Polizei

Coronakrise und die Auswirkungen auf Polizei, Kriminalität und Freiheitsrechte

Interviewreihe. Von Prof./Ltd. Regierungsdirektor a.D. Hartmut Brenneisen, Preetz/Worms


Wir leben in einer schwierigen Zeit. Das „Coronavirus SARS-CoV-2“ hat zu einer weltweiten Ausnahmesituation geführt und vielen Menschen auf allen Kontinenten das Leben gekostet. Bis zum 12.08.2020 wurden durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 20.120.919 Infizierte und 736.766 Todesfälle gemeldet. Deutschland ist dabei noch relativ glimpflich davongekommen. Das Robert Koch-Institut (RKI) hat bundesweit 218.519 Infizierte gezählt. 9.207 Menschen sind davon ums Leben gekommen. Der Altersmedian der Sterbefälle liegt bei 82 Jahren. Eine erschreckende Zwischenbilanz, auch wenn die vorgenannten Zahlen sicher interpretationsbedürftig sind.

Zugleich stellt sich die Frage, ob mit dem Virus eine neue Zeitrechnung begonnen hat und nichts mehr so bleibt wie es einmal war, oder ob es sich nur um eine Episode handelt, die in wenigen Jahren vergessen ist.

Neben vielen persönlichen Schicksalen sowie unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen auf das gesamte politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben, hat die Corona-Pandemie auch die Polizeiarbeit deutlich beeinflusst. Einige Mitarbeiter sind schwer erkrankt, andere mussten ins Homeoffice geschickt werden. Neue Kriminalitätsformen und Einsatzschwerpunkte sind entstanden und an den polizeilichen Bildungseinrichtungen wurde vom Präsenzunterricht auf Online-Vorlesungen umgestellt.

„Die Kriminalpolizei“ hat Verantwortliche aus den Bereichen Polizei, Hochschule, Bürgerrechte und Kinderschutz zu ihrer Einschätzung der aktuellen Lage sowie der kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungen von „COVID-19“ befragt. Nachfolgend werden ihre wesentlichen Aussagen vorgestellt.


Bildrechte: B 1 RKI Berlin, B 2 PP Hamburg, B 3-5 Redaktion.


 

Polizeipräsident Ralf Martin Meyer: „Es geht um andere Aufgaben und neue Prioritäten“

Die Corona-Pandemie beeinflusst die Aufgabenwahrnehmung der Polizeien des Bundes und der Länder seit Wochen deutlich. Vor diesem Hintergrund wurde am 8. Mai 2020 ein Gespräch mit dem Hamburger Polizeipräsidenten Ralf Martin Meyer geführt.

Kriminalpolizei: Sehr geehrter Herr Meyer, das „Coronavirus SARS-CoV-2“ hat zu einer weltweiten Ausnahmesituation geführt und viele tausend Menschen das Leben gekostet. Das RKI hat für Hamburg bis heute (Stand 8.5.2020) 4.753 Infizierte und 201 Todesfälle gemeldet. Bezogen auf die Häufigkeitszahl liegt die Hansestadt damit an vierter Stelle in Deutschland – eine erschreckende Bilanz. Sind auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hamburger Polizei unmittelbar betroffen?

Ralf Martin Meyer: Die Ursache für die starke Betroffenheit Hamburgs dürfte vor allem an den Skiferien im März und der Tatsache liegen, dass etliche Hamburger aus Urlaubsorten zurückgekehrt sind, die aus heutiger Sicht als besondere Hotspots galten. Darunter befanden sich auch Polizeibedienstete. Wir haben mit Stand 8.5.2020 allerdings überschaubare 39 bestätigte COVID-19-Fälle in der Polizei und davon sind bereits 36 Kollegen wieder genesen. Zwei Beamte befinden sich noch in ärztlicher Behandlung und fallen durch Nachsorgemaßnahmen noch etwas länger aus. Ein Beamter ist leider verstorben.Bemerkenswert ist, dass die allgemeine Erkrankungsquote der 11.090 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Polizei Hamburg während der letzten Zeit deutlich gesunken ist. Wir liegen zurzeit bei 6,7%. Diese recht gute Quote kann auch durch die bestehenden Hygieneregeln zu erklären sein.

