Sexualdelikte

Denn sie wissen nicht,was sie tun – oder doch?

Sexueller Missbrauch von Kindern – Über die Anzeige- und Schweigepflicht und darüber, wie Täter geschützt und Opfer im Stich gelassen werden

Das große Schweigen

Kinder,
so behaupten wir nur all zu gerne,
sind unsere Allerliebsten. Sie sind unser kostbarstes Gut, das Wertvollste, was wir haben. Kinder sind Zukunft, auch unsere Zukunft. Und Kinder brauchen unseren Schutz…

Aber werden Kinder in unserer Gesellschaft ausreichend geschützt, auch und vor allem vor sexueller Ausbeutung? Experten gehen beim sexuellen Missbrauch von Kindern im Inland noch immer von einem sehr hohen Dunkelfeld aus, das zwischen 1:10 und 1:30 liegen dürfte.
Von 10 oder gar 30 sexuell motivierten Vergehen und Verbrechen an Kindern wird den Strafverfolgungsbehörden also möglicherweise nur eines bekannt. Und auch die wenigen Taten im Hellfeld haben längst nicht immer ein angemessenes Urteil und eine erfolgversprechende Therapie für den Täter zur Folge.

Manfred Paulus
Erster Kriminalhaupt-
kommissar a.D.Ulm/Donau

Bei den Delikten, die von Deutschen im Ausland begangen werden, könnte das Dunkelfeld bei 1:1000 oder noch höher liegen. Ein Kriminalitätsbereich also, der faktisch nicht oder nur in wenigen Einzelfällen bekämpft wird, obwohl die deutschen Ermittlungs- und Strafverfolgungsbehörden spätestens seit der Aufnahme des Exterritorialprinzips in § 5 des Strafgesetzbuches (StGB) im Jahr 1993 dafür zuständig sind.
Das anhaltende, entgegen anders lautender Botschaften vor allem durch das Tatmittel Internet und durch die touristische Entwicklung aber auch durch andere Einflüsse eher zunehmende als abnehmende Kriminalitätsgeschehen und die unzureichenden Präventions- und Strafverfolgungsmaßnahmen führen zu der unangenehmen aber nur schwer widerlegbaren Erkenntnis, dass wir unsere Kinder und die Kinder Anderer entgegen unserer Beteuerungen und Schwüre nicht in ausreichendem Maße schützen, sondern nur all zu oft erbarmungslos im Stich lassen.
Damit werden wir weder unseren international eingegangenen Verpflichtungen (z. B. der UN-Kinderrechtskonvention und dem 2009 von Deutschland unterzeichneten Zusatzprotokoll zur UN-Kinderrechtskonvention zu Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornografie) noch eigenen Ansprüchen gerecht.
Wie ist das möglich in diesem Land? Warum klaffen die hehren Absichten und Ansprüche und die Wirklichkeit so weit auseinander? Warum sind wir nicht in der Lage, Kinder wirksamer vor sexueller Ausbeutung zu schützen und die Täter einem Strafverfahren und angemessenen Urteil sowie einer Therapie zuzuführen?
Neben einigen anderen Gründen scheint eine verbreitete Kultur des Wegschauens und Schweigens, welche sich in allen gesellschaftlichen Bereichen eingenistet hat, dafür verantwortlich zu sein.
Wir kennen dieses Phänomen auch in anderen Kriminalitätsbereichen. Kaum irgendwo ist es jedoch so ausgeprägt wie bei sexuell motivierter Kriminalität, begangen an den Wehrlosesten und Kleinsten.

Beispiele aus der kriminalpolizeilichen Praxis

  • Anna (8) kam weinend nach Hause und erzählte ihrer Mutter, der Religionslehrer habe ihr das Höschen ausgezogen und dann…
    Die Mutter verabreichte ihr eine Ohrfeige. „Sag so etwas nie wieder, wie stehen wir da im Dorf, wenn du so einen Unsinn erzählst!“
    Der gute Ruf der Familie war in Gefahr!
  • Eine Erzieherin erstattete Anzeige, weil sie begründet vermutete, dass ein ihr anvertrautes Kind fortgesetzt sexuell missbraucht wird. Sie sollte daraufhin entlassen werden, weil sie „mit der Anzeigeerstattung der Erziehungseinrichtung Schaden zugefügt“ hatte.
    Der gute Ruf des Kindergartens schien in Gefahr!

