Wissenschaft  und Forschung

Das autoritäre Syndrom in den arabischen Gesellschaften

Eine sozialpsychologische Analyse

Von Dr. Marwan Abou-Taam, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz

Um die Ereignisse in den arabischen Gesellschaften verstehen zu können, müssen im Kontext moderner Entwicklungen die Denkstruktur der Menschen und die damit zusammenhängende zivilisatorisch begründete Weltanschauung nachgezeichnet werden. Ausschlaggebend für die Einbeziehung des Ansatzes vom „autoritären Charakter“ bei der Auseinandersetzung mit den Rahmenbedingungen arabischer Gesellschaften ist die Tatsache, dass sich die Handlungsweisen von Menschen nicht allein durch „ökonomische Vorgänge erklären [lassen]“ (Horkheimer u.a. 1936: 9f). Gesellschaften reagieren auf Grund des typischen Charakters ihrer Mitglieder, der sich ebenso sehr im Zusammenhang mit der früheren wie mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung gebildet hat. Denn um nachvollziehen zu können, „warum eine Gesellschaft in einer bestimmten Weise funktioniert, warum sie zusammenhält oder in Auflösung begriffen ist, gehört […] die Erkenntnis […], wie sich ihr Charakter im Zusammenhang mit allen kulturellen Bildungsmächten der Zeit gestaltet hat.“ (ebd.)

Das zentrale Element, das ein Grundmuster im arabischen Denken nationenübergreifend darstellt, ist das Patriarchat, das auf ´assabia/Esprit de Corps und ´aqida/Grundprinzipien des Glaubens aufbaut. In seinem Grundcharakter ist es autoritär und versucht stets, sich bestehenden Resonanzstrukturen anzupassen (vgl. Gamson 1992). Das arabische Patriarchat basiert auf historischen Mythen, welche ihrerseits Anknüpfungspunkte für höchst unterschiedliche Entwicklungen bieten können (Fearon/Laitin 2000). Die sich darauf gründende Macht wird vielerorts von den Ideologien als Mechanismus eingesetzt. Linke, Nationalisten oder gar Islamisten nutzen in ihren Diskursen Deckungsgleiche Argumentationslinien und nutzen ähnliche Mechanismen.

