Rechtssprechung

Strafrechtliche Rechtsprechungsübersicht


I. Materielles Strafrecht


§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB – Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern. „Zungenkuss“ ist in der Regel keine dem Beischlaf ähnliche Handlung. Der „Zungenkuss“ kann zwar als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne von §§ 176 Abs. 1, 184g Nr. 1 StGB, die auch mit einem Eindringen in den Körper verbunden ist, jedoch nicht als eine zugleich „dem Beischlaf ähnliche“ Handlung angesehen werden; dagegen spricht schon das äußere Erscheinungsbild der Handlung. Geschütztes Rechtsgut ist in den Fällen des § 176a StGB die ungestörte sexuelle Entwicklung des Kindes. Der „Zungenkuss“ wirkt hierauf regelmäßig nicht so intensiv ein wie ein Vaginal-, Oral- oder Analverkehr. Schließlich ergibt sich auch aus den Gesetzesmaterialien nicht, dass der Gesetzgeber den Fall des „Zungenkusses“ der Norm unterwerfen wollte. (BGH, Beschl. v. 14.04.2011 – 2 StR 65/11)

Dirk Weingarten
Polizeihauptkommissar & Ass. jur.
Polizeiakademie Hessen


§§ 212, 32, 16 Abs. 1 S. 1 StGB – Putativnotwehr: Irrtümliche Deutung eines verdeckten Polizeieinsatzes als lebensbedrohenden Angriff; §§ 253, 255 StGB – Standposition einer Prostituierten als Vermögenswert. Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, dann ist sie grundsätzlich dazu berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; der Angegriffene muss sich nicht mit der Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist. Das gilt auch für die Verwendung einer Schusswaffe. Nur wenn mehrere wirksame Mittel zur Verfügung stehen, hat der Verteidigende dasjenige Mittel zu wählen, das für den Angreifer am wenigsten gefährlich ist. Hier versuchte sich die Polizei gewaltsam durch Aufbrechen der Haustür Zutritt zum Hause eines Mitglieds der „Hells Angels“ zu verschaffen. Dieser gab in der irrtümlichen Annahme, es handele sich um einen Anschlag auf sein Leben durch Mitglieder der konkurrierenden Rockergruppe „Bandidos“, zwei Schüsse durch die Tür ab, durch die ein Polizeibeamter tödlich getroffen wurde. Der Schütze befand sich in einem Irrtum über die tatsächlichen Voraussetzungen des Rechtfertigungsgrundes der Notwehr (Erlaubnistatbestandsirrtum), was zum Ausschluss der Vorsatzschuld führte. Ein Warnschuss ist im Übrigen auch nicht erforderlich, wenn dieser nur zu einer weiteren Eskalation führen würde; ein Schuss also geeignet wäre, den Angriff endgültig abzuwehren.
Geschütztes Rechtsgut der §§ 253, 255 StGB ist das Vermögen. Der Verlust einer bloßen ungesicherten Aussicht eines Geschäftsabschlusses (Standposition einer Prostituierten) kann grundsätzlich noch nicht als Vermögensschaden angesehen werden. Erwerbs- und Gewinnaussichten können nur ausnahmsweise Vermögensbestandteil sein, wenn sie so verdichtet sind, dass ihnen der Rechtsverkehr bereits einen wirtschaftlichen Wert beimisst, weil sie mit einiger Wahrscheinlichkeit einen Vermögenszuwachs erwarten lassen. (BGH, Urt. v. 02.11.2011 – 2 StR 375/11)

