Kriminalitätsbekämpfung

Audiovisuelle Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten

Handlungsanleitung zur Implementierung (Teil 1)


Von POK`in Ann-Kristin Langletz M.A. und Prof. Dr. Rita Bley, Cloppenburg/Güstrow1

 

Von der inzwischen seit mehr als 20 Jahren bestehenden Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung wird auch heute, trotz der stetigen Ausdehnung des Anwendungsrahmens, kaum Gebrauch gemacht. In diesem Artikel soll ergründet werden, wie den offensichtlich bestehenden Hindernissen entgegengewirkt werden kann, um die Akzeptanz zu erhöhen und Videovernehmungen als Routinevorgang in die Bearbeitung von Sexualdelikten zu tradieren. Aus den gewonnenen Ergebnissen wurde eine Handreichung entwickelt, welche aus einer empirischen Forschung zum Thema der audiovisuellen Vernehmung die wichtigsten Rechtsvorschriften zur audiovisuellen Vernehmung und Grundsätze zur Durchführung zusammenfasst. Im ersten Teil werden die rechtlichen Voraussetzung und viktimologischen Grundlagen dargestellt, in der nächsten Ausgabe folgen der empirische Teil mit der entwickelten Handreichung.

 

 

1 Ausgangslage

 

Bereits 1998 fand im Rahmen des Zeugenschutzgesetzes der § 58a StPO Aufzeichnung der Vernehmung in Bild und Ton Einzug in die StPO.2Im Gesetzesentwurf heißt es: „Der Zeuge ist eines der wichtigsten strafprozessualen Beweismittel. Seinem Anspruch auf ein faires Verfahren und die Wahrung seiner berechtigten Interessen muß das Strafverfahrensrecht Rechnung tragen.“3Die Einführung des § 58a StPO (i.V.m. § 255a StPO) zielte vorrangig darauf ab, dem Richter die Möglichkeit zu eröffnen eine erneute Aussage des Opfers in der Hauptverhandlung durch das Abspielen der aufgezeichneten früheren Vernehmung zu verhindern und dadurch sekundäre Viktimisierung im Verfahren zu reduzieren. Durch die frühzeitige Aufzeichnung und Konservierung der ersten Aussage des Opfers wird eine große Aussagekraft der Vernehmung erzielt. Die Erinnerungen sind weitgehend unbeeinflusst und die Schilderungen des Opfers können durch die Bild- und Tonaufzeichnung in Gestik und Mimik nachvollzogen werden.4 Doch von der inzwischen seit mehr als 20 Jahren bestehenden Möglichkeit der audiovisuellen Aufzeichnung der Vernehmung wird auch heute, trotz der stetigen Ausdehnung des Anwendungsrahmens dieser Vorschrift, kaum Gebrauch gemacht.5 Exemplarisch hierfür ist eine Strafaktenanalyse aus dem Jahr 2016, aus der hervorgeht, dass lediglich 20% der Opfer von Sexualdelikten audiovisuell vernommen wurden.6Zudem wurde festgestellt, dass viele Opfer das Ermittlungsverfahren auch in der heutigen Zeit als Belastung empfinden. Über negative Gefühle berichteten die Betroffenen bereits, wenn es um die Anzeigeerstattung und Vernehmung durch die Polizei geht, sie wurden hierbei nicht verstanden oder hatten den Eindruck, dass ihnen nicht geglaubt wurde. Die von den Beamten angefertigten Protokolle und Mitschriften entsprechen nur teilweise dem, was von der Tat berichtet worden war.7Volbert konstatiert dazu, dass unguten Gefühlen und Empfindungen des Opfers durch die audiovisuelle Aufzeichnung der Vernehmung entgegengewirkt werden kann.8 Doch nicht nur aus Opferschutzgründen sollte die audiovisuelle Aufzeichnung der Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten immer in Betracht gezogen werden, sondern sie ist ebenso von großer Bedeutung für den Beweiswert der Aussage. So bestätigt Hartz: „Die Konservierung der tatnahen Erstaussage, die in der Regel eine höhere Qualität hat, weil das Erinnerungsvermögen im Laufe der Zeit abnimmt, führt außerdem dazu, dass der Sachverhalt besser aufgeklärt werden kann. Durch den Einsatz von Videokonserven werden […] auch besser verwertbare Aussagen erzielt.