Wissenschaft  und Forschung

Der lange Weg nach Westen

Von Dr. Udo Baron, Hannover

Von Dr. Udo Baron, Hannover

1 Die Welt 1989/90


Eine Welle von Revolutionen zieht über die ostmitteleuropäischen Länder. Die kommunistischen Diktaturen in Polen, in Ungarn, in der DDR, in der Tschechoslowakei, in Bulgarien und schließlich in Rumänien und Albanien können dem Freiheitsdrang der eigenen Bevölkerung nichts mehr entgegensetzen. Der Eiserne Vorhang, der Europa über 40 Jahre teilte, wird von den europaweiten Protestbewegungen niedergerissen, die Mauer in Berlin fällt. Deutschland wird in kürzester Zeit wieder vereint, die Sowjetunion aufgelöst und der real existierende Sozialismus landet auf dem Müllhaufen der Geschichte. Der Kalte Krieg ist beendet, den Sieg der liberalen Demokratien westlicher Prägung scheint nichts mehr aufzuhalten.

Der „lange Weg nach Westen“, wie ihn der Historiker Heinrich August Winkler nennt, steht von nun an auch den Völkern Osteuropas offen. Der Westen als Objekt der Begierde für Millionen von Menschen leuchtet endlich auch im Osten. In kürzester Zeit wenden sich die geschundenen Völker Osteuropas der liberalen Demokratie zu und drängen in die EU und die NATO. Beide transnationalen Einrichtungen werden zu Sehnsuchts- und Zufluchtsorten. Sie gelten als Garant für Freiheit, Frieden, Sicherheit und Wohlstand. Bald schon wird die westliche Wertegemeinschaft um die ost- und mitteleuropäischen Staaten erweitert. Selbst zwischen EU und NATO auf der einen und dem früheren Feind Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion auf der anderen Seite scheint eine Zusammenarbeit möglich. Allerorts träumen die Menschen vom ewigen Frieden, manche meinen gar schon, das Ende der Geschichte sei erreicht.

2 Risse werden sichtbar


Doch bereits während dieser Phase des Träumens klopfte die Realität wieder äußerst unsanft an die Tür des Weltgeschehens. Agierten die liberalen Demokratien bei der Befreiung des vom Irak im August 1990 überfallenen Kuwaits noch weitgehend geschlossen mit ihren arabischen Verbündeten unter dem Dach der UNO, so wurden vor dem Hintergrund der jugoslawischen Nachfolgekriege und des Völkerschlachtens in Ruanda und Burundi ab Mitte der 1990er Jahre erste Risse auch wieder innerhalb der EU und der NATO sichtbar. Die Hoffnung auf eine neue, auf eine bessere Welt war schneller als erwartet brüchig geworden. Alte Gegensätze, aber auch fehlende Konzeptionen für die neuen Herausforderungen ließen sich nicht länger verbergen. Beerdigt schienen die Visionen von einer Friedensdividende, von einem Leben ohne Kriege und ohne Armeen. Spätestens der 11. September 2001 mit seinen islamistischen Anschlägen auf New York und Washington weckte schließlich auch die Letzten aus ihrem liebgewonnenen Dornröschenschlaf. Versuchten zunächst die liberalen Demokratien beim Angriff auf Afghanistan Ende 2001 noch gemeinsam im Rahmen ihrer supranationaler Einrichtungen auf die veränderte Weltlage zu reagieren, so zerbrach dieser Konsens bereits Anfang 2003 mit dem unter falschen Behauptungen begonnenen Krieg gegen den Irak zum Sturze seines Diktators Saddam Husseins. Tiefgreifende Zerwürfnisse innerhalb der westlichen Wertegemeinschaft waren die Folge.

