Polizei

Wenn Betreuung polizeitaktisch wird

Hört man das Wort „Betreuung“, denkt man zunächst möglicherweise an die Beaufsichtigung von Kindern, an den Mannschaftsbetreuer im Sportverein oder aber an die vormundschaftliche Begleitung von minderjährigen, erkrankten oder älteren Menschen. Im Sprachgebrauch ebenso bekannt sind die medizinische oder die psychosoziale Betreuung.


Von PD Frank Ritter, Kiel1

1 Betreuung – eine Aufgabe der Polizei?

Hört man das Wort „Betreuung“, denkt man zunächst möglicherweise an die Beaufsichtigung von Kindern, an den Mannschaftsbetreuer im Sportverein oder aber an die vormundschaftliche Begleitung von minderjährigen, erkrankten oder älteren Menschen. Im Sprachgebrauch ebenso bekannt sind die medizinische oder die psychosoziale Betreuung. Das alles klingt auf den ersten Blick gewiss nicht nach polizeilichen Kernaufgaben. Gleichwohl leistet die Polizei von jeher Betreuungsmaßnahmen – zumeist zur einleitenden Unterstützung zuständiger Facheinrichtungen. Im weiteren Text werden zahlreiche Beispiele dafür genannt. Mit der Novellierung der Polizeidienstvorschrift 1002 fand schließlich die Maßnahme der „Taktischen Betreuung“ Aufnahme in den Katalog der polizeilichen Standardaufgaben. Begrifflich stellt sich nun zunächst die Frage, was die Polizei darunter zu verstehen hat und wann eine Betreuungsmaßnahme „taktisch“ wird.

Dass die Polizei – als häufig ersteintreffende BOS3 – zuweilen auch Maßnahmen ergreift, die in der originären Zuständigkeit anderer Partner liegen, liegt in der Natur der Sache. So leisten Polizeibeamte selbstverständlich auch Löscharbeiten, wenn das Leben und die Gesundheit von Menschen von einem Brand bedroht sind und die Feuerwehr noch nicht am Einsatzort ist. Gleiches gilt für die medizinischen Erstmaßnahmen, die über die Kenntnisse eines einfachen Erste-Hilfe-Kurses hinausgehen (sollten). In diesem Kontext ergreifen Polizisten auch unaufschiebbare Betreuungsmaßnahmen, bevor zuständiges Fachpersonal die Szene betritt. Brennt beispielsweise in der Nacht ein Wohnhaus, in dem zahlreiche Menschen in Sicherheit gebracht werden müssen, kann sich die Polizei kaum darauf beschränken, die geretteten Menschen lediglich hinter eine festgelegte Absperrlinie zu bringen. Verängstigt, geschockt, unterkühlt oder gar verletzt, können die Geretteten nicht sich selbst überlassen bleiben. Für sie müssen medizinische und psychologische Maßnahmen organisiert werden und sie brauchen „ein Dach über dem Kopf“. Aus einer polizeilichen Räumung muss also zeitnah eine behördliche Evakuierung werden. Die Polizei wird all dies zwar über ihre Einsatzleitzentralen initiieren, originär zuständig für die Folgemaßnahmen ist sie allerdings nicht. Grundsätzlich macht bereits die nachfolgende allgemeine Definition des Begriffs „Betreuung“, deutlich, dass es sich eben nicht um eine primäre Polizeiaufgabe handelt: „Maßnahmen der zuständigen Behörde, Fachdienste zur Unterbringung, Verpflegung sowie zur sozialen und psychosozialen Betreuung Betroffener“4.

