Kriminalpolitik

Altes und Neues von der Mafia

– Geldmentalität oder Rechtstreue –


I. Banker oder Bankster


Amerikanische und britische Finanzaufsichtsbehörden haben Ende Juni 2012 gegen die Bank „Barclays“ Sanktionen in Höhe von ca. einer halben Milliarde US Dollar bzw. 290 Millionen Pfund verhängt und deren Chef (Bob Diamond) zum Rücktritt gezwungen. Grund für diese bislang höchsten Strafen waren Manipulationen am Zinssatz „Libor“ (London Interbank Offered Rate). Seitdem herrscht nach dem Empfinden mancher Journalisten in der Finanzbranche eine Art Krieg. Selbst die Deutsche Bank und mehr als ein Dutzend anderer Finanzkonzerne stehen am Pranger, weil ihre Mitarbeiter Manipulationen am Schlüsselzins Libor vorgenommen haben sollen. In Aufsichtsbehörden ist von „organisiertem Betrug“ die Rede.

Dr. Wolfgang Hetzer

Der Chef der Royal Bank of Scotland (RBS), Stephen Hester, betont hingegen, dass es sich um „Fehler“ einzelner Mitarbeiter handle und nicht um ein Versagen des gesamten Systems. Das dürfte allerdings „die zentrale Frage“ auch für die anderen Großbanken sein, die allem Anschein nach in entsprechende Vorgänge verwickelt sind. Die Deutsche Bank hatte zwar bereits 2011 zwei Händler entlassen, die mit der Feststellung des Libor betraut waren. Der Vorsitzende ihres Aufsichtsrates, Paul Achleitner, bescheinigte seinen Vorständen Anfang August 2012 noch, dass sie nach den bisherigen Erkenntnissen von den Manipulationen nichts wussten, eine Erklärung, die wohl vor allem dem früheren Investmentbanking-Chef und jetzigen Co-Vorstandschef Anshu Jain, in dessen Bereich die Manipulationen fielen, den Rücken stärken soll.
Der Vorsitzende einer Arbeitsgruppe der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) für die Reform der Finanzmarktregulierung, Thorsten Schäfer-Gümbel, greift Jain genau deswegen an und behauptet, dass es beim „Libor-Skandal“ um systematischen Betrug und Bereicherung gehe. Bei mangelnder direkter Beteiligung von Jain müsse man zumindest von einem Organisationsversagen ausgehen, für das die Finanzaufsicht ebenfalls zuständig wäre. Die für Justiz zuständige Kommissarin der Europäischen Kommission Viviane Reding hat unterdessen schon einmal vorgeschlagen, Banker als „Bankster“ zu bezeichnen.
Wie auch immer: Solche Schlagworte sollten nicht davon ablenken, dass sich diese nun auf einmal heftig kritisierten Vorgänge unter den Augen der zuständigen Kontrolleure abspielten. Daher müsste sich die Frage nach deren fachlicher (In-)Kompetenz oder gar deren krimineller Energie in der Form systematischer Pflichtvergessenheit stellen. Heute versuchen Aufseher sich mit der Behauptung zu verteidigen, dass ihnen der Libor-Skandal sicher nicht so durch die Finger gerutscht wäre, wenn die Welt 2008 nicht am Abgrund gestanden hätte. Einer von ihnen gab sich gleichwohl „erschüttert“ und erklärte, dass nun die Mechanismen griffen, die er bisher nur aus Mafia-Filmen gekannt haben will. Diesmal ist die Angelegenheit jedenfalls nicht mit der bewährten banktechnischen Kategorie „Peanuts“ abzutun. Die Zinssätze Libor und Euribor sind Basiswerte für Geldgeschäfte Hunderter Billionen Euro. Selbst für die Ausgestaltung von Tagesgeldern ist der Euribor die entscheidende Richtlinie. Zehntausende Baukredite in Spanien beruhen auf dem Euribor und Millionen von Hypothekenkontrakten in den USA hängen vom Libor ab.
Zunächst hatten die Kollegen in den Handelsabteilungen der Banken aber ganz andere Geschäfte im Visier, als sie versuchten, den Markt der Zins- und Währungsderivate zu beeinflussen. Ende 2011 soll das Volumen der ausstehenden Geschäfte allein 567 Billionen US Dollar betragen haben. Dies bedeutet, dass schon Veränderungen von 0,01 Prozentpunkten für Banken Gewinne oder Verluste über Hunderte Millionen nach sich ziehen. Damit läuft jede Schale mit Peanuts über. Umso erstaunlicher ist, dass die Schätz- und Rechenprozesse bei der Bestimmung der Zinssätze von Anfang an bekanntermaßen alles andere als quantitativ präzise und methodisch vertrauenswürdig waren. Die Leitung der deutschen Finanzaufsicht (Elke König) erklärte dem erstaunten Publikum jüngst sogar, dass der Libor-Zins zu Manipulationen geradezu eingeladen habe. Zudem ist mittlerweile kaum zu bestreiten, dass der Markt, den die Daten widerspiegeln sollten, seit der Finanzkrise tot ist und dass nur noch wenige Banken ohne die Hinterlegung von Sicherheiten Zugang zu Krediten haben. Nun scheint aber auf einmal jeder zu wissen, dass die Geldhändler im Investmentbanking eine „verschworene Gemeinschaft von Underdogs“ sind, die sich immer wieder institutsübergreifend in größeren oder kleineren Kreisen an verschiedenen Orten der Welt getroffen haben, um sich ohne formelle Verträge zwischen großen Institutionen „unter Amigos“ zu verabreden. Das Ergebnis soll ein weltumspannendes Kartell gewesen sein, das von Japan über Europa bis nach Kanada reichte.