3 Rechtpopulistische Strömungen gewinnen an Einfluss


Vor dem Hintergrund der seit 2008 andauernden globalen Wirtschafts- und Finanzkrise und der zunehmenden islamistischen Bedrohung sah sich vor allem die EU heftiger Kritik der eigenen Bevölkerung ausgesetzt. Statt Geschlossenheit und Lösungskompetenz vermittelte sie ebenso wie die NATO zunehmend den Eindruck innerer Zerrissenheit und Konzeptionslosigkeit. Von Ideen oder gar Visionen für ein einheitliches Europa und eines einheitlichen Handels der liberalen Demokratien konnte kaum mehr die Rede sein. Antworten auf Fragen, die die Bevölkerungen bewegten, blieben aus. Nicht von ungefähr gewannen in dieser Phase der Orientierungslosigkeit rechtspopulistische Strömungen und Parteien zunehmend auch in den liberalen Demokratien an Einfluss.

4 Verschärfung durch die Flüchtlingskrise


Mit Beginn der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 verschärfte sich dieser Trend noch. Eine sich populistisch und nationalistisch gebende Welle schwappte über die liberalen Demokratien und spülte seitdem alte und neue rechtspopulistische Parteien bis in die Regierungsverantwortung. In Polen kam in Zuge dessen die nationalkonservative Partei für Recht und Gerechtigkeit (PiS) des Jaroslaw Kaczynski erneut an die Macht und folgte damit ihrer Schwesterpartei im Geiste, der seit 2010 in Ungarn regierenden nationalliberalen Fidesz-Partei des Viktor Orban. In Westeuropa erhielten rechtspopulistische Parteien wie die niederländische Partij voor de Vrijheid des Geert Wilders, der Front National der Marine Le Pen in Frankreich oder die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die bei den österreichischen Bundespräsidentenwahlen 2016 beinahe das Staatsoberhaupt hätte stellen können, enormen Zulauf. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) entstand zudem erstmals auch in Deutschland eine rechtspopulistische Partei, die in kürzester Zeit die Landesparlamente erobern und bislang erfolgreich den politischen Rand rechts von den Unionsparteien einnehmen konnte. Von ihrer Grundhaltung her lehnen alle diese Parteien das westliche Gesellschaftsmodell einer liberalen Demokratie und ihre supranationalen Einrichtungen ab. Sie wollen vielmehr die liberalen, offenen Gesellschaften durch nationalistische Regierungen ersetzen und im Kern den Rückschritt in den Nationalstaat des 19. bzw. 20. Jahrhunderts antreten. Nicht einmal mehr vor den Mutterländern der Demokratie, vor Großbritannien und den USA, scheint diese Entwicklung Halt zu machen. Schockierte zunächst die Entscheidung der Briten für einen Austritt Großbritanniens aus der EU (Brexit), so stürzte die Wahl des politischen Populisten Donald Trump zum 45. US-Präsidenten die westliche Wertegemeinschaft in eine tiefe Krise. In dem Trump sich einerseits öffentlich für die Folter aussprach, die Medien permanent als „Feinde des Volkes“ diffamierte und zum Bau einer Mauer nach Mexiko aufrief, andererseits die NATO und die EU infrage stellte, entfernte er sich weiter als jemals vor ihm ein amerikanischer Präsident von den Werten des Westens und dem Gedanken einer liberalen Demokratie. Doch Populisten vom Schlage eines Trumps sind nicht vom Himmel gefallen. Sie sind das Produkt einer weit verbreiteten Stimmung in den liberalen Demokratien, die sich aus Politikverdrossenheit und der Ablehnung des Gedankens einer offenen Gesellschaft und ihrer Werte speist. Trump, Le Pen, Petry und all die anderen Populisten sind nicht die Ursache, sondern vielmehr Symptom der Krise des Westens und seiner Institutionen. So starrten die Demokratien westlicher Prägung auch wie die Kaninchen vor der Schlange auf den Ausgang der französischen Präsidentenwahlen im April bzw. Mai 2017. Wäre die rechtpopulistische Marine Le Pen zur Präsidentin gewählt worden, so hätte es auch in diesem Kernland der Demokratie zu einer Volksabstimmung über den Austritt Frankreichs aus der EU und somit zu einem möglichen Frexit kommen können. Ohne Großbritannien und Frankreich wäre aber die EU, zumindest in ihrer bisherigen Form, Geschichte. Einem Dominoeffekt und einer damit einhergehenden Renationalisierung Europas wären Tür und Tor geöffnet.

Seite: 12weiter >>