Gleichwohl fällt es nicht schwer, sich auszumalen, wie lange es gerade nachts dauert, bis behördliche Hilfsmaßnahmen soweit ergriffen sind, dass die betroffenen Menschen wieder eine Bleibe haben und mit dem Nötigsten versorgt sind. Schon aus Gründen der Gefahrenabwehr – dem polizeilichen Kernauftrag schlechthin5 – muss die vor Ort agierende Polizei jene Zeitspanne zwischen Räumung und (Folge)Unterbringung6 durch geeignete Betreuungsmaßnahmen überbrücken. In der Auflistung der polizeilichen Standardmaßnahmen in Ziffer 3 der PDV 100 sucht man den Begriff „Betreuung“ dennoch vergebens. Fündig wird man erst am Ende dieses Katalogs – unter dem Eintrag „Taktische Betreuung“7. Diese wiederum ist – im Vergleich zu allgemeiner Betreuung – ganz eindeutig ein polizeiliches Anliegen und darf im Einsatz sehr häufig als erfolgsrelevant, zumindest jedoch als erfolgsbegünstigend bezeichnet werden.

2 Wann wird Betreuung „taktisch“?

Die Anlage 20 zur PDV 100 (quasi das Vokabelheft der Polizei) nimmt seit einigen Jahren eine Unterscheidung der Definitionen „Betreuung“ und „taktische Betreuung“ vor. Danach ist die taktische Betreuung die „zielgerichtete Einflussnahme auf Opfer, Angehörige, Zeugen, Auskunftspersonen und sonstige Betroffene zum Herstellen der Kooperationsfähigkeit und zum Erhalten der Kooperationsbereitschaft, um polizeiliches Handeln zu unterstützen“.

Erläutert sei dies am Beispiel einer Geiselnahme: Kommen Geiseln während der laufenden Täterbedrohung frei, verfügen sie i.d.R. über zahlreiche Informationen, die für die Polizeiführung von enormer Bedeutung sind: Wie viele Täter sind am Werk? Wie sind sie bewaffnet? Wie viele Geiseln/Opfer sind noch in der Gewalt des Täters? In welchem physischen und psychischen Zustand sind Geiselnehmer und Geiseln? Fundierte Antworten auf diese Fragen sind allesamt in hohem Maße erfolgsrelevant für die Kräfte, die sich auf einen Zugriff vorbereiten und für die Einsatzleitung, die die Lagebewältigung in größeren Zusammenhängen koordinieren und verantworten muss. Es ist demzufolge von höchstem taktischem Wert, das Wissen dieser Personen unmittelbar abzugreifen und sie nicht polizeilich unbeachtet in allgemeine Betreuungsformen anderer BOS oder sonstiger Einrichtungen ziehen zu lassen. Dies setzt allerdings ein gewisses „Verhandlungsgeschick“ und die Fähigkeit zu zielgerichteter Kommunikation unter hohem Einsatzdruck voraus.

Auch in einer Standard-BAO „AMOK“ ist eine Betreuungskomponente vorgesehen. Hier sind die taktischen Maßnahmen Ermittlungen und Betreuung expressis verbis zu einem Einsatzabschnitt verschmolzen. Der Grund dafür ist ausgesprochen einleuchtend: Die aus dem akuten Einwirkungsbereich eines AMOK-Läufers geretteten Personen, beispielsweise Schulkinder, werden an geeigneten Orten gesammelt und sind für die Ermittlungsbeamten augenblicklich eine wertvolle Quelle für Tat- und Täterhinweise. Dies gilt sowohl für Informationen, die der akuten Täterbekämpfung dienen, als auch für den Zeugenbeweis im späteren Ermittlungs- bzw. Strafverfahren. Die Sammelstellen haben zudem den Vorteil, Betreuungsmaßnahmen personell und sächlich zu bündeln und eintreffende Angehörige – im Fall genannter Schulkinder deren besorgte Eltern – sofort in die Betreuung einzubinden. Dies kann Polizei und andere BOS sogar entlasten, ohne den Vorteil o.g. Ermittlungschancen zu verlieren. Im Kern ist es auch bei diesem Beispiel so, dass die BAO-Struktur bewusst und frühzeitig Informationsaspekte für die Bewältigung der laufenden Lage beinhaltet. Diese Form der Betreuung ist also in hohem Maße taktischer Natur, was sicher nicht heißt, dass die Polizei, hätte sie keine Hoffnung auf wertvolle Informationen, sich nicht um die betroffenen Menschen kümmern würde oder sie ihr egal wären.

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