Wissenschaft  und Forschung

Sexualdelinquenz

Eine kriminologisch-viktimologische Betrachtung


Von Prof. Dr. Rita Bley, Güstrow1

1 Einleitung

Sexualdelikte und insbesondere solche, die an Kindern begangen werden nehmen in der kriminalpolitischen und öffentlichen Debatte eine besondere Rolle ein.2 Auch für die Polizei stellt es eine besondere Herausforderung dar, da der polizeiliche Umgang mit Opfern von Sexualdelikten keine Routinetätigkeit ist. Probleme können in der Diskrepanz zwischen den kriminalistischen Erfordernissen und dem Wunsch nach Berücksichtigung von Opferbedürfnissen und -rechten begründet sein. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick zum Viktimisierungsprozess sowie den Opferbedürfnissen und -rechten nach der Straftat gegeben. Die weiteren Abschnitte widmen sich dem polizeilichen Umgang mit Opfern von Sexualdelikten sowie den Perspektiven der Opferunterstützung. Die polizeilichen Maßnahmen im Spannungsfeld zwischen Ermittlungsauftrag und Opferbetreuung sollen beschrieben werden.

2 Viktimisierungsprozess


Der Prozess des Opferwerdens kann in die primäre, sekundäre, tertiäre sowie quartäre Schädigung differenziert werden. Die primäre Viktimisierung erfolgt indirekt oder direkt durch die Tat und meint psychische, physische, materielle sowie immaterielle Schäden.3„Opfer einer Straftat geworden zu sein stellt in vielen Fällen ein traumatisierendes Ereignis dar“.4 Es kann zu einer posttraumatischen Belastungsstörung kommen. „Werden wir Opfer einer Straftat, geraten wir in eine Krise, reagieren mit Stresssymptomen und erleiden bei schweren Taten und Gewaltdelikten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein posttraumatisches Belastungssyndrom“.5 Opfer reagieren individuell unterschiedlich,6 die Symptome können vielfältig sein, umfassen einen Zustand erhöhter Ängstlichkeit bis hin zu Panikattacken, Vermeidungsverhalten, Alpträumen sowie Flashbacks und psychisch bedingten Gedächtnislücken.7Neben den Folgen der Tat für das Opfer besteht die Gefahr, dass das Opfer durch unangemessene Reaktionen der Umwelt weitere Schädigungen erleidet. Damit sind nicht nur der soziale Nahraum des Opfers wie Familie, Freunde, Nachbarn, Arbeitskollegen usw., sondern auch die Berichterstattung in den Medien und die Reaktionen der Instanzen der Sozialkontrolle wie Polizei und Justiz sowie die Position des Opfers im Strafverfahren gemeint. Vor allem die Art und Weise, in der Polizei und Justiz nach der Tat mit dem Opfer umgehen, kann für das Opfer zusätzlich belastend sein. Sekundäre Viktimisierung wird als eine die Opferrolle verstärkende gesellschaftliche Reaktion auf die ursprüngliche Tat definiert und meint die Verschärfung der Stresssituation durch Fehlreaktionen des sozialen Umfeldes oder der Instanzen der Sozialkontrolle wie Polizei und Justiz. Es sind diejenigen psychischen, sozialen und ggf. wirtschaftlichen Folgen für das Opfer, welche nicht unmittelbar aus der Straftat erwachsen, sondern indirekt durch diejenigen Personen, welche mit dem Opfer der Straftat und den Folgen der primären Opferwerdung befasst sind, hervorgerufen werden. Besondere Bedeutung wird in diesem Zusammenhang den Instanzen der Sozialkontrolle beigemessen.8 Der primären Opferwerdung „kann eine sekundäre Viktimisierung nachfolgen, worunter man für das Opfer nachteilige Reaktionen der sozialen Umwelt auf die Straftat versteht, vor allem aber auch belastende Situationen, die sich im Kontakt mit den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten ergeben“.9 Tertiäre Viktimisierung wird in der Literatur unterschiedlich definiert. Sie wird einerseits angenommen, wenn primäre und sekundäre Viktimisierung dazu führen, dass das Opfer allmählich sein Selbstwertgefühl verliert und andere traumatische Reaktionen auftreten. Diese können sich auf den Körper beziehen, wie z.B. Zittern, erhöhte Herzfrequenz, Übelkeit, Magen- und Kopfschmerzen oder auf den Verstand, wie z.B. Gedächtnisstörungen, Denkblockaden, nachlassende Schulleistungen oder auch auf das Gefühl, wenn z.B. Angst bis zur Panik, Gereiztheit, Wut bis zur Aggression gegen die Täter oder Dritte oder gegen sich selbst eintreten. Nach Baurmann (1996: 23) liegt eine tertiäre Viktimisierung andererseits „vor, wenn Opfer von Forschern und Funktionären missbraucht werden, indem sie sie als Objekte für ihre Ziele funktionalisieren und dabei Schäden beim einzelnen Opfer oder bei einer Gruppe von Opfern in Kauf nehmen“. Unter der Terminologie der quartären Viktimisierung werden Schädigungen durch das bewusste oder gezielte Negieren der Opfereigenschaft verstanden.10 Neben der Betrachtung des Viktimisierungsrisikos ist es ein Anliegen der Viktimologie, Erkenntnisse über die Interessen und Bedürfnisse des Opfers nach der Tat zu gewinnen.

