Recht und Justiz

Anwalt der ersten Stunde

Von ORR Ass. jur. Frank Grantz, Altenholz

 

1 Einleitung

 

Unter dem Stichwort „Anwalt der ersten Stunde“ hat der bereits seit Erschaffung der StPO im Jahre 1877 existierende Grundsatz der Notwendigen Verteidigung durch die Umsetzung der sog. Prozesskostenrichtlinie2 der Europäischen Union eine neue Ausgestaltung in den §§ 140 ff. StPO erhalten. Die neue Gestaltung orientiert sich sowohl an dem in unserer Verfassung auf ewig3 festgelegten Rechtsstaatsprinzip, als auch am Art. 6 der EMRK, die bei uns im Range eines einfachen Bundesgesetzes Geltung findet. Während die Voraussetzungen für die Begründung einer notwendigen Verteidigung im Wesentlichen gleichgeblieben und nur teilweise ergänzt worden sind, ist das Bestellungsverfahren nahezu komplett neu gestaltet worden. Dieser Artikel soll eine kurze Übersicht über das neue Recht der notwendigen Verteidigung und die wesentlichen Auswirkungen für die polizeiliche Vernehmungspraxis geben.

 

2 Rechtliche Grundlagen


Aufgrund sekundären Europarechtes, der Richtlinie 2016/1919 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.10.2016, der sog. Prozesskosten Hilferichtlinie, hatte der bundesdeutsche Gesetzgeber die dort aufgeführten Regelungen bis zum 25.5.2019 umzusetzen. In diesem Zusammenhang hat das europäische Parlament auch deutlich herausgestellt, dass bereits aufgrund des Art. 6 EMRK dem Beschuldigten schon während der polizeilichen Vernehmung ein umfangreiches Recht auf Verteidigerbestellung zusteht und dieser Grundsatz bei der Neuregelung der Gesetzeslage beachtet werden musste. Unter zusätzlicher Beachtung des Rechtsstaatsprinzips aus Art. 20 III GG hat der Bundesgesetzgeber deshalb auch die Regelungen über die notwendige Mitwirkung eines Verteidigers im Strafverfahren neu gefasst.4 Dabei wurde der Grundsatz der notwendigen Verteidigung beibehalten, jedoch die einzelnen Vorschriften umgebaut und neu strukturiert.

2.1 Art. 20 III GG

Das Rechtsstaatsprinzip, das sich im Wesentlichen aus dem Art. 20 III GG herleitet und in Art. 28 I GG auch genannt wird, hat zentrale Bedeutung für das staatliche Handeln. Es begründet nicht nur den Grundsatz der Gewaltenteilung und der Verhältnismäßigkeit, sondern prägt das auch für die praktische Polizeiarbeit essentielle Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung sowie die Gewährung eines fairen justiziellen Verfahrens. In Zusammenhang mit dem Grundsatz der Menschenwürde aus Art. 1 GG, insbesondere auch der dazu entwickelten Objekttheorie des BVerfG5, muss daher jedem Beschuldigten, unabhängig von seiner finanziellen Situation, die Möglichkeit einer umfassenden Verteidigung ermöglicht werden. Die Vorgaben in den §§ 140 ff. StPO sind daher zwingend erforderlich, da es im Gegensatz zum Zivilverfahren, wo das Gesetz grundsätzlich die Möglichkeit der Prozesskostenhilfe bietet, eine solche im Strafrecht nicht gibt. Wenn eine entsprechende Verteidigung nämlich nur bei ausreichender Bonität möglich wäre, würden die zentralen Prinzipien unserer Verfassung ad absurdum geführt.

2.2 Art. 6 III EMRK

Art. 6 EMRK regelt explizit das Recht auf ein faires Verfahren. Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarats. Sie trat 1953 in Kraft und schützt die Menschenrechte und Grundfreiheiten aller Menschen in den Europarat-Mitgliedstaaten. Sämtliche Mitgliedstaaten haben die EMRK ratifiziert und sie gilt daher bei uns als einfaches Bundesrecht, welches durch die Rechtsprechung zu beachten ist.6 Die Verteidigungsgarantien des Art. 6 III EMRK werden in ständiger Rechtsprechung als Konkretisierungen des Rechts auf ein faires Verfahren verstanden, die konstitutive, aber nicht abschließende Erfordernisse eines fair geführten Strafverfahrens darstellen.7 Sie gewährleisten Verteidigungsrechte, die dem Angeklagten mindestens zustehen müssen.8

