Politik - Innere Sicherheit

Sicherheit und Ordnung in Deutschland?

Von Dr. Wolfgang Hetzer, Ministerialrat a. D., Wien

In Fernsehnachrichten wurden in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder Szenen ausgestrahlt, die mehr als verstörend wirkten. Bei vielen Zuschauern in Deutschland, Österreich und anderen europäischen Nachbarstaaten kam sogar Angst auf, als sie sahen, dass Tausende von Flüchtlingen Staatsgrenzen überrannten und zur Sicherung eingesetzte Polizisten (mancherorts sogar Soldaten) einfach zur Seite schoben und hilflos zurückließen. Die damit verbundene Beeinträchtigung und Gefährdung, wenn nicht Bedrohung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in vielen Ländern der Europäischen Union und auf dem gesamten Kontinent ist offensichtlich geworden. In Deutschland wird aber alles gut werden, wollte man der immer noch amtierenden Bundeskanzlerin Angela Merkel glauben: „Wir schaffen das“. Bei dieser optimistischen Einschätzung der Fähigkeiten der Bürger und der Behörden der Bundesrepublik Deutschland im Umgang mit Flüchtlingsströmen, die in die Dimension einer Völkerwanderung hineinwachsen, handelt es sich um eine überprüfungsbedürftige Behauptung eines nationalen Vermögens, die offenbar keinen Raum mehr für eine Debatte darüber bietet, ob das Deutsche Volk die mit dem Zuzug von demnächst vielleicht Millionen Menschen aus anderen Kulturkreisen verbundenen Herausforderungen überhaupt bewältigen will. Diese Fragestellung verbietet sich wohl angesichts einer Staatsräson, die sich mittlerweile vor allem auf Barmherzigkeit und Menschenrechtsschutz zu konzentrieren scheint. Gleichwohl hat manch ein Politiker, etwa in Bayern, kurze Zeit nach dem Beginn des Ansturms auf die deutsch-österreichischen Grenzen von „Notwehr“ zur Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung gesprochen. Zuvor hatte man allerdings auf etlichen Bahnhöfen in Deutschland Willkommensschilder aufgestellt. Vertreter der deutschen Zivilgesellschaft spendeten den nach allen einschlägigen Rechtsregeln illegal nach Deutschland eingereisten Bürgern und Bürgerinnen fremder Staatsangehörigkeit Beifall und boten Kleidung und Lebensmittel, manchmal sogar Unterkunft an. Nachvollziehbare humanitäre Motive haben jedoch zu einem Milieu der Rechtlosigkeit geführt und die alte Weisheit „Not kennt kein Gebot“ bestätigt. Der unmittelbaren Not von Kindern und Frauen, die allerdings in der Minderheit waren, ist mit den polizeilichen Instrumenten unmittelbaren Zwangs zwar nicht zu begegnen. Unterdessen ist aber nicht mehr zu übersehen, dass sich Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum und in etlichen Aufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge nicht mehr in der gebotenen Art und Weise aufrechterhalten lassen. Die Polizei und andere Verwaltungsbehörden werden auf Dauer mit dieser Lage heillos überfordert sein. Polarisierung und Radikalisierung werden nicht nur in der deutschen Gesellschaft zunehmen. Die Politik hat dennoch keine überzeugenden nachhaltigen Konzepte vorgelegt, wie man mit dieser auch sicherheitspolitisch größten Herausforderung seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland auf Dauer erfolgreich umgehen kann. Die Debatte über „Transitzonen“ spricht für sich. Die Polizeien des Bundes und der Länder und selbst die Bundeswehr werden dieses grundlegende und existenziell bedrohliche Versagen auszubaden haben, im schlimmsten Fall unter bürgerkriegsähnlichen Verhältnissen. Die Verteidigung vital wichtiger Positionen (Wohnung, Arbeit, Gesundheit, Sicherheit und Ordnung, Kultur und Identität) wird irgendwann nicht mehr von politischen Aufrufen, Partei- und Wahlprogrammen und dem mehr oder minder lehrreichen Gedankenaustausch in „Talkshows“ bestimmt werden, sondern von einem brutalen Kalkül kollektiver Durchsetzung eigener Lebensinteressen.
Etliche Mitglieder der verantwortlichen politischen Führungscliquen werden dann allerdings schon lange nicht mehr in ihren Ämtern sitzen. Dafür werden die gleichen Polizisten, die heute das um sich greifende Staatsversagen beobachten und die Folgen zu bewältigen haben, immer noch auf der Straße und auf ihren Dienststellen sein und die Hinterlassenschaft der jeweiligen„Eliten“ ordnen. Das wird ihnen jedoch nicht gelingen, weil man in Deutschland kaum noch zwischen Loyalität, Feigheit und Gemeinwohlverpflichtung unterscheiden kann bzw. das eine oder andere jeweils bedarfsgerecht in Anspruch nimmt. Eine Staatsgewalt, die Sicherheit und Ordnung nicht bewahren oder wiederherstellen kann, hat jedenfalls ihre Legitimation verloren. Die Wurzeln des staatlichen Gewaltmonopols liegen im freiwilligen Verzicht der Bewohner eines bestimmten Gebietes auf – notfalls auch gewaltsame – Selbstbehauptung. Sie sind grundsätzlich zum (Rechts-)Gehorsam verpflichtet, weil und solange sie unter dem Schutz der staatlichen Autoritäten stehen. Deren Gewaltmonopol verliert aber seine innere Rechtfertigung, wenn die staatlichen Organe ihrem Schutzauftrag nicht mehr nachkommen können. Zu einem Staat gehören ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt. Jedes Gebiet setzt begrifflich und tatsächlich Abgrenzung voraus. Angesichts der jüngsten sicherheitspolitischen Entwicklungen ist eine Frage zu beantworten:

