Die „Muhajirat“:

Warum reisen Frauen ins Herrschaftsgebiet des IS?


Von Dr. Britt Ziolkowski

Der so genannte Islamische Staat (IS) vertritt als islamistisch-salafistische Organisation eine rigide Geschlechterideologie. Frauen dürfen sich im IS-Herrschaftsgebiet nur vollverschleiert in der Öffentlichkeit zeigen. Mit neun Jahren gelten sie als reif für die Ehe. Polygynie erlaubt dem Mann bis zu vier Ehefrauen zu haben. Auf den ersten Blick erscheint dies für uns abschreckend: Welche Frau möchte freiwillig Teil dieser Praxis sein?

In der Tat gab es eine Reihe von Frauen, die sich freiwillig auf den Weg von Deutschland nach Syrien und den Irak gemacht haben, um im Herrschaftsgebiet des IS zu leben. Das BKA hat in seiner Studie zu Radikalisierungsverläufen von Syrien- und Irak-Reisenden offengelegt, dass der Frauenanteil unter den Ausgereisten 21 Prozent beträgt, es waren mehr als 150 Frauen.1 Einige der Frauen werden nicht freiwillig im engeren Sinne, sondern eher aus familiär-sozialen Gründen (wie die Ausreise mit dem Ehemann) ins Krisengebiet aufgebrochen sein. Ein Großteil der Frauen scheint jedoch aus einem Eigenantrieb ausgereist zu sein.2 Warum ist das so? Warum ist die Ausreise ins IS-Herrschaftsgebiet attraktiv für einige Frauen?
Das BKA hat in seiner Studie herausgearbeitet, dass der Wunsch, in einer islamischen Gesellschaftsordnung zu leben und/oder einen IS-Kämpfer zu heiraten, wichtige Ausreisemotive der Frauen sind.3 Beide Punkte stehen in engem Zusammenhang mit der Geschlechterideologie des IS. Wollen wir diese für Frauen zentralen Ausreisemotive verstehen, müssen wir uns also mit der Geschlechterideologie des IS auseinandersetzen. Das ist nicht nur vor dem Hintergrund der eruierten Ausreisemotive relevant, sondern auch, weil die Geschlechterideologie innerhalb des islamistischen Gedankenguts insgesamt eine zentrale Rolle einnimmt. Islamisten streben nach einer – so propagieren sie – gottgewollten Ordnung, die einhergeht mit einer vermeintlich moralischen Gesellschaft. Die vermeintlich moralische Gesellschaft wiederum bedingt entsprechend dieser Logik eine vermeintlich moralische Familie. Frauen kommt damit eine besondere Bedeutung für das Streben nach der islamistischen Gesellschaftsutopie zu.
Im Folgenden soll die propagierte Geschlechterideologie des IS analysiert werden. Es handelt sich also um das propagierte Ideal, das nicht zwingend mit der Praxis im IS-Herrschaftsgebiet übereinstimmt. In die tatsächliche Praxis haben wir bisher kaum verifizierbare Einblicke. Sicher, es gibt Frauen, die auf ihren Facebook-Profilen vom Leben im „Kalifat“ berichten, andere richten dafür Blogs ein – aber wir können die Aussagen dieser Frauen kaum überprüfen. Für die Frage, warum der IS für einige Frauen attraktiv erscheint, ist die Praxis auch kaum relevant. Die Frauen haben vor ihrem Entschluss kaum eine Chance zu erfahren, was sie tatsächlich erwartet. Somit folgt der Entschluss, vor allem über das propagierte Ideal. Es ist die Propaganda, die von den Sympathisantinnen und ausreisewilligen Frauen wahrgenommen wird.
Als Grundlage der hier vorgestellten Analyse zur Geschlechterideologie wurden drei Publikationen herangezogen, die offiziell vom IS herausgegeben werden. Dabei handelt es sich um die beiden Online-Hochglanzmagazine „Dabiq“ und „Rumiyah“ sowie den Online-Newsletter „al-Naba“. „Dabiq“ und „Rumiyah“ sind an eine internationale Leserschaft gerichtet, die Magazine erscheinen in mehreren Sprachen, darunter auch Deutsch. „al-Naba“ erscheint auf Arabisch.
Auf den ersten Blick erscheinen die Publikationen ausschließlich an Männer adressiert. Regelmäßig gibt es jedoch Ausgaben, in denen ein ganzer Beitrag an die „Schwestern“, wie die Frauen häufig genannt werden, gerichtet ist. Und auch in den Beiträgen, die nicht explizit an Frauen gerichtet sind, finden wir geschlechtsspezifische Punkte, wie zum Beispiel Anweisungen für weibliches Handeln. Auffallend ist, dass sich Artikel und Beiträge, die die IS-Geschlechterideologie des IS tangieren, zuweilen doppeln: Mehrere Beiträge sind sowohl bei „al-Naba“ als auch in „Rumiyah“ erschienen. Wenngleich der IS in der Vergangenheit die explizit an Frauen gerichtete Agitation verstärkt hat, erweckt das den Eindruck, dass die Frauenrolle nach wie vor eine Nebenrolle in der Propaganda spielt. Es scheint nur wenige Autoren zu geben, die sich mit diesem Thema beschäftigen. So werden die Artikel also einfach nur kopiert und weitergeleitet.