 


B 1: „SARS-CoV-2“ unter dem Elektronenmikroskop

Kriminalpolizei: Wie in allen Ländern sind in Hamburg durch Rechtsverordnung Kontaktbeschränkungen, Versammlungs- und Veranstaltungsverbote, die Schließung bestimmter Betriebe und Einrichtungen sowie Betretungsverbote und Quarantänemaßnahme angeordnet worden. Werden die angeordneten Beschränkungen durch die Hamburger Polizei regelmäßig kontrolliert und – wenn ja – wie hoch ist der zusätzliche Personalaufwand?

Ralf Martin Meyer: Wir haben in Hamburg sehr schnell eine dem Krisenstab der Innenbehörde nachgeordnete BAO der Polizei gebildet und uns vergewissert, welche Erwartungshaltung der Senat an uns hat. Diese Erwartung lag in der Tat u.a. in der Überprüfung der durch Allgemeinverfügung und nachfolgende „SARS-CoV-2-EindämmungsVO“ angeordneten Beschränkungen. Für diesen Auftrag hatten wir praktisch sofort die Landesbereitschaftspolizei zur Verfügung, da deren sonstige Aufgaben in wesentlichen Teilen weggefallen waren. Das liegt z.B. an der Absage der Fußballspiele, den entfallenen Einsätzen am Wochenende auf der Reeperbahn aufgrund von geschlossenen Bars und Gaststätten sowie dem komplett abgesagten Veranstaltungsgeschehen. Mit der Bereitschaftspolizei und den ja ebenfalls zur Verfügung stehenden Revierkräften hatten wir damit ausreichend Personal zur Verfügung, um die angeordneten Kontaktverbote zu kontrollieren. Insofern möchte ich nicht von einem zusätzlichen Personalaufwand sprechen, sondern es geht um andere Aufgaben und neue Prioritäten

Kriminalpolizei: Stehen alle Mitarbeiter der Polizei auf den Dienststellen vor Ort zur Verfügung oder befinden sich einige im Homeoffice?

Ralf Martin Meyer: Zunächst ging es um die grundsätzliche Frage, wie wir uns auf die Lage einzustellen hatten. Die Diskussion darüber war schwierig und auch emotional, denn einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen waren verunsichert – andere nicht. Letztlich haben wir uns für einen Schutz besonders vulnerabler Kolleginnen und Kollegen, aber gegen eine Kohortenbildung entschieden. Wir haben unseren Auftrag darin gesehen, die Polizei erkennbar auf die Straße zu bringen. Im Ergebnis haben wir für unsere gefährdeten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen Homeoffice ermöglicht, ansonsten jedoch starke Präsenz gezeigt. Etwa 200 Telearbeitsplätze vor der Coronakrise haben wir nun deutlich um 400 Arbeitsplätze aufgestockt und wir können diese Zahl lagebildabhängig noch weiter erhöhen. Daneben haben wir auch den Schutz an den Dienststellen durch bauliche Maßnahmen verbessert. Ich denke hier z.B. an den Einbau von Plexiglasscheiben.

Kriminalpolizei: Haben die geänderten polizeilichen Aufgaben konkrete Auswirkungen auf den Regeldienst?

Ralf Martin Meyer: Ja, aber im Einzelfall durchaus auch positive. Wir haben die Krise zugleich als Chance begriffen, zurückgestellte Vorgänge in den Fokus genommen und inzwischen teilweise abgebaut. Dies gilt u.a. für das LKA. Zudem sehen wir die Frage der subjektiven Sicherheit besonders tangiert. Wenn die Straßen durch Kontaktbeschränkungen leer sind, ist es für die Bürger auch wichtig, dass die Polizei sichtbar unterwegs ist.

Kriminalpolizei: In den Medien wird berichtet, dass sich Straftäter zum Teil mit dem Hinweis auf eine Corona-Infektion der Festnahme entziehen wollten. Ist dieses Phänomen neu oder auch bereits im Zusammenhang mit anderen Infektionskrankheiten wie HIV oder Hepatitis aufgetreten?