Doch man blieb wohl nicht allein. Angeblich hat der spätere stellvertretende Vorsitzende der Bank of England Paul Tucker am 29. Oktober 2008 den damaligen Chef der Barclays Bank gefragt, warum die Bank denn stets so hohe Zinsen melde. Mr. Diamond will sogar von dem Notenbanker die Aufforderung gehört haben, eine niedrigere Zinsmeldung für den Libor abzugeben. Das bestreitet der Kollege allerdings heftig. Dessen ungeachtet hielt Mr. Diamond seinerzeit in einem Vermerk fest, dass er sich politischem Druck ausgesetzt gefühlt habe. In Deutschland scheint dagegen alles – wie üblich – in Ordnung zu sein. Immerhin soll der Vorsitzende des Aufsichtsrats der Deutschen Bank Paul Achleitner fest davon überzeugt sein, dass seine Bank nie versucht hat, den Libor zu drücken, um die eigene Lage zu beschönigen. Die Deutsche Bank sieht sich anscheinend nur als „Mitläufer“, eine in der Aufarbeitung der deutschen Geschichte ebenfalls durchaus bewährte Kategorie. Das hat die EU-Kommission 2011 nicht davon abgehalten, mehrere Kartellverfahren gegen Banken einzuleiten und sich dabei auf verdächtige Vereinbarungen unter Einbezug von Derivaten und Geheimabsprachen über die Bestimmung von Ausleihsätzen zu konzentrieren.
Es geht also nicht allein um die Festlegung globaler Zinssätze zum eigenen Vorteil. Möglicherweise wurde auch der riesige Markt der Derivate manipuliert. Auch in der Schweiz wird geprüft, ob sich Derivatehändler über die Differenz zwischen Ankaufs- und Verkaufskursen (Spreads) von Derivaten abgesprochen und dadurch Kunden diese Finanzinstrumente zu marktunüblichen Konditionen verkauft haben. In Brüssel haben sich über 40 Banken gemeldet, die ihr Wissen über die jahrelangen Manipulationen mitteilen wollen. Als Kronzeuge kann man in diesen Tagen angesichts der Möglichkeit eines Strafrabatts und möglicher Strafen in Höhe von zehn Prozent eines Jahresertrags auch gute Geschäfte machen. Alleine auf EU-Ebene sind in Einzelfällen Sanktionen in Höhe von über einer Milliarde Euro nicht auszuschließen. In den USA sind angeblich nicht nur zivilrechtliche, sondern auch strafrechtliche Konsequenzen zu erwarten.
Die deutschen Banken sind von der Finanzaufsicht daran erinnert worden, dass sie für eventuelle Schäden Rückstellungen bilden müssen. Erste Schadenersatzklagen wurden auch schon erhoben. Nach vorläufigen Berechnungen von Morgan Stanley muss mit möglichen Gesamtkosten für die Banken aus Strafen und Schadenersatzzahlungen in Höhe von 22 Milliarden US Dollar gerechnet werden, davon alleine für die Deutsche Bank 1,5 Milliarden US Dollar. Ein Team der Investmentbank Macquarie sieht die Deutsche Bank sogar mit 8,3 Milliarden Euro im Obligo. Darin sind Strafzahlungen und zivilrechtliche Klagen von Geschädigten inbegriffen.
Die Schadensschätzungen sind jedoch besonders schwierig. Es ist eine Gleichung mit unzähligen Variablen. Es beginnt mit dem richtigen Libor-Satz. Er ist die erste Unbekannte. Offen ist, um wie viele Prozentpunkte die „Tricksereien“ den Referenzwert nach unten gedrückt haben. Schon im Promillebereich hätten Unterschiede enorme Folgen. Immerhin war der Libor ausschlaggebend für viele Kredite mit variablem Zinssatz. Deshalb dürfte eine Vielzahl von Transaktionen beeinträchtigt sein. Zu den potentiell Geschädigten gehören nicht nur Banken, sondern auch Unternehmen und Privatkunden.
Während in Deutschland Baukredite überwiegend festverzinslich vergeben werden, dominieren in Großbritannien, Spanien, Italien, Irland und Portugal Darlehen mit variablem Zins. Deren Referenzzins ist im Euro-Raum der drei- oder sechsmonatige Euribor. Die EU-Kommission hat auch diesen Interbankenzins ins Visier genommen, weil sie ähnlich wie beim Libor Manipulationen der Banken befürchtet.
Auch die deutsche Finanzaufsicht prüft mehrere Institute. Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass die Interbankenzinsen durch Absprachen der Banken künstlich niedrig gehalten wurden, ergibt sich womöglich für die Kreditnehmer kein Nachteil, weil sie geringere Zinskosten hatten. In Deutschland haben variabel verzinsliche Baukredite ein Volumen von etwa 200 Milliarden Euro, in Großbritannien von mehr als 800 Milliarden Euro. Im August 2012 war noch nicht klar, ob es zu einer Welle von Schadensersatzklagen von Privatanlegern kommt. Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) hatte seinerzeit mit der Prüfung begonnen, um festzustellen, ob es durch die Zinsmanipulationen überhaupt Schadensfälle gibt. Das ist die Vorstufe, bevor die Möglichkeit einer Klage erörtert wird. Aber auch nach dem Eindruck der DSW ist die Quantifizierung der Schäden jedoch sehr schwierig.
