Grundlagen der kriminalistischen Tatortarbeit


Von Prof. Dr. Holger Roll, Güstrow1

1 Theoretischer Einstieg

„Überall dort, wo er geht, was er berührt, was er hinterlässt, auch unbewusst, all das dient als stummer Zeuge gegen ihn. Nicht nur seine Fingerabdrücke oder seine Fußabdrücke, auch seine Haare, die Fasern aus seiner Kleidung, das Glas, das er bricht, die Abdrücke der Werkzeuge, die er hinterlässt, die Kratzer, die er in die Farbe macht, das Blut oder Sperma, das er hinterlässt oder an sich trägt. All dies und mehr sind stumme Zeugen gegen ihn. Dies ist der Beweis, der niemals vergisst. Er ist nicht verwirrt durch die Spannung des Augenblicks. Er ist nicht unkonzentriert, wie es die menschlichen Zeugen sind. Er ist ein sachlicher Beweis. Physikalische Beweismittel können nicht falsch sein, sie können sich selbst nicht verstellen, sie können nicht vollständig verschwinden. Nur menschliches Versagen diese zu finden, zu studieren und zu verstehen kann ihren Wert zunichtemachen.“2

Somit hinterlässt jedes kriminalistisch relevante Ereignis Veränderungen in der Umwelt. Diese Veränderungen können materiell oder ideell sein. Das Erkennen, Festhalten und Aufbereiten insbesondere3 materieller Beweismittel steht im Vordergrund der kriminalistischen Tatortarbeit. Betrachtet man jedoch einige typische „Tatortdelikte“ (z.B. Wohnungseinbruchsdiebstahl, Sachbeschädigungen, vorsätzliche Branddelikte) so ist festzustellen, dass die Aufklärungsquote dieser Delikte unter dem arithmetischen Mittel der Gesamtkriminalität liegt.


Abb. 1: Ausgewählte Delikte und ihre Aufklärungsquoten

Allgemeine Gründe für diese geringere Aufklärungsquote sind z.B., dass

  • es für die Begehung der Straftaten eher selten Zeugen gibt,
  • die Tatorte meist gut auszukundschaften sind,
  • es oftmals durch die Geschädigten kein weiteres Interesse an der Aufklärung des Delikts gibt, wenn bereits eine Entschädigung durch die Versicherung erfolgte,
  • die Delikte überregionalen Seriencharakter aufweisen können, was das Erkennen und das Zuordnen einzelner Delikte zu dieser Serie schwierig macht (verschiedene Zuständigkeiten).

Daneben existieren deliktspezifische Ursachen für die geringere Aufklärungsquote, wie z.B. beim Einbruchsdiebstahl: ein geschützter Raum der Begehung der Tat, ein relativ einfacher modus operandi, z.T. ein längerer Zeitraum zwischen Begehung und Entdeckung. Bei Brandstiftungen wären als Ursachen zu benennen durch Zerstörung vernichtete Spuren, unklare Motivlagen und bei Sachbeschädigungen wirken sich z.B. die kurze Dauer der Handlung, das Ausnutzen der entsprechenden tatsituativen Umstände, selten Zeugen und die rechtliche Konstellation eines Antragsdeliktes negativ aus.

Ein weiterer Ursachenkomplex für die unter dem Durchschnitt der Gesamtkriminalität liegende Aufklärungsquote könnte aber auch darin bestehen, dass die Tatortarbeit nicht die Qualität aufweist, die es ermöglicht, die Wahrheit zu ermitteln und die Straftat aufzuklären8. Analysiert man die kriminalistische Fachliteratur9, so wird deutlich, dass sich das methodische Vorgehen der Tatortarbeit stark an der Abfolge der Handlungen beim Ersten Angriff orientiert. Einsatztaktische Abläufe10 sind in Abhängigkeit vom Sachverhalt notwendig, nicht immer sind sie aber auch für die kriminalistische Tatortarbeit zweckmäßig. Im Rahmen dieses Artikels soll das kriminalistische Handeln im Vordergrund stehen, was nicht heißt, dass das einsatztaktische Handeln (z.B. gefahrenabwehrende Maßnahmen) vernachlässigt werden darf.

Die Arbeit des Kriminalisten am Tatort ist geprägt durch

  • die geistige Tätigkeit (kriminalistisches Denken) und
  • den methodischen Aspekt der Umsetzung der Erkenntnisse im Rahmen der Tatortarbeit.

Gegenstand der Erkenntnis am Tatort sind die vom Kriminalisten festgestellten Wirkungen einer Straftat oder eines Vorfalls. Nur durch das Erkennen dieser kann effizientes kriminalistisches Denken einsetzen. Wer keine Spuren sucht und findet, kann noch so ein findiger Denker sein – es wird ihm nichts nützen.

Jeder Denkprozess stellt11, sofern er sich in Form von Operationen vollzieht und auf die Lösung konkreter Aufgaben gerichtet ist, einen aktiven und zielstrebigen Willensakt dar. Diese Gerichtetheit des Denkens macht auch das Wesen der gedanklichen Arbeit des Kriminalisten am Tatort aus, wobei das konkrete Wissen um die Erkenntnisstruktur von nicht unerheblichem Nutzen ist.

Ein wesentliches methodisches Prinzip kriminalistischer Arbeit besteht darin, kriminalistische Phänomene in ihrer Entstehung, Entwicklung und Veränderung zu sehen. Dies betrifft z.B. den Entstehungs-, Veränderungs- und Vergehensmechanismus von Spuren oder die Beurteilung des Tatortes in seinen einzelnen kriminalistisch relevanten Entwicklungsetappen (vor der Tat, während der Tat, nach der Tat, bei Feststellung der Tat). Dieser Erkenntnisprozess verläuft nicht immer fehlerfrei und das kann er auch nicht. Ziel soll es deshalb sein, methodische Hinweise zur gedanklichen und praktischen Tätigkeit des Kriminalisten am Tatort abzuleiten und mögliche Fehlerquellen aufzuzeigen.