein erträgliches Maß verringert werden. Entsprechende Versuche hätten in der Tat eine bestechende Logik. Man könnte dann auch auf die Einführung einer „neuen Moral„ verzichten. Die Erinnerung an „alte Werte„ mag nämlich reichen, selbst wenn sich der vermeintlich progressiv-aufgeklärte und angeblich sachverständige Zeitgeist schon wegen der Wortwahl mit Grausen abwenden wird.

Die bisherigen Feststellungen und Bewertungen führen zu folgenden Thesen:

  1. Mit den in amtlichen Berichten angewandten Methoden ist die von der Organisierten Kriminalität ausgehende Bedrohung für Gesellschaft, Wirtschaft und Staat weder quantitativ noch qualitativ genügend realitätsnah zu erfassen.
  2. Die Trennschärfe des amtlich etablierten Begriffs „Organisierte Kriminalität„ ist u. a. wegen seiner mindestens doppelten Funktionalität als Diskriminierungstatbestand und legitimatorische Floskel unzureichend.
  3. Gesellschaftliche Anomie und wirtschaftliches Gewinnstreben können sich in Strukturen verdichten, die teilidentisch mit Organisierter Kriminalität sind.
  4. Die Finanzierungsbedürfnisse politischer Parteien und die korruptive Willfährigkeit von Staatsbürokratien eröffnen der Organisierten Kriminalität Einflussmöglichkeiten mit größter Hebelwirkung.
  5. Organisierte Kriminalität ist auch eine Folge der egomanisch-asozialen Energien, die Amts- und Funktionsträger in Wirtschaft, Verwaltung und Politik für den Erwerb und die Verteidigung ihrer Machtpositionen entwickeln.
  6. Die effiziente polizeiliche Verhütung und Verfolgung der Organisierten Kriminalität scheitert oft daran, dass sie in etlichen Staaten „nur„ die radikale Ausprägung administrativer, ökonomischer, militärischer und politischer Machtverhältnisse ist.
  7.  In der Organisierten Kriminalität spiegeln sich die ethisch-moralischen Selbstwidersprüche sozialer Systeme und die Lebenslügen bürgerlicher Wohlanständigkeit.
  8. Bei der Wirtschaftskriminalität handelt es sich regelmäßig um eine hoch entwickelte und besonders schädliche Form Organisierter Kriminalität, deren Wahrnehmung ebenfalls an definitorischen und empirischen Mängeln leidet.
  9. Delinquenz im Wirtschaftsleben reflektiert die Eigenheiten des jeweiligen ökonomischen Systems, den Stand der Technik, den Grad der internationalen Verflechtung und kulminiert in grenzüberschreitend operierenden Konzernen, von denen manche zu einem Hort systemischer Illegalität degeneriert sind.
  10. Die rechtzeitige Verhinderung und wirkungsvolle Verfolgung der Wirtschaftskriminalität ist noch mehr als bei konventioneller Organisierter Kriminalität ein Gebot sozialer Gerechtigkeit, die jedoch regelmäßig verfehlt wird, weil mächtige Kollektive und Akteure in Wirtschaft, Verwaltung und Politik weltweit in Eigennutz und Anmaßung verstrickt sind.

Fußnoten:

1 Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 247 vom 24. Oktober 2007, S. 11.
2 Vgl.: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 256 vom 3. November 2007, S. 14 („Siziliens Unternehmer trumpfen gegen die Mafia auf„).
3 Timm, Kriminalistik 2007, 210.
4 Schorsch, Kriminalistik 2007, 236 ff.
5 Zweiter Periodischer Sicherheitsbericht vom 15. November 2006 (2. PSB), S. 441. Die Kapitel „Organisierte Kriminalität„ und „Wirtschaftskriminalität„ im Ersten Periodischen Sicherheitsbericht (2001) hatten seinerzeit kritische Reaktionen hervorgerufen: Hetzer, Kriminalistik 2001, 762 ff.; 767 ff.
6 2. PSB, S. 442, 443.
7 2. PSB, S. 444.
8 2. PSB, S. 445.
9 2. PSB, S. 446.
10 Es handelt sich fast schon um ein „kriminalpolitisches Mantra„: Hetzer, Kriminalistik 2007, 251.
11 Zu den Einzelheiten: 2. PSB, S. 447, 448.
12 2. PSB, S. 448.
13 2. PSB, S. 450.
14 2. PSB, S. 453.
15 2. PSB, S. 454.
16 2. PSB, S. 482 ff.
17 Über Wirtschaftskriminalität und Internet: Lippert/Sürmann, Kriminalistik 2007, 231 ff.
18 2. PSB, S. 220.
19 BT-Drs. 7/3441, S. 14.
20 Zur Definition und Lageentwicklung: Lippert/Knorre, Kriminalistik 2007, 222 ff. Ausführlich: Heißner, Die Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität -Eine ökonomische Analyse unternehmerischer Handlungsoptionen-, 2001.
21 Vgl. insgesamt: 2. PSB, S. 221.
22 2. PSB, S. 222.
23 2. PSB, S. 224.
24 2. PSB, S. 225.
25 2. PSB, S. 227
26 Vgl. insgesamt: 2. PSB, S. 231.
27 2. PSB, S. 232.
28 2. PSB, S. 218, 245.
29 Hetzer, wistra 1999, 126 ff.
30 Aus der fast unübersehbaren Fülle der Literatur werden hier nur wenige willkürlich ausgewählte Beiträge genannt: Arlacchi, Mafiose Ethik und der Geist des Kapitalismus, 1989; ders., Mafia von Innen – Das Leben des Don Antonio Calderone-, 1993; Dickie, Cosa Nostra -Die Geschichte der Mafia-, 7. Aufl. 2006; Klüver, Der Pate Letzter Akt -Eine Reise ins Land der Cosa Nostra-, 1. Aufl. 2007; Lupo, Die Geschichte der Mafia, 2002; Saviano, Gomorrha -Reise in das Reich der Camorra-, 2007.
31 Hetzer, Kriminalistik 2007, 251, 255. Vgl. auch: von Arnim (Hrsg.), Korruption und Korruptionsbekämpfung, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, Bd. 185, 2007; Claussen/Ostendorf, Korruption im öffentlichen Dienst, 2. Aufl. 2002; Dolata, Kriminalistik 2007, 217 ff.; 246 ff. Zu den internationalen Aspekten der Korruptionsbekämpfung: Korte, wistra 1999, 81 ff. und Wolf, NJW 2006, 2735 ff.
32 Leyendecker, Die große Gier - Korruption, Kartelle, Lustreisen: Warum unsere Wirtschaft eine neue Moral braucht -, 2007, S. 12.
33 Leyendecker, a. a. O., S. 13.
34 Zitiert nach Leyendecker, a. a. O., 19.