Rechtssprechung

Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht

I. Materielles Strafrecht §§ 211, 212 StGB – Mord: Voraussetzungen der niedrigen Beweggründe und der Arg- und Wehrlosigkeit beim Übergang von Körperverletzungs- zu Tötungshandlungen. Der Angeklagte (A.) hatte mit seiner Ehefrau etliche Streitigkeiten ohne Tätlichkeiten, mehrfache Versöhnungen und Trennungen.

Wir bieten Ihnen einen Überblick über strafrechtliche Entscheidungen, welche überwiegend – jedoch nicht ausschließlich – für die kriminalpolizeiliche Arbeit von Bedeutung sind. Im Anschluss an eine Kurzdarstellung ist das Aktenzeichen zitiert, so dass eine Recherche beispielsweise über Juris möglich ist.

I. Materielles Strafrecht

Dirk Weingarten
Polizeihauptkommissar & Ass. jur.
Polizeiakademie Hessen

§§ 211, 212 StGB – Mord: Voraussetzungen der niedrigen Beweggründe und der Arg- und Wehrlosigkeit beim Übergang von Körperverletzungs- zu Tötungshandlungen. Der Angeklagte (A.) hatte mit seiner Ehefrau etliche Streitigkeiten ohne Tätlichkeiten, mehrfache Versöhnungen und Trennungen. Die Geschädigte hatte zwischenzeitlich ein intimes Verhältnis zu einem Bekannten des A. und war ausgezogen. In der Folgezeit versuchte der A. sie immer wieder telefonisch zu erreichen, erschien vor ihrer Wohnung sowie an ihrer Arbeitsstelle und beobachtete sie. Am Tattag nahm der A. Lederhandschuhe mit und steckte ein Küchenmesser mit einer 19 cm langen Klinge in seine Jackentasche, um seine Ehefrau zu töten, falls das Gespräch mit ihr „nicht in seinem Sinne“ verlaufen werde. Er versteckte sich in einem Gebüsch, um sie zu überraschen, weil er befürchtete, dass sie sofort umkehren würde, falls sie ihn entdeckte. Als die Geschädigte mit dem Auto wegfahren wollte, verließ A. sein Versteck, öffnete die Beifahrertür und setzte sich auf den Beifahrersitz. Zwischen A. und der Geschädigten kam es zu lautstarken verbalen Auseinandersetzung. Der A. wurde daraufhin äußerst wütend und schlug seine Ehefrau, die aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen mit ihm (weiterhin) nicht mit einem Angriff rechnete, mit der rechten Faust ins Gesicht. Sie schrie weiter und er schlug mehrfach auf sie ein. Während der Auseinandersetzung zog der beträchtlich affektiv aufgeladene, in seiner Steuerungsfähigkeit aber nicht beeinträchtigte A. – „in dem sich nunmehr realisierenden Entschluss, sie zu töten“ – das Küchenmesser aus der Jackentasche und begann auf seine Frau einzustechen. Sein Opfer versuchte, die Stiche mit den Händen abzuwehren und trug bereits zu diesem Zeitpunkt durch das Messer mindestens eine blutende Verletzung davon. Im weiteren Verlauf gelang es der Geschädigten, die Fahrertür zu öffnen und aus dem Auto zu entkommen. Der A. folgte ihr unmittelbar durch die Fahrertür und brachte seine Frau, die bis dahin im Wesentlichen Blutergüsse am Kopf und einen Nasenbeinbruch erlitten hatte, neben dem Fahrzeug zu Boden. Sodann fügte er seinem Opfer – weiterhin um es zu töten – eine tiefe, bis an die Wirbelsäule heranreichende Schnittverletzung am Hals zu, die dazu führte, dass sie innerhalb kurzer Zeit an Ort und Stelle verblutete.
Gefühlsregungen wie Eifersucht, Wut, Ärger, Hass und Rache kommen in der Regel nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie ihrerseits auf niedrigen Beweggründen beruhen, was am ehesten der Fall ist, wenn diese Gefühlsregungen jeglichen nachvollziehbaren Grund entbehren. Beim Vorliegen eines Motivbündels beruht die vorsätzliche Tötung auf niedrigen Beweggründen, wenn das Hauptmotiv, welches der Tat ihr Gepräge gibt, nach allgemeiner sittlicher Wertung in deutlich weiter reichendem Maße als bei einem Totschlag auf tiefster Stufe steht und deshalb verwerflich ist. Daran gemessen ist es nicht zu beanstanden, dass das LG keine Tötung aus niedrigen Beweggründen angenommen hat.
Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Diese können auch gegeben sein, wenn der Täter zunächst nur mit Körperverletzungsvorsatz handelt, und dann unter bewusster Ausnutzung des Überraschungseffekts unmittelbar zur Tötung übergeht, und es dem Opfer infolge des überraschenden Angriffs nicht möglich ist, sich Erfolg versprechend zur Wehr zu setzen, so dass die hierdurch geschaffene Situation bis zur Tötungshandlung fortdauert. Erstreckt sich die Tat von den mit Verletzungsvorsatz getragenen Angriffen auf das Opfer mittels Faustschlägen bis zu den mit Tötungsvorsatz geführten Angriffen mittels eines Messers über einen längeren Zeitraum hin, so kann es gegen Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers sprechen, wenn dieses sich nach dem ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriff gegenüber weiteren Angriffen zur Wehr setzen und zunächst kurzfristig fliehen konnte. Das LG hat sich mit der heimtückischen Tötung rechtsfehlerfrei befasst und nicht auf Heimtücke erkannt. (BGH, Urt. v. 01.03.2012 – 3 StR 425/11)