Viele Investmentfonds basieren auf Libor oder Euribor. In Deutschland dürften rund 80 Fonds den Libor als Vergleichsindex verwenden. Die Fondsgesellschaft der Volks- und Raiffeisenbanken (Union Investment) will ihre Ansprüche geltend machen, wenn es in den USA zu einem Gerichtsurteil im Sinne der Kläger kommen sollte. Unterdessen hat die Deutsche Bank in ihrem Bericht zum ersten Quartal 2012
auch eingeräumt, dass sie von den Ermittlungen der Aufsichtsbehörden betroffen und in den USA verklagt worden ist.
Die Gläubiger von variabel verzinsten Anleihen, die meistens auf Libor oder Euribor beruhen, könnten entgangene Zinseinnahmen geltend machen. Dabei ist aber wiederum die Frage zu beantworten, wie stark die Interbankenzinsen in der Vergangenheit durch die angeblichen Kartellabsprachen verzerrt wurden, ein Unterfangen, das von der DSW ebenfalls als „sehr aufwendig und schwierig“ bezeichnet wurde. Äußerungen der Finanzaufsicht in Großbritannien, wo die Ermittlungen bisher am weitesten gediehen sein sollen, deuten unterdessen darauf hin, dass die Auswirkungen auf Privatanleger nur „marginal“ gewesen sein dürften. Im Vergleich mit Barclays betonte die Financial Services Authority (FSA) gemeinsam mit den amerikanischen Aufsichtsbehörden gar, es gebe keine Hinweise darauf, dass die Bank den Libor oder Euribor erfolgreich verändert habe.
Aber: 14 Barclays-Händler hatten über Jahre, vor allem vor der Finanzkrise, systematisch die Refinanzierungskosten von Barclays zur Berechnung des Libor und Euribor gemeldet, die in Absprache mit den Kollegen aus dem Derivate-Handel formuliert wurden. Genau das ist verboten, weil Zinsderivate von den Bewegungen des Libor oder Euribor beeinflusst werden. Die Händler hätten ihre Meldungen an den Britischen Bankenverband (BBA) und den Europäischen Bankenverband ohne interne Absprache und Rücksicht auf Handelspositionen der Bank übermitteln müssen. Dagegen hat Barclays über Jahre mindestens in Hunderten von Fällen verstoßen. Bemerkenswert ist zudem, dass eine Bank alleine die Berechnungen des Libor oder Euribor nicht beeinflussen kann. Sobald die Meldungen der Händler von denen der Konkurrenz stark abweichen, werden sie bei der Ermittlung des Libor und Euribor nicht berücksichtigt. Beide sind die global führenden Zinssätze, an denen sich die Konditionen von Derivaten im Zins- und Devisenhandel ausrichten. Ende Juni 2011 summierten sich außerbörslich gehandelte auf 554 Billionen US Dollar. Ende 2011 belief sich das Volumen kurzfristiger Zinsderivate an der Londoner Terminbörse (Liffe) auf 477 Billionen Euro. Davon entfielen 241 Billionen Euro auf Euribor-Kontrakte. Zum Volumen aller Finanzprodukte, die auf Libor oder Euribor beruhen, gibt es nur stark schwankende Schätzungen. In der „Financial Times“ wurde für den Libor die Zahl von 350 Billionen US Dollar genannt, während „The Economist“ das Volumen auf 800 Billionen US Dollar veranschlagte. Trotz dieser hohen Varianz ist die enorme Bedeutung der Interbankzinsen unverkennbar. Alleine dieser Umstand nährt den Verdacht, dass für Banken ein Anreiz zu Manipulationen besteht. Deshalb ist auch schon Kritik daran laut geworden, dass das Verfahren beim Libor auf der Basis der Zinsmeldungen von nur 18 Banken durchgeführt wird, während beim Euribor 44 Banken beteiligt sind. Darin liegt aber kein entscheidender qualitativer Unterschied. Die höhere Zahl macht Absprachen beim Euribor zwar schwieriger, aber keineswegs unmöglich.1
Unterdessen scheint sich der „Skandal“ auch in zeitlicher Hinsicht auszuweiten. Nach Meldungen in der „Financial Times“ sind einem Händler von Morgan Stanley schon 1991 Ungereimtheiten beim Libor aufgefallen. Entsprechenden Meldungen sei man damals nicht nachgegangen. Derselbe Händler meldete sich nach Bekanntwerden des mutmaßlichen Ausmaßes erneut beim ermittelnden Ausschuss des britischen Parlaments. Dort habe man ihn beschieden, dass seine Aussage der offiziellen Version widerspreche und nicht erwünscht sei. Es steht dahin, ob damit die Vermutung gerechtfertigt ist, dass die Behörden die Versäumnisse ihrer früheren Arbeit vertuschen wollen.
