Organisierte Kriminalität

Hure oder Opfer?

(Mehr als nur) eine Frage der Ehre


Von Manfred Paulus, Erster Kriminalhauptkommissar a. D., Ulm/Donau

In Deutschland gehen selbst Politik und Gesetzgebung ganz selbstverständlich davon aus, dass die Prostitution im Wesentlichen freiwillig und ohne Zwang ausgeübt wird. Doch hinter glitzernden Fassaden könnte sich eine sehr unangenehme Wahrheit verbergen.

Hure oder Opfer?


400.000 Frauen gehen in Deutschland der Prostitution nach. Diese Zahl wird jedenfalls immer wieder genannt und zitiert. Das allerdings schon seit den 1980er-Jahren, seit einer Zeit also, in der sich die Märkte mit der „Ware Frau“ in Deutschland noch längst nicht so ausgedehnt hatten, wie das heute der Fall ist. Die Zahl 400.000 könnte längst überholt sein und in Wahrheit weiß niemand, wie viele Frauen gegenwärtig in Deutschland der Prostitution nachgehen. Statistiken geben in unserem Land genaueste Auskunft über die Anzahl von Masthühnern und Legehennen, nicht jedoch über die im Land anschaffenden Prostituierten. Der Staat und seine Organe halten sich – von den Finanzbehörden abgesehen – gerne vornehm zurück, was die Prostitution und die Prostitutionsmilieus betrifft. Galten sie doch bis vor nicht allzu langer Zeit noch als sittenwidrig und gelten sie doch immer noch als anrüchig – damit wollte und damit will man bis heute, zumindest offiziell und von den Steuereinnahmen abgesehen, nichts zu tun haben. Die Milieus sind Sperrgebiete – auch für die Wissenschaft.
Ganz selbstverständlich spricht man in diesem Land von den „Prostituierten“, vom „Prostitutionsgewerbe“ oder, um der Tätigkeit noch mehr Normalität und Seriosität zu verleihen, sogar von „Sexarbeiterinnen“ oder „sexuellen Dienstleisterinnen“. Manche träumen sogar davon, die Prostitution wäre ein Gewerbe, wie jedes andere auch – was sie freilich niemals war, was sie nicht ist und was sie auch niemals sein wird.
Ganz dem üblichen Sprachgebrauch entsprechend wird auch der jüngste Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages zur Neuregelung des „Prostitutionsgesetzes“ als „Gesetz zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen“ bezeichnet (Drucksache 18/8556).
Bei all dem bleibt unbeachtet, dass es sehr deutliche, wenn auch wenig und nur ungern zur Kenntnis genommene Hinweise darauf gibt, dass ein hoher, möglicherweise ein sehr hoher Anteil derer, die so selbstverständlich als Prostituierte bezeichnet und behandelt werden, gar keine Prostituierten sind – sondern Opfer! Opfer des Menschen-, des Frauen- und Kinderhandels. Opfer der sogenannten Zwangsprostitution oder zutreffender: der Sexsklaverei.
Werden solche Opfer als Prostituierte bezeichnet, so ist das fraglos zutiefst ungerecht und in seinen Folgen für die Betroffenen geradezu fatal. Selbst der gern und viel verwendete Begriff der „Zwangsprostituierten“ erscheint in diesem Zusammenhang problematisch, denn eine Frau, die zur Vornahme sexueller Handlungen gezwungen wird, ist nun einmal keine Prostituierte und damit auch keine „Zwangsprostituierte“ sondern Opfer, nichts als Opfer. Und Opfer sollten Opfer sein dürfen.
Dass zwischen einer Prostituierten und einem Opfer, zwischen einer Hure und einer (Sex-)Sklavin sprachlich wie in der Beurteilung des Tuns klar getrennt und unterschieden werden sollte, ergibt sich allein aus der Tatsache, dass eine Prostituierte (und auch eine Zwangsprostituierte) in unserer Gesellschaft unter einer erheblichen Stigmatisierung und Diskriminierung zu leiden und weder Beistand noch Hilfe zu erwarten hat. Opfer können also allein mit der – bewusst oder unbewusst – benutzten, falschen Begriffswahl und deren Folgen, noch einmal zu Opfern gemacht werden.
Vielleicht aber spricht man hierzulande keineswegs nur aufgrund einer oberflächlichen Betrachtung oder einer großzügigen Undifferenziertheit sondern ganz bewusst und mit Kalkül von den „Prostituierten“, von „Sexarbeiterinnen“, vom „Prostituiertenmilieu“ und vom „Prostitutionsgewerbe“ – völlig ungeachtet dessen, ob und in welchem Ausmaß es dabei wirklich um Prostituierte geht. Vielleicht tut man das, um auf diese Weise zu zeigen, dass man von den wahren und möglicherweise verbrecherischen Verhältnissen und von solchen Opfern nichts ahnt und nichts weiß – was man sonst ja auch niemals hinnehmen und dulden würde! Vielleicht spricht man von den „Prostituierten“ und von „erotischen und sexuellen Dienstleistungen“ um alles schön zu reden und auf diese Weise all den hehren, menschenfreundlichen und rechtsstaatlichen Vorgaben und Idealen gerecht zu werden. Zum Beispiel der über allem stehenden Norm: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Vielleicht sieht man nicht hin sondern weg, um weiterhin von Rechtsstaatlichkeit und einer humanen und heilen Welt träumen zu können...

Die Antwort auf die Frage Prostituierte oder Opfer definiert sich über die Freiwilligkeit des Tuns. Und Hinweise wie Beweise für Freiwilligkeit oder Zwang, Antworten auf die Frage Prostituierte oder Opfer, ergeben sich vor allem

  • aus den Anwerbungsmethoden und (bei Ausländerinnen) aus den Schleusungspraktiken,
  • aus Abhängigkeiten oder Hilflosigkeit und den anderen Bedingungen am Ort des Anschaffens,
  • aus den Machtverhältnissen sowie der Art und Weise der Machtausübung im jeweiligen Milieu bzw. Objekt sowie
  • aus dem Verbleib der erzielten Einnahmen.

Auch aus den Berichten von inzwischen tausenden, in ihre Heimatländer zurückgekehrter oder geflüchteter „Prostituierter“ und den Erkenntnissen dort ansässiger aber auch in Deutschland tätiger Nichtregierung- und Hilfsorganisationen (NGO) ergeben sich Erkenntnisse über die (Arbeits-)Bedingungen der in Deutschland „in der Prostitution tätigen Personen“.

Was aber ist „freiwillig“ und was nicht?


Freiwilliges Tun oder Zwang, Prostituierte oder Opfer? Um das zu beantworten muss zunächst geklärt werden, was unter „freiwillig“ zu verstehen ist. Geht eine junge Frau freiwillig der Prostitution nach, wenn sie keine andere Möglichkeit sieht, ihr Kind zu ernähren oder die lebenserhaltende OP für ihre Mutter zu bezahlen? Geht sie freiwillig der Prostitution nach, wenn sie nur diese eine Möglichkeit sieht, um ihre Familie aus anhaltender Armut und Not zu befreien? Wenn sie ihr Studium auf andere Weise nicht finanzieren kann? Wenn sie ihre Schulden anders nicht tilgen kann? Wenn sie aus Liebe (zu einem Loverboy oder Zuhälter) handelt? Wenn sie Angst hat, mit leeren Taschen heimzukehren und dann als Versagerin zu gelten? Wenn sie sich im wahrsten Sinne des Wortes freiwillig prostituiert aber mit den Bedingungen im jeweiligen Objekt nicht einverstanden ist?

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