Kriminalität

Sexuelle Gewalt gegen Jungen und Männner

Epidemiologie, Spätfolgen, Opfer-Täter-Transition


Von Prof. Dr. Herbert Csef, Würzburg1

1 Missbrauch-Skandale im Jahr 2010


Im Jahr 2010 wurde Deutschland durch eine ganze Welle von Missbrauch-Skandalen an Jungen überschwemmt. Fast täglich tauchten skandalöse Berichte in den Medien darüber auf. Die Tatorte waren kirchliche Internate und die Odenwald-Schule. Berichte über sexuellen Missbrauch an Jungen im Jesuitenkolleg Canisius in Berlin lösten die Lawine aus. Es folgten Berichte über vergleichbare Vorfälle in St. Blasien im Schwarzwald, im Aloisius-Kolleg in Bonn und Werl. Dann stand das große und bekannte Kloster Ettal mit Missbrauchsberichten im Rampenlicht. Es folgten Enthüllungen über Missbrauch in kirchennahen Knabenchören, insbesondere bei den Regensburger Domspatzen. Nachdem lange Zeit katholische Internate als Brutstätte sexuellen Missbrauchs im Mittelpunkt standen, kam mit der Odenwald-Schule eine Einrichtung der modernen Reformpädagogik als Tatort ins Gespräch.

Von Monat zu Monat stieg die Zahl der missbrauchten Opfer ebenso wie die als Zahl verdächtigten Lehrer. Schließlich wurden die beiden Juristinnen Claudia Burgsmüller und Brigitte Tilmann mit einer Untersuchung beauftragt. In ihrem Abschlussbericht ist von mindestens 132 missbrauchten Schülern die Rede. Der sexuelle Missbrauch soll zwischen 1965 und 1998 stattgefunden haben.2 Strafrechtlich waren mittlerweile die Missbrauchsfälle alle verjährt und die Haupttäter Gerold Becker und Wolfgang Held verstorben. Die Missbrauchsopfer aus den genannten Missbrauchs-Skandalen waren überwiegend männlich. Der sexuelle Missbrauch ist meist im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren erfolgt. Fast alle aufgedeckten Fälle waren strafrechtlich verjährt. Sie lagen teilweise dreißig bis vierzig Jahre zurück. Die Flut der Enthüllungen im Jahr 2010 und die damit verbundenen Missbrauch-Skandale haben einige bislang verbreitete Legenden und Mythen schonungslos revidiert: Die Legende, dass es sich bei Missbrauch von Jungen um Einzelfälle handelt, wurde drastisch widerlegt. Der lange verbreitete Mythos, dass beim sexuellen Missbrauch der Täter männlich und das Opfer weiblich ist, wurde ebenfalls massiv relativiert. Neuere Forschungsergebnisse zur Epidemiologie des sexuellen Missbrauchs bestätigen diese neue Sichtweise.