Die Kultur des Wegschauens und Schweigens zeigt sich jedoch auch auf andere Weise, so in den Leitlinien und Verfahrensweisen von Kirchen und Staat im Umgang mit Hinweisen auf den sexuellen Missbrauch von Kindern.

Beispiele für kirchliche und staatliche Verfahrensweisen

  • Die Katholische Kirche hat in ihren Leitlinien zum Vorgehen beim sexuellen Missbrauch von Kindern im Jahre 2002 festgelegt, dass ein Beauftragter der Kirche mit dem Tatverdächtigen Gespräche führt und mit dem (mutmaßlichen) Opfer oder den Erziehungsberechtigten Kontakt aufnimmt, um dann zu entscheiden, wie zu helfen ist und wie weiter vorgegangen werden soll.
    Damit wurde eine außerstaatliche Ermittlungsinstanz geschaffen, die eine interne Handhabung entsprechender Vorkommnisse vorgab und dadurch zu einem verbreiteten Verschweigen und Vertuschen entsprechender Vorkommnisse beitrug. In den überarbeiteten und verschärften Leitlinien von 2010 wurde festgelegt, dass der Beauftragte das mutmaßliche Opfer bzw. seine Erziehungsberechtigten darauf hinzuweisen hat, dass ein Verdacht möglicherweise den Strafverfolgungsbehörden mitgeteilt wird (was durchaus als Drohung verstanden werden könnte). Diese Mitteilung erfolgt den überarbeiteten Leitlinien zufolge dann nicht, wenn es dem (möglicherweise nicht allzu schwer herstellbaren) Wunsch des mutmaßlichen Opfers bzw. dessen Erziehungsberechtigten entspricht.
    Formulierungen dieser Art werden es weiterhin ermöglichen, dass Hinweise auf den sexuellen Missbrauch von Kindern nicht angezeigt sondern vertuscht und verschwiegen werden.
    Könnte doch sonst der gute Ruf der Kirche erneut in Gefahr geraten oder mehr als ohnehin schon der Fall, beschädigt werden!
  • Dr. Jörg X wurde auf den Philippinen zu 10 Jahren Haft wegen massiver, sexueller Übergriffe an Kindern verurteilt. Dank diplomatischer Bemühungen konnte er das einem deutschen Mediziner nur schwer zumutbare Loch einer Gefängniszelle und die Philippinen schon nach wenigen Tagen als freier Mann verlassen.
    Ungewöhnlich nur: Er betrieb in Deutschland seine Arztpraxis ganz so weiter, als wäre nichts gewesen.
    Allein den Recherchen und bohrenden Fragen einer Journalistin war es zu verdanken, dass er nach Jahren doch noch vor Gericht gestellt und für seine auf den Philippinen begangenen (Schand-)Taten zur Rechenschaft gezogen wurde. Das war ursprünglich offensichtlich nicht vorgesehen.
    Hätte doch der gute Ruf der Bundesrepublik Deutschland Schaden nehmen können!

Die Beispiele zeigen: Weggeschaut, verheimlicht, geleugnet, verdrängt, vertuscht und verschwiegen wird auf allen Ebenen.
Die Motive dafür sind zumeist leicht erkennbar und überall ähnlich oder gleich: Man geht nicht gern mit dieser Kriminalität um, sie berührt unangenehm, sie gefährdet den guten Ruf der Familie, der Einrichtung, der Institution, der Republik...
Die Kriminalität passt ganz und gar nicht zu einer zivilisierten, heilen Welt, zu rechtsstaatlichen Vorstellungen und Ansprüchen, zu einer ordentlichen Familie, zu einer vorbildlichen Republik!
Privatpersonen (und damit auch Betroffene) waren und sind in Deutschland gesetzlich nicht verpflichtet, den Verdacht des sexuellen Missbrauchs von Kindern anzuzeigen.
Die Kirchen haben als Körperschaften des öffentlichen Rechts keinerlei Befugnisse oder Pflichten, die über die von privaten Vereinigungen oder Privatpersonen hinausgehen. Auch sie haben somit keine Anzeigepflicht.
Lehrerinnen und Lehrer sind ebenso wie Erzieherinnen und Erzieher häufig aufgrund dienst- und arbeitsrechtlicher Vorschriften verpflichtet, gegen die drohende Gefährdung eines ihnen anvertrauten Kindes vorzugehen.
Daraus kann sich die Möglichkeit, die Strafverfolgungsbehörden einzuschalten, ergeben. Eine Anzeigepflicht aber ergibt sich auch daraus nicht.
Ärzte, Psychologen, Kinderschützer, Sozialarbeiter, Sozialpädagogen und andere Berufsgruppen und Institutionen unterliegen der Strafvorschrift des § 203 Strafgesetzbuch (StGB) – der Verletzung von Privatgeheimnissen (auch und vor allem als „ärztliche Schweigepflicht“ bekannt):