Sei’s drum: Auch die Steuerzahler müssen ihr Scherflein beitragen, etwa wenn die WestLB bzw. ihre Nachfolgegesellschaft „Portigon“ die Libor-Lasten wird schultern müssen. Man wird sehen, auf wie vielen und auf wessen Schultern sich die weiteren Lasten letztlich verteilen werden.Die RBS hat unterdessen Ende Juli/Anfang August 2012 erste personelle Konsequenzen gezogen und vier Mitarbeiter entlassen. Die Bank konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen, welche Strafen drohen. Sie steht neben Barclays und der Schweizer UBS im Zentrum des Skandals. Nach ersten Schätzungen könnten alleine der RBS die Verfehlungen mehr als eine Milliarde Pfund (1,3 Milliarden Euro) kosten, abgesehen vom Reputationsrisiko. Mitarbeiter von rund 20 Banken sollen über Jahre hinweg versucht haben, den Libor zu frisieren, um Handelsgewinne einzustreichen und die Finanzlage ihrer Banken schönzufärben (Ermittlungsstand August 2012). Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass die RBS für absehbare Zeit der größte Sanierungsfall in der britischen Bankenbranche bleiben dürfte. Im ersten Halbjahr 2012 stieg ihr Nettoverlust im Vorjahresvergleich um 40 Prozent auf 1,990 Milliarden Pfund. Im zweiten Quartal sank der Verlust allerdings auf 466 Millionen Pfund. Er hatte im Vorjahr noch 897 Millionen Pfund betragen. Seit der Finanzkrise befindet sich diese Bank übrigens zu 82 Prozent in Staatsbesitz, nachdem sich die britische Regierung im Herbst 2008 veranlasst sah, sie mit 45 Milliarden Pfund vor dem Zusammenbruch zu retten. Anfang August 2012 wurde angeblich eine Komplettverstaatlichung erwogen. Seit 2008 sind immerhin schon 36000 Arbeitsplätze weggefallen.
Im Sommer 2012 begannen Banken und ihre Anwaltskanzleien in der City of London sich insbesondere gegen das Vorgehen amerikanischer Ermittlungsbehörden zu wappnen. Immerhin war es dem Leiter der 2011 gegründeten New Yorker Finanzaufsicht, Benjamin Lawsky, gelungen, die Bank Standard Chartered2 im Zusammenhang mit Verstößen gegen Iran-Sanktionen zu einer Strafzahlung von 340 Millionen US Dollar zu bewegen. Das Vorgehen war rigoros und bewirkte einen derart großen Affront, dass sich sogar der Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, entrüstete, wurde die Londoner Finanzaufsicht FSA doch erst 90 Minuten vor der Veröffentlichung der Anschuldigungen aus New York informiert. Einige Banker in London argwöhnen zudem, dass die Amerikaner die in den Schwellenländern starke Konkurrenz der britischen Banken schwächen wollten.
In dem Vergleich mit Standard Chartered, der trotz anhaltender Ermittlungen anderer amerikanischer Behörden geschlossen wurde, waren die britische Anwaltskanzlei Slaughter and May und die amerikanische Kanzlei Sullivan & Cromwell zu Diensten. Seit Januar 2009 haben sich übrigens die Loyds Bank, Credit Suisse, ABN Amro, Barclays, die ING Bank und HBSC mit den Amerikanern wegen Verstößen gegen die Sanktionen gegen den Iran, Libyen, Burma, Liberia und Sudan geeinigt und dabei jeweils bis zu 700 Millionen US Dollar Strafe gezahlt.
Die Untersuchungen der Aufsichtsbehörden sind für die betroffenen Banken unabhängig vom Reputationsschaden und dem möglichen Verlust der Banklizenz enorm kostenträchtig. Alleine Barclays veranschlagt nach Meldungen vom August 2012 die internen und externen Kosten des Libor-Verfahrens auf 100 Millionen Pfund. Zwar beschäftigen Großbanken in ihren Rechtsabteilungen Hunderte von Anwälten. Sie nehmen aber auch die Hilfe externer Kanzleien in Anspruch, die einen Stundensatz bis zu 1000 Pfund berechnen. Bestimmte amerikanische Anwälte liquidieren gar 2000 bis 3000 US Dollar. So entstehen schnell Rechnungsbeträge in Millionenhöhe. Allerdings mussten Kanzleien wie Clifford Chance, die auch für Barclays tätig sind, „chinese walls“ einziehen, weil diese Kanzlei auch die RBS vertritt und daher Interessenkonflikte vermeiden muss. Das hindert den früheren Partner des Rechtsberatungskonzerns Freshfields Bruckhaus Deringer und stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden von Rothschild, Antony Salz, nicht, die neunmonatige interne Libor-Untersuchung bei Barclays zu leiten, während Freshfields selbst die Bank of England im Libor-Skandal berät. Unterdessen sitzt der ehemalige Verwaltungsratsvorsitzende der amerikanischen Commodity Futures Trading Commission, Reuben Jeffery, im Verwaltungsrat von Barclays.3
Neben den Versuchen zur Manipulation des Libor-Zinssatzes geht es nicht nur um jahrelange Verstöße gegen Sanktionen, sondern auch um Beihilfe zur Steuerhinterziehung. Die Banken sollten durch die Welle von Ermittlungen nicht überrascht sein, waren die Rechtsverstöße in der Vergangenheit und die Ignoranz der Aufsichtsbehörden doch zu groß. Gleichwohl scheint die Bankenwelt zumindest in London von der Wucht der ergriffenen Maßnahmen schockiert zu sein. Beim Vorgehen gegen Banken im Umfeld des Libor-Komplexes wird sogar ein Gesetz aus dem Jahre 1921 („Martin Act“) angewandt. Es ermächtigt den Generalstaatsanwalt von New York, Eric Schneidermann, jeder der dort tätigen Geschäftsperson oder Bank ein Strafverfahren anzudrohen, ohne dass den Beschuldigten eine Betrugsabsicht nachgewiesen werden müsste.
