Editorial

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Liebe Leserinnen, lieber Leser,


in kürzester Zeit sind über zwei Millionen Flüchtlinge nach Deutschland eingereist. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Die extrem hohen Zahlen haben die zuständigen öffentlichen Verwaltungen weitgehend unvorbereitet getroffen. Die Herausforderung besteht nicht nur in der Versorgung, Unterbringung, Administration und Integration der Hilfesuchenden, sondern auch in den damit einhergehenden Konfliktpotenzialen. Spätestens nach dem Desaster in der Silvesternacht auf der Domplatte muss nicht nur die Polizei in Köln um ihr mühsam erarbeitetes Ansehen ringen, zusätzlich bestimmt der Beriff „Angst“ zunehmend die Diskussionen. Diese Entwicklung trifft auf eine Polizei, deren Leistungsfähigkeit in den zurückliegenden Jahren in nahezu allen Bereichen durch massive Einsparungen in unverantwortlicher Weise erheblich beeinträchtigt wurde. Gleichzeitig sind die Herausforderungen in den vergangenen Jahren nicht geringer geworden. Nahezu alle Phänomene sind zunehmend von einer Internationalisierung, Digitalisierung und Dynamisierung gekennzeichnet. Die Warnungen der Experten aus den Sicherheitsbehörden vor den zu erwartenden Folgen und Hinweise auf den notwendigen Handlungsbedarf wurden überhört. Es steht außer Zweifel, dass die Abwehr von Gefahren aus dem Spektrum des islamistischen Terrorismus im Vordergrund stehen müsste. Gleichwohl darf die Bekämpfung klassischer Kriminalitätsphänomene nicht vernachlässigt werden. Hierzu zählen beispielsweise die erheblich gestiegenen Fallzahlen bei Wohnungseinbrüchen, die sich vor allem überaus negativ auf das subjektive Sicherheitsgefühl auswirken. Auch darf die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (OK) nicht aus dem Blickfeld geraten, denn verfestigte Strukturen bedeuten nicht selten „verlorenen Boden“ für die Sicherheitsbehörden. Vor diesem Hintergrund befasst sich Dr. Sabine Vogt, Abteilungsleiterin Schwere und Organisierte Kriminalität im Bundeskriminalamt, unter dem Titel „Organisierte Kriminalität – Facetten der OK“ mit der aktuellen Lage und dem daraus resultierenden Handlungsbedarf. Ausgangspunkt sind jährlich etwa 600 Ermittlungsverfahren in Deutschland und registrierte Tatverdächtige zwischen 8.000 und 9.000. Im Jahr 2014 wurde ein Gesamtschaden von etwa 539 Millionen Euro registriert. Der von Europol veröffentlichte SOCTA-Bericht weist im Jahr 2013 rund 3.600 Gruppierungen aus, die in Europa dem Komplex zugeordnet werden. Vor dem Hintergrund, dass man sich bereits vor 25 Jahren auf eine gemeinsame Definition verständigt hat, wirft Dr. Vogt Fragen auf: Lässt sich das organisierte Handeln krimineller Gruppierungen im 21. Jahrhundert aus einer Perspektive, auf die man sich vor einem Vierteljahrhundert verständigt hat, in gebotener Weise erfassen? Bedarf es eines Perspektivwechsels, um die tatsächlichen Dimensionen Organisierter Kriminalität in all ihren Facetten zu erfassen? Welchen Einfluss haben unaufhaltsam und beschleunigt voranschreitende Entwicklungen wie Globalisierung, Transnationalisierung und Technisierung auf das Phänomen Organisierte Kriminalität? Sind die Strafverfolgungsbehörden in der Lage, dynamische Entwicklungen in ihren Wechselwirkungen mit der Organisierten Kriminalität und ihrem Bedrohungspotenzial rechtzeitig zu erkennen, um angemessen darauf reagieren zu können?
Nach einer Betrachtung einzelner Phänomene stellt Frau Dr. Vogt fest, dass Organisierte Kriminalität keine aktive Medienstrategie verfolgt, da sie Aufmerksamkeit meidet, im Verborgenen agiert und nur selten unmittelbar sichtbar ist. Darin liegt auch die Gefahr ihrer Unterschätzung. Die Auswirkungen bleiben jedoch nicht im Verborgenen, sondern treffen eine zunehmend wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern ganz unmittelbar.
Grundvoraussetzung für eine effektive Bekämpfung der OK ist nach ihrer Auffassung, dass Gesellschaft, Politik und Medien, Justiz, Zoll und Polizei auf allen Ebenen für das Vorhandensein dieser Strukturen sensibel sind und dass die Polizei die zeitgemäßen Werkzeuge und Mittel an die Hand bekommt, die für eine wirkungsvolle Kriminalitätsbekämpfung unabdingbar sind. Zutreffend stellt die Autorin mittelbar fest, dass für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, Ressourcen fehlen, die anderweitig gebunden sind. Es zeigt sich einmal mehr, welche Auswirkungen das Ziehen am „Tischtuch Personal“ hat. stern.de stellt im Januar 2016 unter dem Titel „Die Ohnmacht der deutschen Polizei“ fest: „Vielleicht noch nie war die Polizei in Deutschland so wichtig wie in diesen Tagen - und noch nie war sie in einem solch desolaten Zustand. Die Beamten sind so überfordert, dass Straftaten wie Einbruch oder Diebstahl oft ungeahndet bleiben.“
Es bleibt zu hoffen, dass angesichts der beschriebenen Entwicklungen und Herausforderungen die Verantwortlichen alsbald einen Paradigmenwechsel einleiten. Die Sicherheitsbehörden müssen wieder in die Lage versetzt werden, in allen Bereichen professionell agieren zu können.

Herbert Klein