2.3 Das Gesetz zur notwendigen Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung

2.3.1 Allgemeines

Die besondere Forderung nach einer Änderung bzw. Ergänzung der Vorgaben über die notwendige Verteidigung zeigte sich auch bezogen auf die Entscheidung des EGMR vom 9.11.2018.9 Im dortigen Orientierungssatz heißt es: „Wurde der Beschuldigte von der Polizei und dem Ermittlungsrichter befragt, ohne einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen oder ihn hinreichend über sein Schweigerecht zu informieren, und wurden die ausführlichen Erklärungen, die der Beschuldigte während des während des Polizeigewahrsams und der Untersuchungshaft abgegeben hat, später als Beweismittel zugelassen, ohne angemessene Prüfung der Umstände, unter denen diese Aussagen gemacht wurden, oder den Auswirkungen der Abwesenheit eines Rechtsbeistands, stellt diese Beschränkung des Rechts des Beschuldigten auf Zugang zu einem Rechtsanwalt einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens des Art. 6 Abs. 1  EMRK sowie des Rechts auf einen Verteidiger aus Art. 6 Abs. 3 Buchst. c EMRK dar.“


Der EGMR hat damit festgelegt, dass der Beschuldigte während des gesamten Verfahrens, und damit auch während des Ermittlungsverfahrens, einen Anspruch auf konkrete und wirkliche Verteidigung hat. Es sollen durch diese Möglichkeit Fehlurteile vermieden werden und eine Art Waffengleichheit zwischen der Strafverfolgungsbehörde und dem Beschuldigten verwirklicht werden.10 Hierüber ist der Beschuldigte auch zu belehren.11


Diese grundsätzliche Forderung wird im deutschen Strafprozessrecht bereits über die Belehrungspflichten aus § 163a IV i.V.m. § 136 StPO umgesetzt, in dem der Beschuldigte über die Möglichkeit der Hinzuziehung eines Anwalts zu belehren ist und die Strafverfolgungsbehörde sogar verpflichtet ist, ihm die Möglichkeit dazu aufzuzeigen.12 Diese Belehrung hat auch unverzüglich zu erfolgen, unabhängig vom Alter, der Lage oder der bereits bestehenden Wahlverteidigung des Beschuldigten.13


Der Beschuldigte hat grundsätzlich die Möglichkeit sich einen Wahlverteidiger zu bestellen oder aber auch im Falle der notwendigen Verteidigung einen Anwalt zugeteilt zu bekommen. Das Recht auf Verteidigerbeistand ist fundamentaler Bestandteil eines jeden fairen Verfahrens.14 Verfügt der Beschuldigte nicht über die Mittel einen Verteidiger zu bezahlen, muss er den Beistand eines Verteidigers unentgeltlich erhalten.15 Dabei ist es regelmäßig auch geboten dem Beschuldigten einen Anwalt seines Vertrauens als Pflichtverteidiger zuzuordnen.16 Dieses schließt jedoch nicht aus, dass der Beschuldigte die Kosten des Pflichtverteidigers der Staatskasse nachträglich zu erstatten hat soweit er hierzu wirtschaftlich in der Lage ist.17


Durch das Gesetz zur notwendigen Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung vom 10.12.201918 wurden diese Grundsätze nun in der StPO unter Beibehaltung des Instituts der Pflichtverteidigung umgesetzt. Voraussetzung für die Beiordnung eines Verteidigers sind damit natürlich auch weiterhin wesentliche materielle Kriterien des jeweiligen Verfahrens, nicht jedoch auch die Bedürftigkeit des Schuldigen.19 In systematischer Hinsicht stellt § 140 StPO abschließend die Voraussetzungen fest, in welchen die notwendige Verteidigung vorliegt, während die §§ 141 ff. StPO die Einzelheiten des Bestellungsverfahrens regeln. Eine wesentliche Neuerung ist dabei auch, dass grundsätzlich bei Vorliegen der Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung ein Antrag des Beschuldigten vorgesehen ist. Die Notwendigkeit der Verteidigung als essenzielle Voraussetzung für die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist damit regelmäßig bereits im Ermittlungsverfahren anzunehmen.20 Eine Pflicht zur Bestellung eines Pflichtverteidigers bereits im Ermittlungsverfahren bestand in der alten Fassung des § 140 I grundsätzlich nicht.21

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