Wer unbefugt ein fremdes Geheimnis offenbart, das ihm als Arzt, Psychologe, Ehe-, Familien- Erziehungs- oder Jugendberater, Sozialarbeit oder Sozialpädagoge... anvertraut wurde, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.

Diese Datenschutzbestimmung hat ohne Zweifel ihre Berechtigung und ihren Sinn.
Dieser kann und darf jedoch nicht darin bestehen, dass die im Gesetzestext genannten Berufsgruppen (sie werden immer wieder Zeuge eines Verdachts oder Delikts) Täter, die sexuell motivierte Vergehen und Verbrechen an Kindern begehen, vor Strafverfolgung schützen.
Gerade dazu aber wird die Vorschrift anhaltend und in hohem Maße missbraucht.

Beispiele:
Der deutsche Kinderschutzbund verfährt seit vielen Jahren nach dem fragwürdigen Motto: Helfen statt bestrafen!
Gemeint sind damit die Täter. Ihnen, soweit wie möglich, zu helfen, erscheint sinnvoll und notwendig.
Statt bestrafen aber bedeutet nicht bestrafen (keine Anzeige erstatten) und das scheint in vielen Fällen weniger Kinderschutz als praktizierter und wirksamer Täterschutz zu sein und entspricht ganz den Forderungen der Pädosexuellen und Pädokriminellen und ihrer (Tarn-)Organisationen.
Haus-, Not- und Kinderärzte werden immer wieder Zeuge des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Dass sie sich – mit dem Delikt allein gelassen- nicht wohl fühlen, beweist eine Initiative des Verbandes der deutschen Kinder- und Jugendärzte, in welcher ein Austausch mit anderen Fachstellen gefordert wird.
Im Übrigen trägt eine verbreitete Rechtsunsicherheit dazu bei, dass neben der ärztlichen Versorgung der Opfer zumeist kein weiterer Schritt (Einleitung eines Ermittlungs- und Strafverfahrens gegen den Tatverdächtigen) erfolgt.
Auch die Sozialgesetzgebung verordnet Schweigen.
Sachbearbeiter(innen) der Jugendbehörden sind ihr und dem Wohle ihnen anvertrauter Kinder verpflichtet. Sie können Polizei oder Staatsanwaltschaft nur unter bestimmten Voraussetzungen über den Verdacht oder das Delikt des sexuellen Missbrauch eines Kindes informieren.
Dazu verpflichtet sind sie nicht. Im Gegenteil: Unter Umständen könnten sie sich der unerlaubten Weitergabe von Sozialdaten schuldig machen, würden sie die Ermittlungsbehörden informieren.
Ob das immer im Sinne und zum Wohle betroffener Kinder ist, erscheint durchaus fraglich.
Die Berechtigung oder vermeintliche Pflicht zum Schweigen soll dem Opfer und dem Opferschutz dienen.
Die Bestimmungen des § 203 StGB (Verletzung von Privatgeheimnissen) und die der Sozialgesetzgebung werden so, wie zahlreiche Initiativen von (so genannten) Kinderschützern für die Beibehaltung der „Schweigepflichten“ auch, mit Erfordernissen im Bereich des Opferschutzes begründet:

  • Kindliche Opfer bzw. ihre Erziehungsberechtigten bräuchten eine Anlaufstelle zur vertraulichen Besprechung und Aufarbeitung solcher Geschehnisse, ohne dass damit zwangsläufig eine Strafverfolgung verbunden ist.
  • Kindliche Opfer bzw. ihre Erziehungsberechtigten sollten selbst darüber entscheiden können, ob ein Strafverfahren gegen den Tatverdächtigen eingeleitet werden soll oder nicht und ob sie damit verbundene „Torturen“ auf sich nehmen wollen.
  • Ermittlungen und Strafverfolgung seien grundsätzlich Kind- und opferfeindlich, könnten beim kindlichen Opfer Sekundärschäden bewirken und wären deshalb zu vermeiden.