§§ 242, 246, 263, 22 StGB – „Schwarztanken“ an der SB-Tankstelle. War das Bestreben des Täters von Anfang an darauf gerichtet, das Benzin an sich zu bringen, ohne den Kaufpreis zu entrichten, so macht er sich grundsätzlich nicht des Diebstahls oder der Unterschlagung, sondern des (versuchten) Betruges schuldig. Denn indem er als Kunde auftritt und sich wie ein solcher verhält, bringt er in der Regel durch schlüssiges Verhalten zum Ausdruck, dass er das Benzin nach dessen Erhalt bezahlen werde. Durch diese Vortäuschung einer nicht vorhandenen Zahlungsbereitschaft erweckt er bei dem Verkäufer einen entsprechenden Irrtum mit der Folge, dass ihm – sofern es sich um eine Bedienungstankstelle handelt – das Benzin in den Tank eingefüllt oder – falls es eine Selbstbedienungstankstelle ist – das Einfüllen gestattet wird. Aus dem äußeren Erscheinungsbild der Tathandlungen folgt bei natürlicher Betrachtungsweise, dass es sich hier um ein durch Täuschung bewirktes Geben und nicht um ein Nehmen im Sinne eines Gewahrsamsbruchs handelt. Ob mit dem Einfüllen bereits das Eigentum an dem Benzin erlangt wird, kann dabei dahingestellt bleiben. Jedenfalls bringt der Täter durch die Täuschungshandlung das Benzin in seinen Besitz und erlangt damit einen Vermögensvorteil i. S. des § 263 StGB, dem auf Seiten der geschädigten Tankstelle ein entsprechender Vermögensnachteil gegenüber steht. Ein vollendeter Betrug liegt jedoch nicht vor, wenn der Täter an einer Selbstbedienungstankstelle tankt, ohne vom Tankstelleninhaber oder dessen Mitarbeiter bemerkt zu werden; so dass dann regelmäßig vom Tatbestand des versuchten Betruges auszugehen ist. (BGH, Beschl. v. 10.01.2012 – 4 StR 632/11)

§ 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB – Schwerer Raub: Verwendung einer Waffe oder eines gefährlichen Werkzeugs beim Raub. Eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug wird nur dann im Sinne von § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB „bei der Tat verwendet“, wenn der Täter den Gegenstand als Raubmittel zweckgerichtet einsetzt und wenn das Opfer die Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben mittels des Gegenstandes wahrnimmt und somit in die entsprechende qualifizierte Zwangslage versetzt wird. Bemerkt das Opfer das Tatwerkzeug nicht (Hier: Zeugin bemerkte das Teppichmesser nicht), wird es bei der Tat ihr gegenüber nicht als Drohmittel verwendet. (BGH, Beschl. v. 08.11.2011 – 3 StR 316/11)

§ 250 Abs. 2 Nr. 3a StGB – Schwerer Raub: Qualifikation durch schwere Misshandlungen nach Vollendung der Raubtat; Erfordernis der Beutesicherungabsicht. Der Strafschärfungsgrund der gegenüber § 250 Abs. 1 Nr. 1a StGB erhöhten Qualifizierung des Abs. 2 Nr. 1 liegt darin, dass es tatsächlich zum Einsatz eines mitgeführten Werkzeugs als Nötigungsmittel kommt. Dabei ist zu fordern, dass das gefährliche Tatmittel zur Verwirklichung der raubspezifischen Nötigung, also zur Ermöglichung der Wegnahme, verwendet oder -  nach Vollendung des Raubes – als Mittel zur Sicherung des Besitzes an dem gestohlenen Gut eingesetzt wird. Dies gilt auch für schwere Misshandlungen nach Vollendung einer Raubtat. Sie erfüllen den Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 2 Nr. 3a StGB nur dann, wenn sie weiterhin von Zueignungs- oder Bereicherungsabsicht getragen sind. Hier waren ein Schlag mit der Pistole und ein Fußtritt erst erfolgten, nachdem der Angeklagte erfahren hatte, dass die genannte PIN falsch war und der Bankautomat die Karte eingezogen hatte, der Versuch mithin fehlgeschlagen und abgeschlossen war. Da die zuvor zur Erpressung der EC-Karte und der PIN eingesetzten Mittel die Qualifikation des § 250 Abs. 2 StGB nicht erfüllen, ist der Angeklagte der versuchten schweren räuberischen Erpressung nach § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB in Tateinheit mit versuchtem Computerbetrug und – tatmehrheitlich hierzu – der gefährlichen Körperverletzung nach § 224 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 5 StGB schuldig. (BGH, Beschl. v. 28.09.2011 – 4 StR 403/11)