Die Deutsche Bank und drei weitere europäische Banken sind ebenfalls in das Visier von Staatsanwälten aus New York und Washington geraten, weil sie möglicherweise Milliarden US Dollar für den Iran, Sudan und andere mit Sanktionen belegte Länder durch ihre amerikanischen Töchter geleitet haben könnten. Die Ermittlungen beziehen sich auf einen Zeitraum vor 2008.4
Diese äußerst fragmentarische kleine und ständig aktualisierungsbedürftige Skizze kann auch nicht annähernd vollständig die höchst komplizierten technischen Details enthalten, die in diesem Zusammenhang bedeutungsvoll sind. Deshalb sei im Folgenden ein flüchtiger Seitenblick auf einige grundsätzliche Aspekte erlaubt. Er bietet hoffentlich eine kleine Hilfe bei der Beantwortung der Frage, ob wir einem Phänomen gegenüberstehen, das mit „Business as usual“ korrekt bezeichnet ist oder ob wir nicht nur in Gestalt der Finanzwelt mit einem mafiotischen Netzwerk konfrontiert sind, das alle konventionellen Vorstellungen sprengt.

II. Markt oder Mafia

Die Wahrnehmung der Organisierten Kriminalität (OK) als ein Teil deliktischer Realität wird durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt. Eine öffentlichkeitswirksame Mythologisierung erschwert die inhaltliche Bestimmung des Begriffs und die analytische Bearbeitung der vielfältigen Erscheinungsformen. Definitorische Schwächen, kriminologische Defizite („Dunkelfeld“), wirtschaftliche Gegebenheiten, politische Ambitionen, behördliche Interessen und massenmediale Verzerrungen tragen ebenfalls zu einem diffusen Gesamtbild bei. In den öffentlich zugänglichen Darstellungen beschränkt man sich zumeist auf statistische Grunddaten und wenig aussagekräftige allgemeine Erläuterungen. Möglicherweise war es der umfassende Charakter der in Deutschland geltenden amtlichen Definition, der dazu führte, dass die Debatte um das Besondere der OK in den letzten Jahren merklich abflachte. Das offizielle Verständnis enthält folgende Elemente:

  • Planmäßige Begehung von Straftaten erheblicher Bedeutung.
  • Mehr als zwei Beteiligte.
  • Arbeitsteiliges Zusammenwirken von längerer oder unbestimmter Dauer.
  • Gewinn- oder Machtstreben.
  • Gewerbliche- oder geschäftsähnliche Strukturen.
  • Gewalt oder andere zur Einschüchterung geeignete Mittel.
  • Einflussnahme auf Politik, Medien, öffentliche Verwaltung, Justiz oder Wirtschaft.

Gleichzeitig hob man immer wieder hervor, dass die Existenz der OK jedenfalls in Deutschland unstreitig sei, beklagte aber, dass unter OK häufig nicht jene qualifizierte Form des Verbrechens verstanden werde, die von subtilen Tattaktiken und -techniken bestimmt ist und die sich ausschließlich am zu erwartenden Profit orientiert. Man schien zunächst übereingekommen zu sein, dass es OK auf jeden Fall gibt, um erst danach zu fragen, worin denn das Besondere dieser Kriminalitätsform liegt.
Auch jenseits des deutschen Horizonts gab es vielfältige Bemühungen, OK abstrakt zu beschreiben. Dem Europäischen Parlament lag schon 1992 der Bericht eines Untersuchungsausschusses über die Ausbreitung des organisierten Verbrechens im Zusammenhang mit dem Drogenhandel in den Ländern der Europäischen Gemeinschaften vor. Seinerzeit hatte man erkannt, dass die OK vielfältige Formen annimmt und dadurch eine eindeutige Definition erschwert wird. Man unterschied zwischen der OK als Gattungsbegriff für alle Formen organisierter Kriminalität und dem „institutionalisierten Verbrechen“. Letzteres durchdringe die moderne Industriegesellschaft in einem Maße, das die „einfache“ OK nicht erreiche. In den folgenden Jahren hat man sich auf europäischer Ebene um weitere Definitionen bemüht. Sie zeichnen sich zwar durch zahlreiche Gemeinsamkeiten aus, dürfen aber deshalb nicht als wechselseitige Bestätigung für die jeweilige Richtigkeit des analytischen Ansatzes missverstanden werden. Insgesamt stellen sie immer noch kein genügend qualitativ orientiertes Raster zur Erkennung und Einordnung OK-verdächtiger Strukturen und Personen dar.
Viel wichtiger als alle amtlichen Definitionsversuche ist die Einsicht, dass es in unserem Zusammenhang nicht lediglich um die Mafia als eine konkrete historische und leider auch aktuelle Variante der OK in Italien oder in den USA geht. Wir reden über Systeme unkontrollierter Macht. „Mafia“ ist nur eine Metapher, welche für einen pathologischen Machtmissbrauch steht. OK ist nicht nur ein Merkmal strukturschwacher Gesellschaften. Sie hat sich – in unterschiedlichen Formen – in allen politischen Systemen ausgebreitet.
Man mag sich mit der These beruhigen, dass intakte Staatswesen mit einer funktionierenden Rechtsprechung, parlamentarischen Opposition und einer freien Presse effektive Abwehrmechanismen gegen eine kriminelle Unterwanderung ausbilden können. Es drängt sich jedoch die Frage auf, wie groß und wie nachhaltig dieser Beruhigungseffekt wäre, wenn man zu dem Ergebnis kommen müsste, dass sich OK als „Wirtschaftsform“ und als „politisches Prinzip“ etabliert hat.