Das Patriachat als Konstante arabischer Gesellschaften


Die Grundstruktur der arabischen Familie liefert die wichtigsten Indikatoren für die soziologische Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen in der arabischen Welt. So zählt die Aufrechterhaltung des Status quo zu den Hauptaufgaben der Familie, wodurch die Kontinuität der Macht und damit der Autorität garantiert werden. Dies spiegelt sich in der Macht des Vaters innerhalb des Familienverbandes wider (Sharabi 1988. Sharabi konstatiert in diesem Zusammenhang, dass die Familie in der arabischen Welt die einzige Institution ist, die eine Mittlerrolle zwischen der individuellen Identität ihrer Angehörigen und der sie umgebenden wertevermittelnden Zivilisation einnimmt (ebd.; Sharabi 1975: 23). Die Familie soll demnach die vorherrschende patriarchalische Ordnung durchsetzen und damit mögliche Verteilungsschwierigkeiten regulieren. Dem Patriarchen kommt eine entsprechende Wächterrolle zu (Joseph 1996), die gesellschaftlich durch Macht, Autorität und Ansehen entlohnt wird. Im Interesse des herrschenden gesellschaftlichen Systems ist es daher so, dass „der Geist der Veränderung durch den der Unterordnung […] und der Geist der Innovation durch den des Rückzuges ersetzt werden.“ (Sharabi 1975: 55) Ein System von Verwandtschaftsbeziehungen, welches sich seinerseits der Stammesstruktur bedient, spiegelt sich in allen Institutionen der Gesellschaft wider. Darin stellt die hierarchisch strukturierte Familie mit der Autorität des Vaters an der Spitze und die Ohnmacht und der totalen Unterordnung des Kindes am Fuß der Machtpyramide den Hauptbestandteil dar.
Es lässt sich feststellen, dass das patriarchalische Grundmuster in unterschiedlichen Intensitäten Familie, Schule, Universität, soziale und politische Beziehungen sowie die Struktur politischer Parteien – soweit diese bestehen – bestimmt. Das Patriarchat kontrolliert das Leben seiner Mitglieder und festigt das Konzept zentralisierter Macht, die von dem Willen einer einzigen Autorität geleitet und determiniert werden. Dies zieht sich durch alle gesellschaftlichen Milieus mit unterschiedlichen Ausdrucksformen. Lediglich innerhalb von Frauenselbstorganisationen ist diese Aussage zu relativieren.
Diese patriarchalische Autorität hat sich in einem bestimmten historischen Kontext ausgebildet und war gerechtfertigt, solange sie den Angehörigen Schutz bieten konnte. Die gesellschaftlichen Transformationen und die dadurch verursachten politischen schaffen neuartige Konflikte in der arabischen Welt, die ihrerseits Neuauflagen des alten Patriarchats produzieren. Obwohl in Tunesien und in Ägypten die Frauen sich massiv im revolutionären Geschehen eingebracht haben, wurden sie nach dem Sturz der Regime aus dem politischen Bereich quasi ausgeschlossen. Die Neuaufstellung des alten Patriarchats erweist sich als ein vielschichtiges Konstrukt mit vielen Gesichtern, die im Spannungsfeld von Modernität und traditionellem Patriarchat stehen. Diese Spannung kann nur verstanden werden, wenn man den westlichen Einfluss auf die alten patriarchalischen Strukturen mit in die Analyse einbaut. Erst dann wird deutlich, dass der neue politische Diskurs das Produkt einer Symbiose modern anmutender Strukturen und traditioneller Wertevorstellungen ist. Die fehlende Modernität kann unter anderem damit erklärt werden, dass das alte Konzept der Loyalität und Unterordnung gegenüber der eigenen Sippe auf Kosten der Loyalität gegenüber dem Staat und seine Institutionen eben keinen innovativen Durchbruch ermöglichen. Der Religion kommt bei der Festigung patriarchalischer Strukturen eine zentrale Rolle zu. Islamische Rechtswissenschaft (arab.: fiqh) im Orient war stets überwiegend wenn nicht ausschließlich eine Männerdomäne. Diese kannte in ihrer Beziehung zur Herrschaft durchaus, auch wenn dies bestritten wird, eine Hierarchie, die patriarchalisch organisiert war. Entsprechend wurden und werden religiöse Texte und Verhaltensregeln im Sinne des Patriarchats interpretiert. Ziel der Einbindung der Religion ist es, die Masse durch geeignete Maßnahmen in ihrer infantilen psychischen Abhängigkeit zu halten. Dies beeinflusst heute noch die arabische Denkstruktur nachhaltig. Bedenkt man, dass der politische Islam sich durchsetzt, so kann man durchaus davon ausgehen, dass dieser Mechanismus an Intensität zunehmen wird.
Der Staat als Instanz, die Recht und Ordnung schafft und darüber hinaus Allokation leistet, wird als solcher nicht wahrgenommen. Die politischen Eliten und im besonderen Maße die Staatsführung verstehen sich ideologieunabhängig im Kontext der Weiterführung des patriarchalischen Gedanken als „Vater der Nation“, der alleine die volle Autorität beanspruchen darf, um seine Familie (Nation) zu schützen. Dabei bildet auch hier die Religion selbst in vermeintlich säkularen Systemen die Legitimationsideologie der entsprechenden Herrschaftsschicht auf der Grundlage der Sakralisierung zwischenmenschlicher Herrschaftsbeziehungen, der Entsubjektivierung der Menschen als gehorsamspflichtige Untertanen und der dogmatischen Setzung einer absolutistischen Interpretation der Scharia. Diese Konstitutionsfaktoren werden von der orthodoxen Ulama-Schicht garantiert, womit der organische Einbau des Islam in die „orientalische Despotie“ gewährleistet wird.

Der Herrscher als Hirte – Produzent von Gewalt


In der arabischen Literatur sowie in den Reden arabischer Könige und „quasi-Präsidenten auf Lebenszeit“ entdeckt man oft das Motiv des Hirten. Dabei handelt es sich um eine Vorstellung innerhalb der arabischen Denkstruktur, wonach der „Hirte“ (König, Präsident, Stammesführer, Vater) sich um seine Herde kümmert und sie führt. Er ist um das Wohl des Einzelnen bemüht, ohne die gesamte Herde aus dem Blick zu lassen. Diese zivilisatorische Wahrnehmung des „Führers“ verschleiert und ignoriert gleichzeitig realexistierende Interessen und Machtbestrebungen desselben. Der Patriarch führt demnach nicht, weil er vom Volk legitimiert worden und damit eine Verpflichtung diesem gegenüber eingegangen ist, also aus Pflichtbewusstsein, sondern aus Treue und Güte zu seinem Volk. Der Glaube an die moralische Qualität der Macht entfaltet durch die ständige Erziehung zum Gefühl der eigenen Sündhaftigkeit und moralischen Unwürdigkeit eine Wirkungskraft, die die Rollenverteilung innerhalb des Systems stabilisieren soll. Je stärker das Schuldgefühl der Untertanen und die Überzeugung eigener Fehlbarkeit sind, desto heller strahlt die Tugend des Patriarchen. Gleichzeitig verlangt die „väterliche“ Autorität des Patriarchen den Schützlingen ein äußerstes Maß an Pflichterfüllung und Unterordnung ab. Dieses Verhalten erklärt die Tatsache, dass alle Führer der arabischen Welt innerlich überzeugt sind, dass ihr Abtreten die Existenz ihres Staates und damit des Gemeinwesens gefährden würde. Besonders deutlich wurde dies in den Reden Mubaraks vor seinem vom Militär erzwungenen Abtritt. Ähnlich argumentierte heute auch der syrische Präsident Assad.

Seite: 1234weiter >>