§§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB – Gefährliche Körperverletzung: Ausnutzung eines Überraschungsmoments bei Angriff von hinten als hinterlistiger Überfall. Der Angeklagte (A.) wollte aus einem Haus Geld oder sonstige stehlenswerte Gegenstände entwenden, um damit den Erwerb von Drogen zu finanzieren. Als er den Eigentümer des Hauses auf dem Grundstück bemerkte, versteckte sich der A. hinter einem Gebüsch. Dieser näherte sich diesem Gebüsch. Daher fürchtete der A. seine Entdeckung, griff ihn von hinten an und schlug auf diesen ein, um aus dem Haus etwas zu stehlen, noch verwirklichen zu können.
Ein hinterlistiger Überfall i. S. v. § 224 Abs. 1 Nr. 3 StGB setzt voraus, dass der Täter seine Verletzungsabsicht planmäßig verbirgt. Hat der A. den Eigentümer eines Hauses von seinem Versteck aus von hinten angegriffen, um seine Absicht noch verwirklichen zu können, so ist eine solche Planmäßigkeit nicht belegt. Allein der Umstand, dass der A. den Angriff von hinten ausführte und dabei ein Überraschungsmoment ausnutzte, begründet keine Hinterlist. (BGH, Beschl. v. 02.05.2012 – 3 StR 146/12)

II. Prozessuales Strafrecht

§ 81h StPO – Kein Verwertungsverbot für rechtswidrig erlangte Daten aus Massengentest. Der Angeklagte (A.) hat im Juli 2010 früh morgens als damals 16-Jähriger eine Fußgängerin zu Boden gerissen, massiv mit Fäusten geschlagen und anschließend vergewaltigt. Das LG hat die Verurteilung im Wesentlichen darauf gestützt, dass mehrere DNA-Spuren des A. an Kleidungsstücken des Opfers festgestellt werden konnten. Im Rahmen eines Reihengentests (§ 81h StPO) von 2.400 erwachsenen Männern aus der näheren Region wurde bei zwei Proben eine starke, aber keine volle Ähnlichkeit mit dem Tätermaterial festgestellt. Bei diesen beiden Personen handelte es sich um Verwandte des A. Aufgrund dieses „Beinahetreffers“ hat die Polizei einen Gerichtsbeschluss für eine DNA-Probe des A. erwirkt, der als Minderjähriger nicht in das Raster des Massengentests fiel. Diese Untersuchung der DNA des A. erbrachte eine Übereinstimmungswahrscheinlichkeit von 1 zu 1,3 Trillionen. Außerdem hat das LG aufgrund von Zeugenaussagen festgestellt, dass sich der A. vor und nach der Tat in einer Diskothek in der Nähe des Tatorts befand.
Der A. hat mit einer Verfahrensrüge insbesondere geltend gemacht, die bei der molekulargenetischen Reihenuntersuchung festgestellten DNA-Identifizierungsmuster hätten nicht auf verwandtschaftliche Ähnlichkeiten abgeglichen und im weiteren Verfahren nicht gegen ihn verwertet werden dürfen.
Der BGH hat zunächst die von der Revision behaupteten Verfahrensfehler bei der Durchführung der DNA-Reihenuntersuchung verneint. Jedoch hätte die bei der Auswertung der Proben festgestellte mögliche verwandtschaftliche Beziehung zwischen dem Vater und dem Onkel des A. mit dem mutmaßlichen Täter nicht als verdachtsbegründend gegen den A. verwendet werden dürfen. Denn § 81h Abs. 1 StPO erlaube den Abgleich von DNA-Identifizierungsmustern nur, soweit dies zur Feststellung erforderlich sei, ob das Spurenmaterial von einem der Teilnehmer der Reihenuntersuchung stamme.
Gleichwohl hat der BGH entschieden, dass die Übereinstimmung des DNA-Identifizierungsmusters des A. mit demjenigen der Tatspur vom LG bei seiner Überzeugungsbildung verwertet werden durfte. Zwar sei dieses Identifizierungsmuster rechtswidrig erlangt worden; denn der ermittlungsrichterliche Beschluss, der die Entnahme von Körperzellen des A. zur Feststellung dieses Musters anordnete (§ 81a StPO), beruhte auf dem durch die unzulässige Verwendung der Daten aus der DNA-Reihenuntersuchung hergeleiteten Tatverdacht gegen den A. Indes führe dies in dem konkret zu entscheidenden Fall bei der gebotenen Gesamtabwägung nicht zu einem Verwertungsverbot. Entscheidend hierfür sei der Umstand, dass die Rechtslage zum Umgang mit sog. Beinahetreffern bei DNA-Reihenuntersuchungen bisher völlig ungeklärt war und das Vorgehen der Ermittlungsbehörden daher noch nicht als willkürliche Missachtung des Gesetzes angesehen werden könne. Der Verfahrensverstoß wiege daher nicht so schwer, dass demgegenüber die Interessen der Allgemeinheit an einer effektiven Strafverfolgung hier zurücktreten müssten. (BGH, Urt. v. 20.12.2012 – 3 StR 117/12)III. Sonstiges