3 Opferbedürfnisse aus viktimologisch-kriminologischer Sicht


Die Bewältigung von Straftaten erfolgt individuell sehr unterschiedlich. Die Bedürfnisse und Erwartungen des Opfers zur Unterstützung des Bewältigungsprozesses der Straftat reichen von menschlicher Anteilnahme, Empathie und Verständnis, Beratung und Beistand, Schadenswiedergutmachung bis zur angemessenen Bestrafung des Täters. Nach Fischer und Riedesser (2009) stehen Sicherheit, Selbstbestimmung, Anerkennung/Solidarität und ressourcenorientierte Unterstützung für das Opfer nach der Tat im Vordergrund. „Die Wiederherstellung von Sicherheit meint hierbei keineswegs lediglich die Abwesenheit weiterer Gefährdung, sondern auch das subjektive Erleben von Sicherheit“.11 Die Vermittlung von Sicherheit beinhaltet u.a., dass das Opfer vor jeglicher Gefährdung durch den Täter geschützt ist. Das bedeutet konkret, dass eine Begegnung auf der Polizeidienststelle vermieden werden sollte und das Opfer von der Polizei begleitet und nach Hause gebracht wird. Selbstbestimmung beinhaltet die Wiedererlangung von Kontrolle, d.h. dass dem Opfer die Entscheidung obliegt, ob und wann es eine Anzeige erstattet bzw. Opferhilfe in Anspruch nimmt. Darüber hinaus kann das Opfer z.B. entscheiden, ob und welche Person des Vertrauens hinzugezogen werden soll oder welcher Arzt die gynäkologische Untersuchung durchführt. Für das Opfer ist es wichtig, dass sowohl das soziale Umfeld als auch staatliche Institutionen die Viktimisierung anerkennen und „erfahrbare Solidarität zeigen“.12 Dazu gehört, dass die Polizei mit einem sog. Vertrauensvorschuss agiert und zunächst auch bei Widersprüchen in der Aussage von einer tatsächlichen Opferwerdung ausgeht. Opfer von Straftaten erhoffen sich neben Schutz und Hilfestellung von der Polizei vor allem auch Verständnis für ihre Situation. Zur Verhinderung sekundärer Schädigungen kann ressourcenorientierte Opferunterstützung in der ersten Phase bedeuten, dass Opferzeugen emotional stabilisiert werden, z.B. durch Aufklärung über den Verfahrensablauf oder durch die Hinzuziehung einer Person des Vertrauens. Opferunterstützung heißt auch, dass das Opfer über die negativen Bedingungen in Ermittlungs- und Strafverfahren aufgeklärt wird und – falls das Opfer sich so entscheidet – ihm geholfen wird, wenn es ohne Erstattung einer Strafanzeige weiterleben möchte. Der polizeiliche Umgang mit Opfern von Sexualdelikten wird nachfolgend beschrieben.

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