Recht und Justiz

Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (Teil 1)

Von Prof. Dr. Dennis Bock und Cathrin Lebro, Kiel

 

A – Einführung

 

Obgleich die im 13. Abschnitt des StGB normierten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung gemessen an den polizeilich erfassten Fällen im Jahr 2019 nur einen Anteil von 1,3% an der Gesamtkriminalität in Deutschland ausmachten,2 ist seit Jahren eine überdurchschnittliche Präsenz von Berichten über Sexualstraftaten in den Medien zu verzeichnen. Die dabei aufgedeckten praktischen und politischen Defizite bei der Prävention und Bekämpfung sexueller Gewalt führten und führen zu zahlreichen Reformvorhaben im Strafrecht.

Nach den auf eine Entkriminalisierung des Sexualstrafrechts abzielenden Reformen durch das 1. StRG 1969 und das 4. StRG 1973 wurde seit den 1990er Jahren im Rahmen zahlreicher Teilreformen die Sexualstrafbarkeit erheblich ausgedehnt und verschärft. Ergebnis dessen ist ein unübersichtlicher und teilweise inkonsequenter Abschnitt im StGB, der Experten zur Empfehlung einer völligen Neuordnung veranlasst hat.3

Angesichts des Ruhens der Verjährung nach § 78b I Nr. 1 StGB sind auch die früheren Gesetzesfassungen heute noch von praktischer Relevanz, da für „Altfälle“ grds. das Tatzeitrecht gilt (§ 2 I StGB).

Im Zentrum des 13. Abschnitts des StGB steht ausweislich der Gesetzesüberschrift der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung: der Einzelne soll frei über Ort, Zeit, Form und Partner sexuellen Verhaltens entscheiden können und davor geschützt werden, zum Objekt fremdbestimmter sexueller Begierde herabgewürdigt zu werden.4 Dieses Schutzgut konkretisiert sich in den einzelnen Straftatbeständen in unterschiedlicher Weise und wird meist von anderen Rechtspositionen flankiert.

Die folgende Darstellung soll einen systematischen Überblick über die Sexualdelikte des 13. Abschnitts des StGB geben, indem die Delikte ausgehend von ihrer spezifisch akzentuierten Schutzrichtung in Gruppen eingeteilt behandelt werden.

 

 

B – Sexuelle Handlungen i.S.d. § 184h StGB


Bevor näher auf die einzelnen Deliktsgruppen eingegangen wird, bedarf es vorab einer Klärung des Begriffs der „sexuellen Handlung“, der den gemeinsamen Nenner der verschiedenen Sexualdelikte bildet. Die sog. Begriffsbestimmungen in § 184h StGB stellen keine Legaldefinitionen im eigentlichen Sinne dar, sondern bestimmen lediglich deren Anwendungsbereich.5

 

1 Sexuelle Handlung


Sexuelle Handlungen sind menschliche Verhaltensweisen, die schon nach ihrem Erscheinungsbild oder aufgrund des konkreten Kontextes für das allgemeine Verständnis eine Beziehung zum Geschlechtlichen aufweisen, d.h. objektiv geschlechtsbezogen sind.6 Hierzu zählen etwa die Durchführung des Vaginal-, Oral- und Analverkehrs, das Berühren anderer Geschlechtsteile oder Zungenküsse.7 Subjektiv muss sich der Täter des Sexualbezugs seiner Handlung bewusst sein, sein Motiv ist dagegen unbeachtlich.8 Die Beurteilung objektiv mehrdeutiger Handlungen, z.B. ärztliche Untersuchungen unter Berührung von Geschlechtsteilen, ist einzelfallabhängig vorzunehmen und richtet sich nach dem Gesamturteil eines informierten objektiven Betrachters; nur wenn sich keine andere Zweckbestimmung ergibt, ist sie als sexuell einzuordnen.9 Eine strafrechtlich relevante sexuelle Handlung liegt gem. § 184h Nr. 1 StGB nur vor, wenn sie im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheblichkeit ist. Die Abgrenzung zu den sog. belanglosen Handlungen ist wiederum einzelfallabhängig vorzunehmen und richtet sich nach dem Grad der Gefährlichkeit der Handlung für das geschützte Rechtsgut und nach der Schwere der jeweiligen Strafdrohung.10 Dabei sind sowohl qualitative Kriterien, z.B. Beziehung der Beteiligten oder das Alter des Opfers,11 als auch quantitative Kriterien, z.B. Intensität, Dauer und Hartnäckigkeit,12 zu berücksichtigen. Bei den meisten Tatbeständen ergibt sich die Erheblichkeit bereits aus der weiteren Tatumschreibung (Ausnutzen, Missbrauch etc.); nicht erheblich sind dagegen i.d.R. übliche Küsse und Umarmungen.13

 

2 Formen sexueller Handlungen


Das Gesetz differenziert zwischen sexuellen Handlungen an sich selbst, an einem anderen oder vor einem anderen. Eine sexuelle Handlung „an“ einer Person setzt eine körperliche Berührung (wenigstens durch Berühren der Kleidung)14 voraus, während ein bewusstes Wahrnehmen der berührten Person nicht verlangt wird.15 Bei einer sexuellen Handlung „vor“ einer Person kommt es nicht zu einer körperlichen Berührung, dafür muss die Person aber gem. § 184h Nr. 2 StGB den Vorgang wahrnehmen. Dies erfordert die bewusste sinnliche – auch bloß akustische – Wahrnehmung des Vorgangs durch den anderen, sodass eine gewisse räumliche Nähe bestehen muss.16

 

C – Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung i.e.S.


Die §§ 177, 178 StGB schützen die sexuelle Selbstbestimmung i.e.S.17

 

1 Sexueller Übergriff, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung, § 177 StGB

 

1.1 Allgemeines

§ 177 StGB stellt den sexuellen Übergriff, die sexuelle Nötigung und die Vergewaltigung unter Strafe. Es handelt sich hierbei um die zentrale Vorschrift des Sexualstrafrechts, die im November 2016 durch das 50. StrÄG grundlegend umgestaltet wurde und mit der Implementierung der „Nein heißt nein“-Lösung nunmehr jede Vornahme sexueller Handlungen gegen den erkennbaren Widerstand eines Menschen erfasst.18 Damit einher geht eine Neuausrichtung und Ausdehnung des strafrechtlichen Schutzes vom Schutz der Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung, also der Willensbetätigung, hin zur Achtung der Willensentscheidung einer Person.19

Die Neuregelung, die unter dem Druck öffentlicher Medien nach der Kölner Silvesternacht 2015/16 hastig durchgesetzt wurde, sieht sich der Kritik systematischer Schwächen und der Verwendung des unklaren Begriffs der „Erkennbarkeit“ ausgesetzt.20