Ralf Martin Meyer: Ja, dieses Verhalten ist nicht neu und wir kennen es insbesondere aus der beginnenden Welle der Aidserkrankungen. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie sind mir nur Einzelfälle bekannt,
die hinsichtlich einer COVID-19-Erkrankung aber unbestätigt blieben. Unmittelbar mit der Pandemie zusam-menhängende und bedeutsame Kriminalitätsphänomene sind beispielsweise betrügerische Fake-Shops und Angriffe auf die Unterstützungszahlungen der Investitions- und Förderbank. Zum Teil wurde auch versucht, unter Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Gesundheitsbehörde und einen erforderlichen Corona-Test in die Wohnung älterer Menschen zu gelangen, um diese dort um ihr Hab und Gut zu bringen. Unsere Ermittlungen waren bisher stets schnell und häufig erfolgreich. Andererseits haben wir positiv feststellen können, dass bestimmte Deliktsformen stark zurückgegangen sind. Ich möchte hier exemplarisch Taschendiebstähle, Wohnungseinbrüche und Körperverletzungen im öffentlichen Raum wie der Reeperbahn nennen.

Kriminalpolizei: Hamburg hat rund um die „Rote Flora“ eine sehr umtriebige linksautonome Szene. Haben sich die dortigen Akteure bisher an die angeordneten Versammlungsverbote gehalten?

Ralf Martin Meyer: Von den Bewohnern der „Roten Flora“ selbst gingen keine problematischen Aktivitäten aus. Von den dort zugehörigen Personen haben wir einen zurückhaltenden und rationalen Umgang mit den bestehenden Einschränkungen unter Betonung der Gesundheit erlebt. Am 1. Mai kam es zwar zu Aktionen auf der Reeperbahn und auch im Schanzenviertel, diese gingen aber von einer anderen, ebenfalls linksextremen Gruppierung aus. Dabei haben die Akteure scheinbar bewusst den aus der Vergangenheit bekannten unmittelbaren Körperkontakt zu den Polizeikräften vermieden. Das war natürlich auch unser Anliegen, so dass wir Distanzmittel wie Wasserwerfer im Einsatz hatten und auch mit starker Präsenz schnell zu einer Lageberuhigung beigetragen haben. Zudem sind uns damit einige qualifizierte Festnahmen gelungen.

Kriminalpolizei: Im Einzelfall können durch die zu Ihrem Regiebereich gehörende Versammlungsbehörde Ausnahmen von dem grundsätzlichen Versammlungsverbot zugelassen werden, soweit dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar erscheint. Ist dies in den zurückliegenden Wochen erfolgt?

Ralf Martin Meyer: Ja, wobei sich dies im Verlaufe der Zeit im Rahmen der Möglichkeiten ausgiebiger entwickelt hat – stets unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Flächen, der voraussichtlichen Teilnehmerzahlen und der Bereitschaft des Veranstalters, erforderliche Hygieneregeln zu berücksichtigen. Bei den zugelassenen Ausnahmen ging es nicht allein um versammlungsrechtliche Fragen, sondern gleichermaßen um die Erfordernisse des Infektionsschutzes, die in Allgemeinverfügungen und regelmäßig fortgeschriebenen „SARS-CoV-2-EindämmungsVO“ konkretisiert wurden. Entscheidungen ergingen stets in enger Abstimmung mit der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz. Inzwischen hat sich eine Praxis entwickelt, in der die Ausnahme zur Regel geworden ist, sobald sich die Hygieneanforderungen beherrschen ließen. Mit Stand 6.5.2020 haben wir in Hamburg 130 Versammlungen zugelassen und nur 35 verboten. Das ist aus meiner Sicht ein beachtliches und die Freiheitsrechte besonders betonendes Verhältnis. Alle Entscheidungen werden unter Berücksichtigung des versammlungsrechtlichen Kooperationsgebots getroffen. In intensiven Gesprächen mit den Veranstaltern werden die Rahmenbedingungen einschließlich des Hygieneschutzes erörtert. Wir haben stets die hochrangige Versammlungsfreiheit im Auge – und dies aus gutem Grund. Aufgrund der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Gefahren für höchste Rechtsgüter müssen aber andere Grundrechte temporär zurückstecken. Dies gilt für die Handlungsfreiheit, das Persönlichkeitsrecht, die Berufsfreiheit und eben auch für die Versammlungsfreiheit. Diese Wechselwirkung haben die Gerichte bisher auch bestätigt.

Kriminalpolizei: Bürgerrechtler haben mit Blick auf die angeordneten Beschränkungen eindringlich auf die hohe Bedeutung der Freiheitsrechte und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hingewiesen. Mehrfach gab es im Bundesgebiet Protestdemonstrationen. Haben Sie angesichts der bedrohten höchstwertigen Rechtsgüter Verständnis für diese kritische Haltung?