Diese und ähnliche Begründungen für das Schweigen und den damit zwangsläufig verbundenen Täterschutz scheinen jedoch nur (noch) teilweise nachvollziehbar und berechtigt.
Dass Kinder und ihre Erziehungsberechtigten grundsätzlich eine Person oder Institution ihres Vertrauens aufsuchen und einen derartigen Sachverhalt vertraulich besprechen können sollten, ohne dass damit zwangsläufig ein Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den oder die Tatverdächtigen eingeleitet wird, ist auch aus kriminalpolizeilicher Sicht eine berechtigte Forderung und Notwendigkeit.
Es gibt jedoch Verdachtslagen und Erkenntnisse, bei denen der Strafverfolgung entgegen diesem Recht und ganz im Sinne gefährdeter oder missbrauchter Kinder Priorität eingeräumt werden muss. Das scheint vor allem dann der Fall,

  • wenn es sich um Hinweise auf schwere Straftaten im Verbrechensbereich handelt,
  • wenn der Tatverdächtige oder Täter als Gewalt-/Intensiv- oder Wiederholungstäter anzusehen ist,
  • wenn Wiederholungsgefahr droht oder nicht auszuschließen ist.

Es erscheint dringendst geboten, die in § 203 StGB genannten Berufsgruppen zu verpflichten, bei allen Hinweisen auf den sexuellen Missbrauch eines Kindes eine Güterabwägung vorzunehmen, so wie das in anderen Rechtsbereichen auch üblich ist.
Besteht der Verdacht eines Verbrechens, liegen Hinweise auf einen Gewalt-, Intensiv- oder Wiederholungstäter vor oder besteht Wiederholungsgefahr, so kann und darf es für sie keine „Schweigepflicht“ und auch kein „Schweigerecht“ mehr geben. Vielmehr ist dann eine bindende und uneingeschränkte Anzeigepflicht erforderlich – auch und vor allem aus Opferschutzgründen!
Kindliche Opfer und ihren Erziehungsberechtigten sollten Einfluss darauf nehmen können, ob ein Ermittlungs- und Strafverfahren gegen den oder die Täter eingeleitet werden soll oder nicht.
Ihnen diese Entscheidung immer und in jedem Fall zu überlassen, überfordert sie nicht nur in vielen Fällen (zum Beispiel dann, wenn ein Erziehungsberechtigter selbst Täter ist oder der Täter einem Erziehungsberechtigten sehr nahe steht), es führt auch zu Fehlentscheidungen, die geradezu fatale Folgen nach sich ziehen können. So die, dass es dadurch zu Folgetaten und weiteren schweren Straftaten kommen kann und kommt.
Sollte es die viel beschriebenen und immer wieder aufs Neue bemühten Torturen, die angeblich für das Opfer Kind mit einem Strafverfahren verbunden sind, tatsächlich noch geben (wenn, dann scheint das allenfalls noch örtlich und eher im Justiz- als im Polizeibereich möglich zu sein), dann sind diese unverzüglich durch Kind-gerechte und opferfreundliche Verfahrensweisen zu ersetzen.
Ein Grund dafür, den oder die Täter völlig unbedrängt und unverfolgt zu lassen und ihn für seine Tat(en) nicht zur Verantwortung zu ziehen, können und dürfen Kind- und opferfeindliche Bedingungen im Rahmen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens niemals (mehr) sein. Dies schon deshalb nicht, weil Täter, die Kindern sexualisierte Gewalt antun, in hohem Maße Wiederholungstäter sind.