Diese und eine Vielzahl weiterer Fragen, die durch mittlerweile unübersehbar viele anregende Beispiele auf allen Etagen der wirtschaftlichen und politischen Hierarchien hochaktuell geworden sind, müssen in einer Zeit beantwortet werden, in der die angebliche Unterscheidbarkeit von Gewinn und Beute den Erklärungswert und die Überzeugungskraft eines Ammenmärchens bekommen hat. Es ist kaum zu übersehen, dass Steuerhinterziehung, Fehlallokation von Kapital zum Zwecke der Steuervermeidung, steuerlicher Gestaltungsmissbrauch von legalen Unternehmen zum Nachteil der Allgemeinheit, die Degeneration der Finanzmärkte zu Casinos und Tatorten sowie korruptive Praktiken in weltweit agierenden Konzernen zu einer strukturellen und funktionellen Überschneidung mit der OK geführt haben. Auch aus diesen Gründen ist die Abkehr vom überkommenen Verständnis dieser Kriminalitätsform geboten. Bislang sind damit – fast reflexartig – nur bestimmte Schlagwörter verbunden:
„Rauschgift“, „Rotlichtmilieu“, „Menschenhandel“, „Ausländer“, „Gewalt“, „Mafia“, etc.
Sie führen zu einer Stigmatisierung besonderer Art. In der öffentlichen Wahrnehmung gerät OK fast zur mythologischen „Unterwelt“, die fernab der bürgerlichen Gesellschaft ihr eigenes Leben nach geheimnisvollen Riten und Traditionen führt, weitab von den Zentren des sonstigen bürgerlichen, wirtschaftlichen und politischen Daseins. Dieses Verständnis sorgt in der Welt bürgerlicher Wohlanständigkeit und in politischen Kreisen für Entlastung.
Die „Mafia“: Das sind immer nur die Anderen, Fremden, Fernen. Eine unheimliche Bedrohung, die von außen kommt, die wohlgeordnete eigene Welt bedroht und mit brutaler Energie drangsaliert oder auch mit korruptiven Praktiken unbescholtene Bürger verführt. Wenige Blicke in beliebige Tageszeitungen eröffnen andere Perspektiven. Die Nachrichten über kriminelles Geschehen auf allen Etagen von Wirtschaft, Verwaltung und Politik sollten endlich zu einer grundlegenden Revision führen. Davon sind nicht nur einzelne Kriminalitätsbereiche, sondern auch die „üblichen Verdächtigen“ betroffen. Klärungsbedürftig ist, ob die Grundsätze des fairen Wettbewerbs in der Wirtschaft, die Gesetzesbindung der Verwaltung und die Gemeinwohlverpflichtung der Politik durch das „Gangsterprinzip“ abgelöst wurden. Heutzutage provoziert insbesondere die „Finanzkrise“ Fragen, die sich bis vor kurzem niemand vorstellen konnte. Bislang konzentrierte sich das Augenmerk der Polizei und der Justiz in allen Mitgliedstaaten der EU leider vor allem auf besonders auffällige (gewalttätige) und damit „primitive“ Formen vermeintlicher OK. Damit geraten vornehmlich bestimmte gewalttätige Muster der Bandenkriminalität in den Blickwinkel. Im Hinblick auf die finanziellen Interessen der EU gehen die noch ernster zu nehmenden Gefährdungen hingegen von Personen und Strukturen aus, die andere spezifische Merkmale und Talente ausgebildet haben.
Das kriminologisch und kriminalistisch traditionelle Verständnis von OK muss sich ändern. Unter dem Eindruck äußerst attraktiver Tatgelegenheiten, die sich angesichts der Höhe der in der EU und aus öffentlichen Haushalten zur Verfügung stehenden Mittel bieten und wegen der anhaltenden Zeiten wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Umbruchs haben sich die Methoden kriminellen Handelns verfeinert. Die besonders gefährlichen Vertreter der OK greifen zu kaufmännischen Kalkulationen und identifizieren die höchsten Gewinnspannen und die geringsten Risiken mit unternehmerischer Weitsicht. Nicht zuletzt aus diesen Gründen hat die OK in den letzten Jahren mehrere qualitative Sprünge gemacht. Dadurch ist es ihr in zunehmendem Maße gelungen, das Wohlstandsgefälle innerhalb der EU, die strukturellen Umwälzungen, die für einen offenen Binnenmarkt typischen Kontrolldefizite, die Vielzahl und Komplexität gesetzgeberischer Akte sowie die Anfälligkeit von Teilen der wirtschaftlichen, politischen und administrativen Eliten für Korruption in etlichen, wenn nicht allen Staaten planvoll auszunutzen.
Allerdings ist nicht erst seit der Finanzkrise erkennbar, dass wir in Gesellschaften leben, in denen Lebenssinn sich in Gewinnmaximierung erschöpft. Dort hat die OK alle Chancen weiter zu wachsen und zu gedeihen. Schon jetzt ist kaum noch zu klären, in welchem Maße zwischen (noch) legalen Unternehmen und der OK Deckungsgleichheit besteht. Die Finanzierungsbedürfnisse politischer Parteien, die Machtinteressen von Politikern und die Gewinnorientierung von Unternehmen sind in unheilvoller Weise zusammengewachsen. Insbesondere die Korruption hat sich zum verführerischsten und gefährlichsten Leitmotiv der Moderne entwickelt. Sie ermöglicht es gerade der OK auf Waffengewalt konventioneller Art zur Durchsetzung ihrer Absichten zu verzichten. Geld korrumpiert nicht nur. Es räumt jeden Weg geräuschlos frei. Damit schließt sich der Kreis: Jede Gesellschaft, innerhalb und außerhalb Europas, hat die OK, die sie verdient, weil sie an ihr und mit ihr verdient.