Polizeiliche Generalklausel wohl keine geeignete Rechtsgrundlage für längerfristige polizeilichen Observierung eines aus der Sicherungsverwahrung Entlassenen. Mit Beschluss vom 10.09.2010 erklärte das OLG im Anschluss an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die Sicherungsverwahrung für erledigt, ordnete für die Dauer von fünf Jahren Führungsaufsicht an und unterstellte den Beschwerdeführer (B.) der Bewährungshilfe. Gleichzeitig mit der Entlassung des B. aus der Sicherungsverwahrung ordnete die PD Freiburg die längerfristige Observation des B. zunächst für die Dauer von vier Wochen an und verlängerte diese Anordnung seither 14 mal, zuletzt bis zum 05.10.2012. Die Polizei führt die Observation offen durch. Der B. bewohnt ein Zimmer in einer in einem Hinterhaus gelegenen Unterkunft. Im Hof vor diesem Hinterhaus parkt ständig ein Polizeifahrzeug mit drei Polizeibeamten. Zwei weitere halten sich in der Küche der Unterkunft auf, wenn sich der B. in seinem Zimmer befindet. Eine direkte Beobachtung des B. in seinem eigentlichen Wohnraum findet nicht statt. Außerhalb seiner Wohnung begleiten den B. ständig Polizisten. Bei Gesprächen des B. mit Ärzten, Rechtsanwälten und Bediensteten von Behörden sind die Beamten angewiesen, Abstand zu halten. Nimmt der B. ansonsten Kontakt zu Frauen auf, weisen die Polizisten sie mit einer sogenannten Gefährdetenansprache auf den Grund der Observation des B. hin.
Eine dauernde polizeiliche Observation stellt für den Betroffenen einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff dar. Die vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützte Privatsphäre ist nicht auf den häuslichen Bereich beschränkt. Ob für die Durchführung dauerhafter Observationen derzeit in Baden-Württemberg eine tragfähige Rechtsgrundlage besteht, ist zweifelhaft. Die §§ 22 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 PolG BW (Besondere Mittel der Datenerhebung) lassen wohl nur eine – bei einer längerfristigen Observation nicht im Mittelpunkt stehende – Datenerhebung zu. Erst recht ist fraglich, ob die polizeiliche Generalklausel der §§ 1, 3 PolG BW geeignet ist, eine solche Maßnahme zu tragen. Vielmehr bedarf eine längerfristige Observation aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer ausdrücklichen Ermächtigungsgrundlage. In dem hier zu entscheidenden Fall durften die Gerichte für das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes und angesichts des Gewichts der in Frage stehenden Rechtsgüter die polizeiliche Generalklausel als noch ausreichende Rechtsgrundlage für die dauerhafte Observation des B. ansehen. Der Sache nach verstehen die Gerichte damit die polizeiliche Generalklausel dahingehend, dass sie es den Behörden ermöglicht, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vorläufig zu reagieren, und ermöglichen so dem Gesetzgeber, eventuelle Regelungslücken zu schließen. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Es liegt dann in der Verantwortung des Gesetzgebers hierauf zu reagieren oder in Kauf zu nehmen, dass solche Maßnahmen von den Gerichten auf Dauer als von der geltenden Rechtslage nicht als gedeckt angesehen werden. (BVerfG, Kammerbeschluss v. 08.11.2012 – 1 BvR 22/12)