Was ist das für ein Staat, der nicht in Lage ist, seine territoriale Integrität zu schützen?

In England wurde vor kurzem ein Vorschlag unterbreitet, wie man insbesondere Deutschland nennen könnte: „Hippiestaat“. Auf einer internationalen Konferenz in London kam man jüngst zu einem eindeutigen Befund: „Berlin hat eine Meise.“ Das Asylrecht wird unbeschränkt gewährleistet und auf Bahnhöfen ist eine „Willkommenskultur“ etabliert. Die schiere Masse der Zuströmenden hat unterdessen jede spezifische Legalität beseitigt. Die Staatsgewalt wurde gleichwohl nicht gewalttätig, sondern handelte geradezu fürsorgerisch. Das ist menschlich anrührend. Humanität ist aber nicht der alleinige Daseinszweck einer staatlich verfassten Organisation. Sie sollte vornehmlich dem Schutz ihrer Mitglieder dienen. Immer mehr Bürger gewinnen aber mittlerweile den Eindruck, dass Deutschland seine Bürger nicht mehr ausreichend schützen kann. Die Staatsgrenzen sind faktisch bedeutungslos geworden. Eine weiter anschwellende Zahl von Menschen aus anderen Staaten und anderen Kulturkreisen führt keineswegs nur zu einer „Bereicherung“. Es wird wirtschaftlicher, sozialer, sicherheitspolitischer und sozialpsychologischer Sprengstoff angehäuft. Von angemessenen staatlichen Kontrollstrukturen ist weit und breit nichts zu sehen. Der Staatsbankrott ist dennoch bislang zwar nicht eingetreten. In Deutschland zeichnet sich aber eine Loyalitätsprobe ab, wie sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch nicht anstand. Das Deutsche Volk wird sich bald überlegen müssen, ob zwischen dem gesunden Menschenverstand und der jetzigen Staatsraison noch eine Deckung besteht. Deutschland hat viele Regierungen erlebt und überlebt. Früher oder später wird aber die Frage zu beantworten sein, was wichtiger ist: Der Fortbestand einer Regierung oder die fortgesetzte friedliche Koexistenz verschiedener Teile der Bevölkerung. Letztlich steht das Überleben Deutschlands als offener Verfassungsstaat zur Debatte. Die Politiker dieses Landes haben nicht verstanden, was die Stunde geschlagen hat. Ihnen ist nicht zuzutrauen, dass sie die gegenwärtigen Risiken rechtzeitig und realistisch einschätzen. Sie werden auch die gebotenen nachhaltig wirksamen Maßnahmen nicht ergreifen. Es ist daher höchste Zeit, an den wirklichen Souverän zu erinnern und zu appellieren. Man mag zwar auch heute noch darüber streiten, ob (nur) derjenige souverän ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Eines müsste aber klar sein: Souveränität ist inzwischen selbst in Deutschland nicht mehr genehmigungsbedürftig. Sie muss auch nicht erst durch „ordentliche“ Verfahren legitimiert werden. Ihr entscheidender Referenzpunkt ist die Faktizität des Überlebenswillens und die Bereitschaft zur Selbsterhaltung und Selbstverteidigung.