Die gegenwärtige und anhaltende Wirtschaftentwicklung bietet viele anschauliche Beispiele dafür, dass sich die OK in äußerst besorgniserregender Weise entwickelt hat. Sie ist zum sicherheitspolitischen Problem erster Ordnung geworden. Aus der Finanzkrise hat sich eine wirtschaftliche und aus dieser eine soziale Krise entwickelt. Die Globalisierung hat auf den Finanzmärkten eine Kasinokultur entstehen lassen, mit dramatischen Konsequenzen. Dazu zählt die transnationale OK, die eine gesamtwirtschaftlich relevante Größe und eine globale Ausdehnung erreicht hat. Im Mittelpunkt der ganzen Entwicklung steht wiederum die Korruption. Regierungen haben erlaubt, dass das System und seine wichtigsten Vertreter außer Kontrolle gerieten. Auch wenn man manche Unternehmen für zu korrupt gehalten hat, um erfolgreich zu sein, so hat man sie doch für so groß eingeschätzt, dass sie nicht scheitern können.
Finanziers und Wirtschaftsführer haben ohne Regeln eine allgemeine Bereicherungsorgie veranstaltet. Banker, Fondsmanager und Vermögensverwalter haben ihre Dienstleistungen und ihre Seelen verkauft, um riesige Summen Geldes zu verdienen und es sich in die eigene Tasche zu stecken als das System kollabierte. Armeen von Rechnungsprüfern, Buchhaltern und Rechtsanwälten haben sich legalen und illegalen Industrien wie Söldner zur Verfügung gestellt, um kriminelle Geschäfte zu verdecken oder ihnen den Anschein der Rechtmäßigkeit zu vermitteln. Ratingagenturen und Beratungsgesellschaften haben Unternehmen betrügerisches Verhalten gelehrt und ihnen anschließend Unbedenklichkeitstestate erteilt. „Offshore“-Finanzzentren haben Geld jeder Herkunft akzeptiert und keine Fragen gestellt. Darin liegt insgesamt der korrupte Kern der Finanzkrise, die für die OK geradezu ein Jungbrunnen ist.
Es stellt sich die Frage, ob am Anfang Parlamente, die eine gigantische Staatsverschuldung erlaubten, oder Banden von Geldhändlern, die sich nur die dadurch eröffneten günstigen Gelegenheiten zunutze machten, oder gar Versammlungen von Mafia-Bossen standen, die ihre vergleichweise primitiven bisherigen Geschäftsmodelle nur modernisiert haben.

III. Business oder Betrug

Mit der Verwendung des Begriffs „Finanzkrise“ finden Neutralisierungen und Täuschungen in einem öffentlichen Diskurs statt, der den Eindruck erweckt, als ob das System der globalen Kapitalmärkte nur einer vorübergehenden Funktionsstörung ausgesetzt und die strafrechtlich zurechenbare Verantwortlichkeit bestimmter Entscheidungsträger bedeutungslos sei.
Am Anfang standen mehrere Regierungen in den USA, die mit höchst fragwürdigen Methoden einen unbezahlbaren Krieg in Vietnam zu finanzieren versuchten, den Derivatehandel deregulierten, nach Bedarf Geld druckten und schließlich mit einer wohlfahrtsstaatlichen Kreditpolitik besonders einkommensschwache Bevölkerungskreise in die Schuldenfalle führten und so einen exzessiven Verbriefungshandel mit minderwertigen hypothekarisch gesicherten Wertpapieren und Kreditausfallversicherungen provozierten. Dort hat ein Staatsversagen in mehrfacher Hinsicht das Entstehen einer Finanzindustrie gefördert, in der sich durch empirisch in keiner Weise abgesicherte mathematische Modelle bei der Konstruktion strukturierter Finanzprodukte ein Rationalitätsabbruch und ein Realitätsverlust ereigneten, so dass ein Klima des Größenwahns und asozialer bis krimineller Unverantwortlichkeit entstehen konnte. Insbesondere im angelsächsischen Teil dieser Welt wurde der Niedergang der konventionellen industriellen Güterproduktion vom Aufstieg einer Kapitalmarktkultur begleitet, die Profitmaximierung jenseits wirtschaftlicher Vernunft betreibt und den Grundsätzen einer sozialen Marktwirtschaft europäischen Zuschnitts Hohn spricht.
Die Renditeerwartungen, die tatsächlichen Gewinne und bestimmte Geschäfte im privaten Bankenbereich zeigen, dass vor allem der Handel mit innovativen und strukturierten Finanzprodukten zu einem selbstreferentiellen System gemeinwohlschädlichen Eigennutzes degeneriert ist. In Deutschland haben sich Landesbanken unter den Augen verantwortlicher Politiker ohne das erforderliche „Know-How“ weit jenseits ihrer Deckungsmöglichkeiten an internationalen Spekulationsgeschäften beteiligt und dabei durch die Gründung vermögensloser Zweckgesellschaften die Bilanzgrundsätze der Klarheit und Wahrheit absichtlich und systematisch verletzt.
Regierungen auf der ganzen Welt haben die Produktion und den Einsatz „finanzieller Massenvernichtungswaffen“ (Warren Buffet), also den Handel mit Derivaten jedweder Art, zugelassen, ohne rechtzeitig eine auch nur halbwegs belastbare Folgenabschätzung geleistet zu haben, eine Unterlassung, welche die ethischen Grundlagen politischen Handelns in Frage stellt. Manch ein Investmentbanker (Lloyd Blankfein) behauptete sogar, dass er Gottes Auftrag erfülle, wenn er den Gewinn seines Institutes maximiert, ein Umstand, der nicht nur den Sachverstand, sondern auch den in dieser Branche herrschenden Geisteszustand als psychiatrisch überprüfungsbedürftig erscheinen lässt.
