Kriminalität

Clankriminalität in Deutschland

Eine Bestandsaufnahme (Teil 1)


Von Patrick Rohde M.A., Prof. Dr. Dorothee Dienstbühl
und Prof. Dr. Sonja Labryga, Essen/Mülheim1

Clankriminalität und die gegen sie gerichteten polizeiliche Bekämpfungsmaßnahmen gehören zu den gegenwärtig aktuellsten sicherheitspolitischen Themen in Deutschland. Um das Phänomen zu erfassen, müssen zunächst die Akteure und ihre Besonderheiten beschrieben werden. Darüber hinaus muss die Dimension der dieser Gruppe zugeschriebenen Kriminalität genauer erörtert werden, zumal die Kriminalität in subkulturellen Familienstrukturen mitunter auf einer Abschottung nach außen basiert. Umso wichtiger ist es, das Wesen der Clans sowie ihre Geschäfts- und Kriminalitätsstrategien zu begreifen.

1 Der Clan-Begriff, Historie und Wesen


Der Begriff „Clankriminalität“ ist in Deutschland umstritten. Daher muss auch die Bezeichnung „Clans“ für spezifische Familiengruppen zunächst genauer erörtert werden. Dies nicht zuletzt, um auf Clankriminalität ausgerichtetes staatliches und insbesondere polizeiliches Handeln nicht dem Verdacht des stigmatisierenden Umgangs mit einer ganzen Personengruppe auszusetzen.

Der Begriff „Clan“ wird im kriminologischen und polizeilichen Sinne in einem speziell festgelegten Kontext gebraucht. Gemeinhin wird mit ihm die arabische Großfamilie assoziiert, die den verwandtschaftlichen Zusammenschluss diverser Kernfamilien bezeichnet. Somit umfasst ein Clan häufig mehrere hunderte Mitglieder.2 Andererseits gehört jedoch nicht jede arabischstämmige Großfamilie zu einem der nachfolgend betrachteten Clans. Das nordrhein-westfälische Landeskriminalamt (LKA NRW) verengt daher den Begriff „Clan“ auf solche Familienstrukturen, deren „typischer Handlungsrahmen sich in der offensiven und öffentlichkeitswirksamen Beanspruchung regionaler oder krimineller Aktionsräume dokumentiert.“3 Weiterhin stellt das LKA NRW in erster Linie auf türkisch-arabischstämmige Großfamilien ab, deren Angehörige der Bevölkerungsgruppe der Mhallamiye zuzuordnen sind und deren ursprüngliche Herkunft in der Südosttürkei liegt.4 Die Lebensverhältnisse der Mhallamiye waren in Familienbünden organisiert sowie landwirtschaftlich geprägt und dementsprechend prekär. Eine in den 1940-er Jahren wirtschaftlich bedingte Abwanderung in den Libanon erfolgte,5 bei der Tausende insbesondere nach Beirut und Umgebung migrierten. Aufgrund dieser Migrationshistorie und unklarer Staatsangehörigkeiten erfasst das Lagebild des LKA NRW somit zudem arabische Großfamilien mit vermeintlich libanesischen Wurzeln.

Im Libanon fand für die betrachteten Familiengruppen größtenteils kein sozialer Aufstieg statt. Sie erhielten zwar eine Arbeitserlaubnis, jedoch wurden sie streng kontrolliert und in Ghettos separiert, denn sie waren schlichtweg nicht erwünscht.6 Mit dem Ausbrechen des Bürgerkrieges im Libanon migrierten zwischen den 1970-er und 1990-er Jahren viele dieser seit wenigen Jahrzehnten dort lebenden Großfamilien nach Europa und hier insbesondere nach Deutschland und Schweden. Da sie im Libanon jedoch größtenteils nicht eingebürgert wurden, besaßen die meisten keine libanesische Staatsangehörigkeit.7 Ihre Asylanträge wurden entsprechend abgelehnt. Da die Gruppen jedoch keine Papiere vorlegten, konnten sie nicht abgeschoben werden. Gleichzeitig gab es die ersten Jahre keinerlei Maßnahmen zur Integration. Die fehlende gesellschaftliche Teilhabe mit Beginn der Migration in den 1970-er Jahren, die sich in den Folgejahren während des Aufenthalts in Deutschland fortführte, wird als mitursächlich für die auffällige kriminelle Entwicklung von Clan-Familienmitgliedern gesehen. Diese in Europa bis heute gelebte und verinnerlichte Abschottung der Familien gegenüber dem Rechtsstaat und seinen gesellschaftlichen Normen ist die Basis für das hohe Kriminalitätsaufkommen.