“9 Dieses bestätigt eine Untersuchung aus Bremen, in der die Gründe für die hohen Einstellungsquoten bei Sexualdelikten analysiert wurden. Es wurde festgestellt, dass die Aussage des Opfers in vielen Verfahren das wichtigste und häufig auch das einzige Beweismittel darstellt. Der exakten Dokumentation der ersten ausführlichen Vernehmung auch bei erwachsenen Opfern kommt daher eine große Bedeutung zu.10 Die zu dieser Thematik veröffentlichten Forschungen kamen allesamt zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von Videotechnik in diesem Zusammenhang große Vorteile für das Opfer, die Vernehmungsbeamten, die Wahrheitsfindungen und das gesamte Verfahren mit sich bringt.11 Swoboda (2002) stellte fest, dass die Möglichkeit der richterlichen Videovernehmung trotz vorhandener technischer Ausstattung selten bis kaum genutzt wird. Als Gründe hierfür wurden technische Probleme und der enorme Aufwand solcher Vernehmungen genannt.12 Vogel (2003) bestätigte, dass von der Möglichkeit der audiovisuellen Vernehmung nur in den seltensten Fällen Gebrauch gemacht wird. Mangelhafte oder mangelnde technische Ausstattung, nicht vorhandene Fortbildungen, ein hoher Aufwand sowie organisatorische Schwierigkeiten, besonders in Form von fehlenden zeitlichen Kapazitäten bei den Richtern wurden hier als Hindernisse angegeben.13 Aufgrund rechtlicher Bedenken wurde der Videovernehmung in der Vergangenheit wenig Bedeutung und Akzeptanz zugemessen.14 Bei Höttges (2002) konnte vor allem der hohe zeitliche und personelle Mehraufwand als Hindernis ausgemacht werden.15 Dieckerhoff (2006) stellte i.B.a. die audiovisuellen Vernehmung kindlicher Opferzeugen sexuellen Missbrauchs im Strafverfahren fehlende technische und räumliche Ressourcen, Personalknappheit sowie einen Mehraufwand bei der Durchführung fest, insbesondere auch, wenn es um die Verschriftlichung der Vernehmung geht. Zudem berichteten die Richter in den während der Untersuchung von Diekerhoff geführten Interviews über Hemmnisse aufgrund der so geschaffenen Überprüfbarkeit ihrer Vernehmungsarbeit, welche eine größere Angreifbarkeit mit sich bringt.16 Scheumer (2007) stellte fest, dass Videovernehmungen nur selten Anwendung finden.17 Rechtsunsicherheiten in Bezug auf die Verschriftlichung und auf die Anwendungsgebotenheit und technische Schwierigkeiten, die die Durchführung behindern, wurden als Gründe genannt.18 Eine audiovisuelle Vernehmung stellt besondere Ansprüche an den Vernehmer: Er muss sich auf das Opfer einstellen, die Schilderungen über die Tat aushalten und besonders auf die Art der Fragestellung achten, um das Opfer in seiner Aussage nicht zu beeinflussen.19 Die Ergebnisse der Befragung zeigen ebenso, dass die durch die Polizei im Ermittlungsverfahren getätigten audiovisuellen Vernehmungen in den Hauptverhandlungen keinerlei Beachtung fanden. Wenn audiovisuelle Vernehmungen durch Richter durchgeführt wurden, gestaltete sich insbesondere die Terminfindung bei Gericht schwierig. Auch die Qualität der richterlichen Vernehmung wurde aufgrund der geringen Erfahrung und mangelnder Fortbildung problematisch gesehen.20 In der Bremer Expertenbefragung (2012) wurde festgesellt, dass die audiovisuelle Aufzeichnung der Vernehmung aufgrund mangelnder Technik gar nicht möglich sei, die Protokollierung der Vernehmung erfolgte immer noch handschriftlich.21 In der Untersuchung von Bartoszek et. al (2012) gaben 75% der befragten Polizeibeamten an, dass sie von den technischen Möglichkeiten aufgrund des hohen zeitlichen Aufwandes und ihrer mangelnden Erfahrung keinen Gebrauch machen, obwohl sie um die Vorteile der audiovisuellen Vernehmung wissen.22 Um die beschriebenen „Vollzugsdefizite“23 zu exterminieren, veröffentlichte die Bundesregierung im Mai 2019 die „Eckpunkte zur Modernisierung des Strafverfahrens“, welche in Punkt 12 die audiovisuelle Vernehmung von Opferzeugen beinhaltet.24 Die audiovisuelle Aufzeichnung der Vernehmung bei Opfern von Sexualdelikten durch einen Richter wurde am 13.12.2019 verpflichtend von einer Soll- zur Muss-Regelung normiert.25 Unberührt von dieser Vorschrift bleibt die Möglichkeit für Polizeibeamte bestehen, audiovisuelle Vernehmungen durchzuführen.26 Die Neueinführung des § 58a Abs. 1 S. 3 StPO zeigt die besondere Bedeutung der audiovisuellen Protokollierung der Aussage für die Optimierung des Strafprozesses und den Opferschutz.

 

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