Allein der Strafverfolgungszwang i. S. von § 163 der Strafprozessordnung widerspreche dem Opferschutz und habe für das Opfer Kind unzumutbare und schädigende Folgen, so wird weiter argumentiert.
Dass manche unumgänglichen Fragen und Ermittlungsvorgänge grundsätzlich wenig Kind- und opferfreundlich sind, liegt in der Natur der Sache.
Sie können jedoch immer so gestaltet werden, dass sie für das kindliche Opfer verständlich und zumutbar sind und keine Sekundärschäden bewirken.
Zudem kann der Strafverfolgungszwang von der Polizei außer Kraft gesetzt werden, indem die Staatsanwaltschaft ersucht wird, das Verfahren aus Opferschutzgründen (vo-
rübergehend) einzustellen. Damit kann, wenn erforderlich, dem Opferschutz die erforderliche Priorität eingeräumt werden und das Verfahren gegen den oder die Täter kann in aller Regel ohne jeglichen Nachteil zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden.
Auch der Strafverfolgungszwang rechtfertigt es also nicht, dass aus Opferschutzgründen auf ein Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Tatverdächtige und Täter verzichtet wird.
Das ist auch und vor allem deshalb bedeutsam, weil die Strafverfolgung und Verurteilung des Täters in vielen Fällen einen ausgesprochen opferfreundlichen und zur Aufarbeitung eines solchen Geschehens sehr wichtigen Beitrag leisten kann:
Täter, die Kinder sexuell motiviert angreifen und sexualisierte Gewalthandlungen an ihnen vornehmen, versuchen immer wieder, Schuldgefühle in ihre kleinen Opfer zu verpflanzen. Dies deshalb, weil sie wissen, dass Kinder, die sich schuldig oder auch nur mitschuldig an solchen Geschehensabläufen fühlen, schweigen. Diese implantierten und belastenden Schuldgefühle werden von den Kindern genommen, wenn die Schuldfrage geklärt und der Täter verurteilt werden kann.
Die Kultur des Wegschauens und Schweigens und die aus (vorgegebenen) Opferschutzgründen staatlich verordneten und vielfach missbrauchten „Schweigepflichten“ haben neben anhaltend hohen Dunkelfeldern und einem äußerst wirksamen Täterschutz weitere, geradezu groteske und fatale Folgen:
Sie bewirken, dass die mit solchen Hinweisen und Delikten befassten Behörden und Institutionen unabhängig voneinander agieren und dabei höchst unterschiedliche und oft gegensätzliche Wege (und Irrwege) gehen.
Ein in vielen Fällen wünschenswerter und notwendiger Erfahrungs- und Informationsaustausch wird verhindert und vermieden.
Sie bewirken, dass allein der Zufall, wo der Hinweis auf ein solches Geschehen eingeht darüber entscheidet, wie mit einem solchen Verdacht oder Delikt umgegangen wird (Jugendbehörden, Kinderschutzbund und Andere leiten häufig keine Ermittlungen und keine Strafverfolgungsmaßnahmen ein, Polizei und Staatsanwaltschaft verfahren gegensätzlich).
Sie ermöglichen es, dass Täter, die Kinder sexuell ausbeuten, in diesem Land vielfach völlig unbehelligt und unverfolgt bleiben obwohl dem Kindeswohl verpflichtete Personen, Institutionen oder Behörden von einem solchen Verdacht oder Delikt wissen.
Sie sind verantwortlich dafür, dass zahlreiche, sexuell motivierte Vergehen und Verbrechen an Kindern ungesühnt bleiben und dass die Täter unter Umständen weiterhin die Möglichkeit haben, sich an ihrem Opfer oder an anderen Kindern zu vergehen.

Letztlich führen sie zu der Perversion, dass Tatverdächtige unter Umständen selbst darauf einwirken und darüber entscheiden können, ob gegen sie ermittelt wird oder nicht (so z. B. dann, wenn der Erziehungsberechtigte zugleich Täter ist und auf den das Kind behandelnden Arzt entsprechend einwirkt).

Anzeigepflicht – notwendig, vielfach gefordert und
dennoch kurzerhand vom (Runden) Tisch gefegt