II. Prozessuales Strafrecht

§§ 96, 244 Abs. 2 StPO – Beweiserhebung im Strafverfahren: Vernehmung einer polizeilichen Vertrauensperson. Eine gebotene Beweiserhebung darf nicht deshalb abgelehnt werden, weil Staatsanwaltschaft oder Polizei die Identität eines Informanten geheim halten wollen. Eine Zusicherung der Vertraulichkeit bindet zwar – mit Einschränkungen – die Staatsanwaltschaft und die Polizei. Für das gerichtliche Verfahren hat sie aber keine Bedeutung. Die Gerichte sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Darum dürfen sie eine gebotene Beweiserhebung nicht deshalb ablehnen, weil Staatsanwaltschaft oder Polizei die Identität eines Informanten geheim halten wollen. Lassen sich der Name und die Anschrift des Informanten nicht anders feststellen, so kann und muss das Gericht von allen öffentlichen Behörden – auch von der Staatsanwaltschaft und der Polizei – diejenigen Auskünfte verlangen, die es zur Ermittlung der Beweisperson für erforderlich hält. Die Auskunft darf in entsprechender Anwendung des § 96 StPO nur verweigert werden, wenn die oberste Dienstbehörde erklärt, dass das Bekanntwerden ihres Inhalts dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde. Solange eine solche sog. Sperrerklärung nicht vorliegt, darf der Gewährsmann insbesondere nicht als ein unerreichbares Beweismittel i.S.d. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO angesehen werden. (BGH, Beschl. v. 26.07.2011 – 1 StR 297/11)

Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG; § 100f StPO – Verwertbarkeit eines in einem Kraftfahrzeug mittels akustischer Überwachung aufgezeichneten Selbstgesprächs. Der absolut geschützte Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung wird aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitet. Sein Schutzbereich wird durch heimliche Aufzeichnung des nichtöffentlich geführten Selbstgesprächs der Zielperson staatlicher Ermittlungsmaßnahmen und deren Verwertung in der Hauptverhandlung berührt. Ob das nichtöffentlich gesprochene Wort zum absolut geschützten Kernbereich oder zu dem nur relativ geschützten Bereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gehört, ist durch Gesamtbewertung aller Umstände im Einzelfall festzustellen; in vorliegendem Fall (Im privaten Auto des Angeklagten fand eine elektronische Überwachung, §§ 100f, 100b Abs. 1, 100d Abs. 2 StPO statt; Selbstgespräche des allein im Auto sitzenden Angeklagten wurden an mehreren Tagen aufgezeichnet) war es dem Kernbereich zuzurechnen. Der Grund für den absoluten Schutz eines Kernbereichs der Persönlichkeitsentfaltung besteht in der Eröffnung einer Möglichkeit für Menschen, sich in einem letzten Rückzugsraum mit dem eigenen Ich befassen zu können, ohne Angst davor haben zu müssen, dass staatliche Stellen dies überwachen. Die Gedanken sind grundsätzlich frei, weil Denken für Menschen eine Existenzbedingung darstellt. Im Ergebnis unterliegt das nichtöffentlich geführte Selbstgespräch somit einem selbständigen Beweisverwertungsverbot von Verfassungs wegen. (BGH, Urt. v. 22.12.2011 – 2 StR 509/10)§§ 102, 105 StPO – Beweisverwertungsverbot bei grober Missachtung des Richtervorbehalts infolge Verkennung einer „Gefahr im Verzug“ bei der Anordnung der Wohnungsdurchsuchung. Bei der Durchsuchung einer Wohnung darf Gefahr im Verzug angenommen werden, falls die vorherige Einholung der richterlichen Anordnung den Erfolg der Durchsuchung gefährdet. Es steht aber nicht im Belieben der Strafverfolgungsbehörden, wann sie eine Antragstellung in Erwägung ziehen. Sie dürfen nicht so lange mit dem Antrag an den Ermittlungsrichter warten, bis die Gefahr eines Beweismittelverlusts tatsächlich eingetreten ist, und damit die von Verfassungs wegen vorgesehene Regelzuständigkeit des Richters unterlaufen. Für die Frage, ob die Ermittlungsbehörden eine richterliche Entscheidung rechtzeitig erreichen können, kommt es auf den Zeitpunkt an, zu dem die Staatsanwaltschaft oder ihre Hilfsbeamten die Durchsuchung für erforderlich halten. Die Annahme eines Beweisverwertungsverbots ist von Verfassungs wegen zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten. Dem Aspekt eines möglichen hypothetisch rechtmäßigen Ermittlungsverlaufs kann bei solcher Verkennung des Richtervorbehalts keine Bedeutung zukommen. Bei Duldung grober Missachtungen des Richtervorbehalts entstünde gar ein Ansporn, die Ermittlungen ohne Einschaltung des Ermittlungsrichters einfacher und möglicherweise erfolgversprechender zu gestalten. Damit würde das wesentliche Erfordernis eines rechtstaatlichen Ermittlungsverfahrens aufgegeben, dass Beweise nicht unter bewusstem Rechtsbruch oder gleichgewichtiger Rechtsmissachtung erlangt werden dürfen. (BGH, Beschl. v. 30.08.2011 – 3 StR 210/11)