„Geh´ mit (k)einem Fremden mit…!“

Kriminalprävention in der Praxis (Teil 1)


Von Rudi Heimann und Dr. Jürgen Fritzsche, Selters/Luxemburg1

 

Wer kennt diesen Satz nicht, hat ihn als Kind mahnend von seinen Eltern gehört oder bereits selbst schon als schützenden Ratschlag benutzt? Dieser Beitrag setzt sich mit der Sinnhaftigkeit solcher Verhaltensempfehlungen auseinander und zeigt eine lebensnahe Alternative auf, mit der die Sicherheit von Kindern verlässlich gesteigert werden kann. Eine solche Empfehlung in Richtung fremder Menschen geht von der Annahme aus, dass diese eine potentielle Gefahr darstellen – zumindest, wenn sie Kinder dazu auffordern oder überreden wollen, mit ihnen mitzukommen. Wenn dieser Fall eintreten würde, bleibt die Frage, was die Absichten dieser fremden Person sein könnten? Werden Eltern dazu gefragt, so liegt deren größte Angst in dem Thema sexueller Missbrauch. Nun aber stammen rund zwei Drittel aller Täterinnen und Täter im Bereich des sexuellen Missbrauchs aus dem direkten Nahbereich der Kinder; es handelt sich um Eltern, Verwandte und Bekannte2 und eben nicht um Fremde.

Mit dieser Realität entsteht für Eltern ein Dilemma: Soll das Kind vielmehr vor bekannten Personen gewarnt werden? Wie genau sollte eine solche warnende Erklärung aussehen, ohne das Kind dauerhaft zu verängstigen? Und wie sollten Eltern die anderen realen oder abstrakten Gefahren des Alltags abdecken? Da gibt es diesen Onkel, Bruder eines Elternteils, der gerne zu tief ins Glas schaut und dann auch noch Auto fährt. Heute ist er wieder unterwegs, kommt zufällig am Schulweg des Kindes vorbei, spricht es an und bietet an, es nach Hause zu fahren.

 

 

1 Ist fremd = fremd?


Und auch ohne das Wissen um die wahre Herkunft von Tätern: Sind denn die dem Kind bekannten Personen diejenigen, denen Eltern absolut vertrauen sollten? Gibt es unterschiedliche Abstufungen von „Fremden“ – und gehen in diesen Momenten Eltern und Kinder von der gleichen Stufe aus? Da ist der Nachbar, der jeden Morgen aufmerksam grüßt, wenn die Eltern und die Kinder gemeinsam das Haus verlassen, mit dem auch sonst in Gegenwart der Kinder stets freundliche Worte gewechselt werden. Dieser Nachbar – um jedes Klischee zu bedienen – läuft jedoch auch gelegentlich im weißen gerippten Unterhemd durch seinen Garten, achtet nicht besonders auf seine Körperpflege und schaut auch manchmal ein wenig zu lange in Richtung der Kinder. Wie reagieren Eltern, wenn ihnen ihr Kind beiläufig mitteilt, dass es am nächsten Tag zu dem freundlichen und bekannten Nachbarn gehen möchte, um sich dessen Schildkröten anzuschauen?

Wenn diese Mitteilung erfolgt, sollten Eltern noch dankbar dafür sein, dass ihnen die Möglichkeit gegeben wird, auf das Verhalten des Kindes einzuwirken. In den meisten Fällen dürfte das Kind der sicherheitskritischen Situation alleine gegenüberstehen und wird auf den aktuellen elterlichen Rat verzichten müssen – verbunden mit der Problematik, die Sachlage richtig einzuschätzen. Denn die Zahl der Beispiele, in denen sich selbst Erwachsene in ihrer Einschätzung nicht einig sind, sind zahlreich: Sind alle Trainer aus Sportvereinen, alle Elternteile von Mitschülern, alle Lehrkräfte oder alle Partner von allen Freunden und Bekannten gleichermaßen vertrauenswürdig? An dieser Stelle merken Eltern häufig an, dass sie mit ihren Kindern vereinbart hätten, dass sie sich in einem solchen Fall absprechen müssten oder sie in Zweifelsfällen telefonisch immer erreichbar wären. Doch wo bleibt bei diesen Gedanken die Lebensrealität? Das Mobiltelefon befindet sich in einem Funkloch, wurde vergessen, darf in der Arbeitsumgebung nicht benutzt werden oder der Akku ist leer. Und wenn tatsächlich ein Mensch mit schlechten Absichten vor dem Kind steht? Wartet diese Person dann seelenruhig ab, bis das Kind zu Ende telefoniert hat und seine elterlichen Anweisungen erhalten hat? Und wie sollen diese Anweisungen je nach Situation lauten? Unabhängig von der Illusion einer ständigen Erreichbarkeit und der irrigen Annahme, dass dem Kind in der Situation die Zeit, wie auch die Möglichkeit für einen Anruf bleibt: Das Kind muss in einem ersten Schritt Zweifel entwickeln. Denn wenn diese Zweifel nicht aufkommen, wird es keine Absprache und keinen Anruf geben.

 

 

2 Entwicklungsbedingte Phänomene


Alleine die altersbedingte Entwicklung macht es je nach Situation für das Kind unmöglich, sich an die elterlichen Regeln zu halten. So ist im vorschulischen Bereich das Selbstbild überwiegend positiv und zumeist unrealistisch. Dieser Optimismus hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten beruht einerseits auf den durch das Kind selbst festgestellten deutlichen Verbesserungen in den Bereichen der motorischen und geistigen Entwicklungen und andererseits auf dem Umstand, dass Erwachsene bei der Bewertung von Leistungen nicht mit Lob sparen, Fortschritte bewundern und kritische Äußerungen eher zurückhaltend nutzen. Weiterhin stellen Kinder dieser Altersgruppe nur sehr selten soziale Vergleiche an. Wertungen erschöpfen sich regelmäßig in Feststellungen zur eigenen Person wie „Ich kann Roller fahren“, „Meine beste Freundin heißt Carla“, „Ich habe ein großes Plastikauto“ oder „Ich habe blonde Haare“. Dies ändert sich allmählich in Richtung realistischerer Wahrnehmung der eigenen Person im Laufe des zweiten Schuljahres. Die – je nach Alter – eingeschränkte Fähigkeit von Kindern die Ansichten oder Perspektiven anderer Menschen von eigenen zu unterscheiden, macht erst ab einem Alter von etwa sechs bis sieben Jahren die Vermittlung von speziellen Selbstbehauptungstechniken sinnhaft.3 Ob ein Kind diesen Entwicklungsschritt des Perspektivenwechsels vollzogen hat, lässt sich mit dem Sally-Anne-Test feststellen. (Beitrag wird fortgesetzt)


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Anmerkungen

  1. Rudi Heimann ist Polizeivizepräsident im PP Südhessen, Kommentator der PDV 100 VS-NfD und Ressortverantwortlicher für die Ausbildung von Gewaltschutztrainern im Deutschen Karate Verband e.V. (DKV); Dr. Jürgen Fritzsche ist technischer Direktor des luxemburgischen Karateverbandes, ehemaliger Bundeslehrwart und wissenschaftlicher Koordinator des DKV.
  2. BKA (2021). Polizeiliche Kriminalstatistik 2020. Wiesbaden: Bundeskriminalamt.
  3. Kullmann K. & Heimann R. (2020). Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. In R. Heimann & J. Fritzsche (Hrsg.). Gewaltprävention in Erziehung, Schule und Verein. (S. 76). Wiesbaden: Springer.