Bei derartigen Gegebenheiten und Folgen einer täterfreundlichen und vielfach missbrauchten Gesetzgebung verwundert nicht, dass vermehrt eine Anzeigepflicht (unter bestimmten Voraussetzungen und bei bestimmten Verdachtslagen) diskutiert und gefordert wird.
Im Entwurf einer Richtlinie der Europäischen Union vom März 2010 ist für die mit dem Delikt betrauten Institutionen und Behörden aller EU-Mitgliedstaaten eine Anzeigepflicht vorgesehen, liegen Hinweise auf den sexuellen Missbrauch eines Kindes vor.
Dieser Entwurf ist noch in der Diskussion.
Schon aber sind „Weichmacher“ am Werk, um das Europäische Parlament von seinem Vorhaben abzubringen, eine Anzeigepflicht zu verhindern und sie nach deutschem Vorbild in „selbstverpflichtende Leitlinien“ umzuwandeln.
Solche Leitlinien zur Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden wurden Ende des Jahres 2011 auch vom Runden Tisch der Bundesregierung „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ verabschiedet.
Eine Anzeigepflicht wurde schon bald nach der ersten Zusammenkunft von diesem, von den Ministerinnen für Bildung, für Familie und für Justiz aufgrund der Enthüllungen über den sexuellen Missbrauch von Kindern in katholischen Einrichtungen im Jahre 2010 eingerichteten, „Runden Tisch“ gefegt.
Begründet wurde diese Entscheidung mit den immer wieder genannten und hinlänglich bekannten Argumenten des Opferschutzes.
Dabei dürfte den Initiatorinnen und „Expert(inn)en“ an diesem „Runden Tisch“ der Bundesregierung kaum entgangen sein, dass sich solche Leitlinien gerade in jüngster Zeit immer wieder als untaugliche Instrumente erwiesen haben, um die anhaltend prekäre Situation im Bereich des sexuellen Missbrauch von Kindern im In- und Ausland entscheidend zu verändern.
Spätestens die Enthüllungen und der Skandal wegen des sexuellen Missbrauchs von Kindern in katholischen Einrichtungen Deutschlands im Jahre 2010 machten deutlich, dass die von den katholischen Bischöfen bei der Herbstkonferenz des Jahres 2002 verfassten Leitlinien mit ihren 16 Punkten völlig ungeeignet waren, um den sexuellen Missbrauch Minderjähriger hinter Kirchenmauern einzudämmen oder gar zu verhindern.
Vielmehr bildeten diese Leitlinien eine durchaus geeignete Grundlage für das verbreitete Verschweigen, Verdrängen und Vertuschen einschlägiger Vorkommnisse hinter Kirchenmauern. Der Not gehorchend wurden von den katholischen Bischöfen nach dem Bekanntwerden von zahlreichen Missbrauchshandlungen durch Kirchenangehörige in den verschiedensten katholischen Einrichtungen am 23. August 2010 neue, auf 55 Punkte erweiterte und verschärfte
Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz verabschiedet.
Trotz der Erweiterungen, Konkretisierungen und Verschärfungen lassen diese Leitlinien weiterhin zu, dass Hinweise auf den sexuellen Missbrauch von Kindern kirchenintern geregelt werden, so dass weiterhin ignoriert, verschwiegen und vertuscht werden kann.
Auch sie scheinen also wenig geeignet, diese Kriminalität zum Nachteil der Kirche anvertrauter Kinder einzudämmen oder zu beheben.
Der Tag wird kommen, so ist begründet zu vermuten und zu befürchten, an dem auch diese Leitlinien die Katholische Kirche wieder einholen werden.
Interessant erscheint, dass die vom „Runden Tisch“ der Bundesregierung Ende des Jahres 2011 verabschiedeten Leitlinien denen der Katholischen Bischöfen aus den Jahren 2002 und 2010 in Form und Inhalt sehr ähnlich sind.
Und das, obwohl sich die Leitlinien aus dem Jahr 2002 als völlig unbrauchbar erwiesen haben und die aus dem Jahr 2010 nicht viel mehr zum Guten hin bewirken dürften!
Doch nicht nur die Leitlinien der Katholischen Kirche sind als unwirksame Maßnahmen zur Bekämpfung und Eindämmung des sexuellen Missbrauchs von Kindern anzusehen.
Der Deutsche Reiseverband (DRV), um ein weiteres Beispiel zu nennen, welchem nahezu alle namhaften Reiseveranstalter angehören, unterzeichnete im Jahre 2001 einen Verhaltenskodex und verpflichtete sich dabei, sich im Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern durch Deutsche in den verschiedensten Regionen dieser Welt zu engagieren.
Zugesichert wurden unter anderem

  • eine entsprechende Unternehmensphilosophie,
  • ein Einwirken auf die Vertragspartner,
  • die Schulung und Sensibilisierung der Mitarbeiter(innen),
  • ein Einwirken auf Kunden und eine Sensibilisieren der Kunden