Die „Hijra“ als Pflicht


Welches Frauenbild wird also in den genannten Publikationen transportiert? Eine zentrale Position nimmt die Rollenzuweisung ein. Dabei geht es zunächst um die regionale Verortung: Wo soll die Frau die ihr zugewiesene Rolle in Familie und Gesellschaft einnehmen? In den Publikationen wird die „Hijra“, also Ausreise, ins Herrschaftsgebiet des IS propagiert.
In einer „Dabiq“-Ausgabe beschreibt eine Frau, die sich als „Muhajira“ ausgibt, also eine Frau, die bereits ausgewandert ist, wie es ihr nach ihrer Ankunft im „Kalifat“ des IS ergeht: Es sei etwas „großartiges“ in einem Land zu sein, in dem „das Gesetz Allahs“ gilt. Zugleich betont sie, „erleichtert“ zu sein, „diese Pflicht“ ausgeführt zu haben.4 Denn in der Tat betrachtet der IS die „Hijra“ von Mann und Frau als Pflicht. Deutlich tritt dies in einem Bericht des Newsletters „al-Naba“ zu Tage, in dem die angebliche „Hijra“ einer deutschen Muslimin nachgezeichnet wird. Diejenigen, die nicht ins „Kalifat“ auswandern, werden in diesem Bericht mit einer Koransure eingeschüchtert, nach der ihnen die „Hölle“ droht.5

„Bleibt in euren Häusern“6


Angekommen im „Kalifat“ erwartet die Frauen, laut den Publikationen, ein binäres Rollenmodell, nach dem der Aktionsraum der Frauen vorrangig auf das Haus und den familiären Bereich beschränkt ist. Auffallend ist, dass konkrete Ausführungen zu den Aufgaben im Haus, vor allem die Kinderziehung, kaum berücksichtigt werden. In einer „Rumiyah“-Ausgabe widmete sich der IS der Frage, unter welchen Umständen die Frau sich außerhalb dieses Raumes und dieser Pflichten bewegen darf. Der IS beschreibt den Aktionsraum der Frau im Haus als „Grundlage“ ihres Lebens und Handelns. Das Überschreiten dieses Aktionsraums sei möglich, aber zugleich abhängig von der „Notwendigkeit“. Das Hinausgehen dürfe allerdings nicht zu einer „Gewohnheit“ werden, dies widerspreche der Scharia, womit die islamischen Regelungen zur religiösen Praxis und der menschlichen Beziehungen gemeint sind.7

Seite: 123weiter >>