2 Das bittere Lehrstück aus Staufen: Der jahrelange sexuelle Missbrauch eines Jungen


Im Jahr 2018 beschäftigte ein sehr außergewöhnlicher und spektakulärer Missbrauchsfall die Öffentlichkeit, bei dem auch die kriminalpolizeilichen Ermittlungen eine wesentliche Rolle spielten. Es handelt sich um den Missbrauchsfall aus Staufen. Anfang 2015 lernten sich die 56 Jahre alte alleinerziehende Mutter Berrin T. und der 37-jährige Christian L. kennen. Christian L. ist vorbestrafter Sexualtäter. Er wurde im Jahr 2010 vom Landgericht Freiburg wegen sexuellen Missbrauchs einer 13-jährigen in 23 Fällen zu vier Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Bereits fünf Jahre zuvor hatte er eine Bewährungsstrafe wegen des Besitzes von Kinderpornographie. Kurz nach der Entlassung aus dem Gefängnis lernte er Berrin T. kennen, die Mutter eines damals siebenjährigen Sohnes. Bei der Entlassung aus der Haft wurde Christian L. für fünf Jahre einer Bewährungsaufsicht beim Landgericht Freiburg unterstellt. Er hatte verschiedene Weisungen und Verbote einzuhalten, insbesondere das Verbot, zu Personen unter achtzehn Jahren Kontakt aufzunehmen, mit ihnen zu verkehren, sie zu beherbergen, zu beschäftigen oder auszubilden. Nur in Anwesenheit des jeweiligen Sorgeberechtigten des Kindes oder Jugendlichen sei Kontakt erlaubt. Für die Überwachung dieser Verbote und Weisungen hatten die Führungsaufsicht am Landgericht, die Polizei, die Bewährungshilfe und eine forensische Ambulanz zu sorgen. Christian L. verstieß gegen alle Weisungen und Verbote. Mitte 2015 zog er in die Wohnung von Berrin T. ein. Schon bald begann der sexuelle Missbrauch des damals siebenjährigen Jungen. Der Junge wurde von der Mutter selbst, ihrem Lebensgefährten Christian L. und von vielen anderen Männern sexuell missbraucht, vergewaltigt, verkauft, erniedrigt, geschlagen, gefilmt und gedemütigt. Einer der führenden deutschen Experten für sexuellen Missbrauch, Prof. Jörg Fegert von der Universität Ulm, sagte in einem Interview: „Dieser Fall ist in seiner kriminellen Grausamkeit einmalig“.3 Was besonders bitter ist, ist die Tatsache, dass die zuständige Bewährungshelferin bereits 2016 dem Landgericht Freiburg, das für die Führungsaufsicht zuständig war, mitteilte, dass Christian L. den Auflagen und Verboten zuwiderhandelte. Nach einem Bericht in der Badischen Zeitung (Wulf Rüskamp vom 28.2.2018) hat die Bewährungshelferin am 27. September 2016, am 9. Januar 2017 und am 8. Februar 2017 entsprechende Hinweise dem Landgericht gegeben.4 Eine adäquate Reaktion blieb aus. Verhaftet wurde Christian L. schließlich am 16. September 2017, also etwa ein Jahr nach den ersten Hinweisen der Bewährungshelferin. In dem derzeit laufenden Strafverfahren wurden 58 Einzeltaten festgestellt, die vorzulesen, mehr als 100 Minuten dauerte. Allein ein Täter aus Spanien hat den Junge fünfzehnmal schwer missbraucht und dafür insgesamt etwa 60.000 Euro bezahlt.5 Im Bericht von Ralf Wiegand zu dem Staufener Fall taucht viermal der Begriff „blinder Fleck“ auf.6 Wiederholt ist von Behördenversagen und Versäumnissen der Ämter die Rede. Hätte das für die Führungsaufsicht zuständige Landgericht bereits bei den ersten Hinweisen der Bewährungshelferin adäquat reagiert, wären dem damals achtjährigen Jungen ein Jahr lang qualvolle Missetaten erspart geblieben. Wer übernimmt hierfür die Verantwortung? Im bereits erwähnten Interview sagt der Missbrauchsexperte Jörg Fegert: „Bei repräsentativen Befragungen gibt ein Drittel an, in der Kindheit vernachlässigt, missbraucht oder misshandelt worden zu sein. Darauf sind weder Krankenhäuser, noch Schulen oder die Jugendhilfe eingestellt; die Familiengerichte schon gar nicht.“7 Fegert fordert vor allem verpflichtende Fortbildungen für Richter an Familiengerichten. Die Rettung des mittlerweile neun Jahre alten missbrauchten Jungen ist schließlich den Kriminalbeamten des Landeskriminalamtes zu verdanken. Sie verfolgten die Aktivitäten von Christian L. im Internet und haben ihn schließlich im September 2017 verhaftet.

Ein wesentlicher „blinder Fleck“ bestand sicherlich darin, dass wohl viele verantwortliche und beteiligte Akteure bei Gericht, Jugendamt und Polizei „nicht am Schirm hatten“, dass die Mutter selbst Mittäterin sein könnte. Sie haben lange Zeit der Mutter geglaubt, obwohl diese Täterin war, aus den schrecklichen Missbrauchstaten Vorteile hatte und an der Fortsetzung des Missbrauchs interessiert war. Alle Berufe und professionelle Helfer, die potenziell mit sexuell missbrauchten Kindern und Jugendlichen zu tun haben, müssen besser ausgebildet und fortgebildet werden, damit diese „blinde Flecken“ nicht solch verheerende Folgen haben. Der bekannte Trauma-Experte Peter Riedesser sprach in diesem Zusammenhang von einer „professionellen Trauma-Blindheit“. Der außergewöhnliche Missbrauchsfall von Staufen hat eine weitere Besonderheit: Der mutmaßliche Täter Christian L. ist nach seinen Angaben selbst sexuell missbraucht worden. Er sei selbst bei einer Vergewaltigung gezeugt worden und später als Kind sexuell missbraucht worden. Aus forensischer Perspektive liegt eine Opfer-Täter-Transition vor: aus dem kindlichen Missbrauchsopfer wurde ein erwachsener Sexualstraftäter.

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