Nach über 10 Jahren sind die aller Ehren werten Vorhaben allerdings nicht mehr als ansatzweise umgesetzt.
Wer von uns wurde jemals vom Reiseveranstalter vor Antritt seiner Urlaubsreise hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Zielland informiert oder sensibilisiert?
Die am „Runden Tisch“ der Bundesregierung getroffene Entscheidung einer strikten Ablehnung der überfälligen und vielfach geforderten Anzeigepflicht ist nicht nur sehr täterfreundlich und damit zugleich opferfeindlich.
Sie ist auch nicht zeitgemäß und den Gegebenheiten nicht angepasst. So blieben bei den Beratungen und Entscheidungen am „Runden Tisch“ längst praktizierte, opferfreundliche Verfahrensweisen bei der Ermittlungstätigkeit und Strafverfolgung offensichtlich unberücksichtigt.
Dieser „Runde Tisch“ mit seinen Initiatorinnen und „Expert(inn)en“ wurden jedoch nicht nur wegen der strikten Ablehnung der in jüngster Zeit vermehrt geforderten Anzeigepflicht sondern auch aus anderen Gründen – zum Teil sehr heftig – kritisiert.
Von „politischem Lügentheater“ war zu lesen. Dass es weniger die Absicht des „Runden Tisches“ gewesen sei, den Kindern zu ihren Rechten und zu mehr Schutz zu verhelfen als sich mit dem Thema zu profilieren, wurde den Initiatorinnen vorgeworfen.
Dass allein die Wogen geglättet werden sollten, die der Kirchenskandal verursachte, wurde vermutet.