Aufgrund von fehlendem Heimatempfinden fühlen diese Personen sich noch enger an ihren Clan gebunden. So konnte sich eine Subkultur bilden, der ein hierarchisches meist patriarchalisches Ehrverständnis zu Grunde liegt, auf dessen Basis sie sämtliche Angelegenheiten intern klären – selbst dann, wenn es strafrechtlich relevant ist.
Die in Rede stehenden arabischen Großfamilien verfügen, sowohl durch ihre Migrationsgeschichte, als auch durch das Beibehalten eigener Regeln und Gesetze innerhalb der Familien, über wenig emotionalen Bezug zum deutschen Staat.

2 Besonderheiten der Clanstrukturen


In den 1980-er Jahren wurde, zunächst in Berlin, später in weiteren Bundesländern, mit den Altfallregelungen8 in vielen Fällen die Duldung aufgehoben und ein großer Teil der Clanmitglieder im Laufe der Jahre eingebürgert. Mittlerweile unterliegen die wenigsten Familien solcher Clans einer Kettenduldung.9 Mit den 2000-er Jahren wurden Integration und Inklusion zu wichtigen Eckpfeilern der Sozialpolitik; entsprechende Förderungsmaßnahmen sind gesetzlich v.a. in den Sozialgesetzbüchern II, III und VIII verankert. Allerdings nehmen staatliche Maßnahmen kaum noch Einfluss auf die innerfamiliäre Prägung, die sich ein eigenes Rechtsverständnis gibt und sich nicht mit Deutschland identifiziert. Trotz der fehlenden Identifikation mit Deutschland wurden viele Mitglieder durch den deutschen Staat eingebürgert, sodass bei der Bekämpfung ausländerrechtliche Maßnahmen nur sehr selten getroffen werden können.
Nicht zuletzt die Frage der Staatsbürgerschaft begründet eine strategische Endogamie10, die innerhalb der Clans praktiziert wird. Durch die Verheiratung zwischen den Familien innerhalb der Clanstrukturen wird der Zusammenhalt durch verwandtschaftliche Beziehungen intensiviert.11 Hochzeiten mit Deutschen werden nur vereinzelt und aus taktischen Gründen vorgenommen. So bleibt es bei einer eigenen Parallelgesellschaft, da eine Vermischung mit der Mehrheitsgesellschaft verhindert wird. Ein Eindringen in die inneren Kreise von arabischen Großfamilien ist daher ohne ethnologischen Hintergrund regelmäßig ausgeschlossen. Maßnahmen durch verdeckte Ermittler der deutschen Strafverfolgungsbehörden innerhalb der Clans sind dementsprechend nahezu unmöglich.
Für die Clans gilt die Familie bereits seit vorislamischer Zeit aufgrund von Kultur und Herkunft als wichtigste soziale Einheit.12 Früher gab es keine einheitlichen Landesgesetze; Herrschaftsgebiete waren ständig durch Stämme umkämpft. Der herrschende Stamm bestimmte die Regeln. Die Einführung des Islam brachte mehr Einheitlichkeit und gesetzliches Regelwerk. Die Familie blieb jedoch weiterhin die wichtigste soziale Einheit. Entsprechend sind vor allem im Koran und auch in den Hadithen familienrechtliche Regeln zu finden.13 Fehlende Akzeptanz gegenüber dem deutschen Rechtsstaat ist daher in den einzig gültigen familiären Regeln und den islamischen Normen zu sehen, die allein akzeptiert werden.
Die Geschlechterrollen sind innerhalb der arabischen Clanstrukturen relativ starr: Der Mann ist der Stammhalter, Entscheider, Beschützer der Familienehre und Geldverdiener. Die Frau ist die Hüterin der Familie, die für ausreichende Nachkommenschaft sorgt, um die Familie zu vergrößern und damit den Machterhalt zu gewährleisten. Vor allem sobald ihre Söhne verheiratet sind, steigt ihre Autorität und ihre Befehlsmacht. Sie ist dann gegenüber den Schwiegertöchtern weisungsbefugt. Die Mutter muss darauf achten, ihre Kinder so zu erziehen, dass sie der Familie nutzen und ihr nicht schaden.14Diese Familienpolitik steht unter dem Leitgedanken der Eroberung von Territorien. Staatliche Bekämpfungsstrategien müssen folglich darauf ausgerichtet sein, diesen Territorialanspruch der Parallelgesellschaften arabischer Clans zu unterbinden und bereits eingenommene Gebiete zurückzuerobern“.

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