Ralf Martin Meyer: Für uns alle ist es von größter Bedeutung, dass wir uns mit auftretenden Fragen auch kritisch auseinandersetzen können. Die Meinungsfreiheit ist ohne Zweifel ein Wert an sich. Aber wir müssen die Freiheitsrechte auch den zurzeit gefährdeten höchsten Rechtsgütern wie Leben und Gesundheit gegenüberstellen. Dies gilt für alle Positionen gleichermaßen. Ich denke da z.B. an die Einschränkung der Berufsfreiheit durch häufig sogar existenzbedrohende Maßnahmen. Vor dem Hintergrund, dass alle Einschränkungen nur temporär erfolgen, sehe ich die bisher vorgenommenen Abwägungen als gelungen an.

 


B 2: Polizeipräsidium Hamburg.

Kriminalpolizei: In die Zeit der Corona-Pandemie fiel auch die im „Michel“ geplante öffentliche Trauerfeier zu Ehren des im Dienst ums Leben gekommenen Hamburger Zielfahnders Klaus-Ulrich H. Konnte die Trauerfeier stattfinden oder ist sie ein Opfer des Coronavirus geworden?

Ralf Martin Meyer: Die Trauerfeier konnte nicht wie geplant stattfinden, obwohl zu diesem Zeitpunkt noch nicht die ganz einschneidenden Einschränkungen auf den engsten Familienkreis galten und die Zahl der Trauergäste auf 100 begrenzt war. Ich fühlte mich ganz persönlich betroffen, denn bei dem im Dienst ums Leben gekommen Kollegen handelt es sich um einen langjährigen Weggefährten von mir. Schließlich konnte trotz der Corona-Lage eine angemessene Trauerfeier stattfinden, und zwar in der Kapelle und am Ehrenrund an der Blutbuche des Ohlsdorfer Friedhofes. Die Feier fand im Kreise der Familie, der Freunde und dem engen Kreis von Begleitern des getöteten Kollegen statt. Eine größere Gedenkfeier soll aber zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden.

Kriminalpolizei: Gibt es besondere Erkenntnisse aus der jüngeren Vergangenheit, die aus Ihrer Sicht für die künftige Polizeiarbeit unbedingt berücksichtigt werden sollten?

Ralf Martin Meyer: Zweifellos. So haben wir in der Vergangenheit das Thema „Homeoffice“ noch zu skeptisch betrachtet, was sich ja aus der bereits genannten Zahl von ursprünglich nur 200 Telearbeitsplätzen für mehr als 11.000 Mitarbeiter ergibt. Inzwischen kann ich sagen, dass wir damit in der aktuellen Lage keine negativen Erfahrungen gemacht haben. Insofern werden wir ähnliche Modelle sicher schrittweise weiter ausbauen. Zudem wollen wir unsere IT-Ausstattung mobiler gestalten, so dass wir noch flexibler agieren können. Vorantreiben werden wir auch die Digitalisierung der Lehre in Aus- und Fortbildung, bei der wir notwendige erste Schritte gemacht haben. Allerdings müssen wir abwarten, welche Möglichkeiten uns bei der kommenden, sicher nicht unkritischen Haushaltslage eingeräumt werden. Schließlich möchte ich noch einmal auf die Situation des Krankenstands hinweisen. Er betrug bei meinem Dienstantritt als Polizeipräsident vor sechs Jahren 10,3%. Nach aufwändigen Maßnahmen im Rahmen eines gezielten Gesundheitsmanagements konnten wir diese Quote auf 9,3% senken. In dieser besonderen Zeit liegen wir plötzlich bei 6,7%. Dieses beeindruckende Ergebnis muss genau analysiert werden, und wenn dafür Hygieneregeln ausschlaggebend sind, ergibt sich doch der Ansatz, hiervon auch zukünftig bestimmte Aspekte stärker zu berücksichtigen.


Anmerkung

Ralf Martin Meyer ist seit 1979 Angehöriger der Hamburger Polizei. Nach verschiedenen Tätigkeiten im mittleren, gehobenen und höheren Dienst ist Herr Meyer seit dem 1. Mai 2014 Polizeipräsident in der Hansestadt.