Auch die Zusammensetzung des „Runden Tisches“ sei nicht sachgerecht und nur schwer nachvollziehbar, wurde bemängelt.
Die Bundesministerinnen und Initiatorinnen des „Runden Tisches“ sahen das freilich ganz anders:
„Im Rahmen des Runden Tisches ist es gelungen, das Wissen all jener zu bündeln, die sich seit Jahren in Theorie wie Praxis mit dem Thema beschäftigen“, so wird im Abschlussbericht vom 30.11.2011 festgestellt.
Das erscheint allerdings in der Tat mehr als fraglich. Ein Blick auf die insgesamt 61 Teilnehmer beweist eher das Gegenteil.
Vertreten waren neben zahlreichen Bundestagsabgeordneten aus allen Lagern der Deutsche Anwaltverein, der Deutsche Richterbund, die Bundesrechtsanwaltskammer, das Zukunftsforum Familie, der Verband alleinerziehender Mütter und Väter, die Freie Wohlfahrtspflege, der Deutsche Olympische Sportbund, die Bundesschülerkonferenz, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Deutsche Bischofskonferenz, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände…
Nicht wenige der Teilnehmer und teilnehmenden Organisationen scheinen vom Thema und von der Möglichkeit eines hilfreichen Beitrags zur Verbesserung der Situation im Deliktsbereich des sexuellen Missbrauchs von Kindern so weit entfernt, wie Tierschützer, Bierbrauer oder Somalia von der Landung auf dem Mond.
Namhafte, über Jahre hinweg erfolgreich arbeitende und mit hoher Kompetenz und viel Erfahrung ausgestattete Beratungsstellen waren dagegen offensichtlich nicht erwünscht und nicht an den „Runden Tisch“ geladen.
Opferverbände beklagten sich, dass auch sie nicht oder nicht angemessen an den Gesprächen beteiligt wurden.
Sie alle sind – was bei manchen an „Runden Tisch“ Versammelten fraglich erscheint – mit dem Wissen und der Erfahrung ausgestattet, auf das bei einem ernsthaften Versuch, Kinder besser vor sexueller Ausbeutung zu schützen, nur schwerlich verzichtet werden kann.
Auf die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik der Jahre 2009 und 2010 wird im Abschlussbericht des „Runden Tisches“ Bezug genommen und sie werden kommentiert.
Demnach müsste den Verantwortlichen der runden Tafel bekannt sein, dass sich auch die Polizei in hohem Maße mit diesen Delikten zu beschäftigen hat.
Dennoch: Auch die Polizei wurde nicht an den Runden Tisch geladen. Auch auf ihre Erkenntnisse und Erfahrungen wurde verzichtet.
Das ist nicht nur ein bedauerliches Versäumnis, das ist ein Affront!
Keine andere Einrichtung oder Institution hat so viele Erkenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit diesen Taten und Tätern, mit den Tatgelegenheitsstrukturen, den Tatabläufen, den Tatorten und mit den Opfern, wie die Polizei.
In den kriminalpolizeilichen Vernehmungen und Befragungen steht all das, was tatbegünstigend, tatfördernd oder tatverhindernd wirkt.
Die kriminalpolizeilichen Akten sind eine wahrte Fundgrube an unverzichtbaren Erkenntnissen für jede wirksame Prävention und Repression. Kaum eine andere Institution hat sich zudem während der vergangenen Jahre so intensiv wie erfolgreich um eine sach- und opfergerechte Bearbeitung des sexuellen Missbrauchs von Kindern bemüht, wie die Polizei, allen voran die kriminalpolizeilichen Sachbearbeiter(innen).
„Mehrfachvernehmungen sollten stärker als bisher vermieden werden“, empfehlen die „Experten“ am „Runden Tisch“ unter anderem in ihrem Abschlussbericht.
Eine Empfehlung, die in ihrer Aktualität dem Schnee von gestern gleicht und in den Ohren kriminalpolizeilicher Ermittler(innen) so höhnisch wie peinlich klingt.
Wissen sie doch, dass Kinder überhaupt nicht vernommen sondern befragt werden sollten, weil in der Vorstellungswelt eines Kindes nur böse Menschen zur Kriminalpolizei vorgeladen und vernommen werden.
Wissen sie doch auch, dass Mehrfachbefragungen nicht nur stärker als bisher vermieden sondern nach Möglichkeit überhaupt nicht (mehr) durchgeführt werden und durch Video-Befragungen in Kind-gerechter Umgebung (im Kinderzimmer, einem kinderfreundlichen Raum oder im Sandkasten) ersetzt werden sollen. So jedenfalls praktizieren kriminalpolizeiliche Sachbearbeiter(innen) den Opferschutz, von dem am „Runden Tisch“ und anderswo so viel geredet wurde und geredet wird.
Dann wurde der „Runde Tisch“, an welchem über eineinhalb Jahre hinweg in nicht öffentlichen Sitzungen nach Möglichkeiten der Aufarbeitung, Verhaltensregeln und Lösungen im Umgang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern gesucht wurde, wegen der vorgenommenen Einschränkung der Problematik auf „private und öffentliche Einrichtungen und den familiären Bereich“ gerügt.
Warum die sexuell motivierten Vergehen und Verbrechen an Kindern, die außerhalb privater und öffentlicher Einrichtungen und außerhalb der Familie stattfinden, von den Diskussionen an diesem „Runden Tisch“ ferngehalten wurden, bleibt in der Tat rätselhaft und entbehrt jeder Logik.
Wenn eine 13-Jährige von einer Horde 17- und 18-Jähriger im Wald oder Pkw vergewaltigt oder ein 6-Jähriger vom Spielplatz oder Schulweg aus verführt wird, dann ergeben sich in Prävention wie Repression mindestens so viele und so schwerwiegende Probleme wie bei innerfamiliären Vorkommnissen oder bei Taten hinter Heim-, Internats- und Kirchenmauern.
Rätselhaft bleibt auch, warum der Tatort Internet ebenso unberücksichtigt blieb, wie die von Deutschen begangenen Auslandsstraftaten. So rätselhaft und fragwürdig, wie die sehr schnell erfolgte und beharrlich verteidigte Ablehnung einer Anzeigepflicht aus vorgegebenen Opferschutzgründen auch.
Es sind allerdings Gründe denkbar, die für all das ausschlaggebend gewesen sein könnten. Das gesamte Ausmaß dieser Kriminalität zu verschleiern und auf diese Weise den guten Ruf des Hauses zu wahren, ist einer davon.
Es gab in der Vergangenheit zahlreiche „Runde Tische“ auf allen Ebenen, an denen das Thema „Sexueller Missbrauch von Kindern“ erörtert wurde, ohne dass dabei jemals entscheidende Fortschritte im Kampf gegen diese Kriminalität erzielt worden sind.
Selten waren die Ergebnisse so dürftig, so enttäuschend und in Teilen so unbrauchbar und dazu kontraproduktiv, wie am Ende dieser Tafel am Ende des Jahres 2011.
Eines allerdings wurde mit diesem „Runden Tisch“ der Bundesregierung erneut und in seltener Deutlichkeit bewiesen:
Wenn es ein Maßstab für den Zustand einer Gesellschaft ist, wie sie mit ihren Kindern umgeht und wie sie ihre Kinder (und die Kinder Anderer) schützt, dann ist es um die unsere nach wie vor nicht gut bestellt.