Rating-Agenturen haben mindestens unter den Bedingungen eines objektiven Interessenkonfliktes, wenn nicht in betrügerischer Absicht, immer wieder Behauptungen aufgestellt, die nicht die realen wirtschaftlichen Verhältnisse von Unternehmen und Märkten reflektierten, sondern einem manipulationsträchtigen Wunschdenken entsprachen. Die staatliche Finanzaufsicht konnte nicht verhindern, dass bestimmte Praktiken internationaler Rechnungslegung nicht den korrekten Vermögensstatus von Marktteilnehmern wiedergaben, sondern der geschönten und riskanten Selbstdarstellung zum Bilanzstichtag dienten.
Die Teilnahme an globalen Finanztransaktionen wurde zunehmend durch eine wettbewerbsverzerrende und riskante Kreditschöpfungspolitik geprägt, mit der die Beteiligten aufgrund der jeweiligen Hebelwirkungen Investitionen tätigen konnten, die ihrer realen finanziellen und wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit bei weitem nicht mehr entsprachen. Die Geldpolitik mancher Notenbanken und unzureichendes Risikomanagement in zahlreichen Bankinstituten haben die Bedingungen geschaffen, unter denen selbst das Finanzgebaren großer Investmentfirmen zunächst von Selbsttäuschung und dann von manipulativen Maßnahmen geprägt wurde, die schließlich den Verdacht systematischen und organisierten betrügerischen Verhaltens begründet haben. Weltweit koordinierte Initiativen der Finanzindustrie haben auch für die Realwirtschaft zu stabilitätspolitischen Gefahren geführt, deren Realisierung eine Dynamik und Zerstörungskraft entfalten könnte, denen mit den Mitteln herkömmlicher nationaler und internationaler Ordnungspolitik nicht mehr wirksam begegnet werden kann.
Angeblich hochprofessionelle Banker mussten einräumen, dass sie Papiere, die sie für Milliardenbeträge gekauft hatten, selbst nicht verstanden hatten. Noch schlimmer: Sie müssen jetzt davon ausgehen, dass fast alle Mitbewerber sich ebenfalls mit diesen toxischen Abfällen eingedeckt haben und deshalb nicht mehr kreditwürdig sind. Daher sollte es auf einmal keinen Kredit mehr ohne Staatsgarantie geben. Das war die Geburtsstunde einer paradoxen Welt. Die Staaten müssen die Banken retten, nicht umgekehrt. Damit ist in der Politik wie in der Wirtschaft ein Zustand eingetreten, der unter anderem deshalb an kriegsähnliche Verhältnisse erinnert, weil er sich durch die Abwesenheit von Vernunft und Logik auszeichnet. Im Verlauf von Kriegen kommt es fast immer zur Verselbstständigung und schließlich zur Institutionalisierung menschenverachtenden Irrsinns. So wie man in Kriegen dem siegreichen Feldherrn zu folgen bereit ist, so glaubt man heute, dass sogenannte „Expertenregierungen“ den Müll beseitigen können, den die Akteure auf den Finanzmärkten hinterlassen haben. Demokratisch legitimierte Regierungen sind immer weniger imstande, die weitere Ausbreitung der toxischen Abfälle in den Tresoren von Geschäfts- und Zentralbanken zu verhindern.
Eines sollte klar geworden sein: Finanzkrisen sind keine Naturereignisse. Das ständige Gerede von der „Alternativlosigkeit“ signalisiert daher eine vorsorgliche bedingungslose Kapitulation des menschlichen Geistes im Angesicht von Problemen, die auch nicht gottgewollt sind. Sie sind durch das Versagen zahlreicher Systeme und Subsysteme in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik entstanden. Strategische Allianzen, nationale Egoismen, technologische Entwicklungen, die Erosion von Moral, die Abdankung der Vernunft und die durch Inkompetenz verschärfte Korrumpierung bürgerlicher Wertvorstellungen sowie sogenannter Eliten haben sich in einem brisanten Gemisch konzentriert. Dessen Explosivkraft ist beispiellos. Sie ist mit den abschließenden 10 Thesen nicht annähernd angemessen bestimmt.

  1. Das Etikett „OK“ beruht häufig auf einer unreflektierten Übernahme des Postulates der Unterscheidbarkeit von Politik, Wirtschaft, Staatsbürokratie und organisierten kriminellen Strukturen.
  2. Die effiziente Verhütung und Bekämpfung der OK scheitert daran, dass sie in vielen Staaten nur die radikale Ausprägung ökonomischer, militärischer und politischer Machtverhältnisse ist.
  3. In der OK spiegeln sich die moralischen und ethischen Widersprüche einer Gesellschaft, die Lebenslügen der bürgerlichen „Wohlanständigkeit“ und die Folgen politischer Täuschungen zum Zwecke des Machterwerbs.
  4. In der OK entfalten sich die Wirkungen der egomanisch-asozialen Energie, die etliche Funktionsträger bei der Verteidigung ihrer Positionen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung entwickeln.
  5. In Teilbereichen der Wirtschaft werden die Gesetze des Rechtsstaates durch Methoden der OK abgelöst, in Deutschland, in Europa und weltweit.
  6. In Gesellschaften, in denen sich Lebenssinn in Gewinnmaximierung erschöpft, hat die OK die besten Entwicklungschancen.
  7. Die Finanzkrise demonstriert die Gefährlichkeit eines Vertrauens in Wirtschaftssubjekte, die das Leitbild des „ehrbaren Kaufmannes“ aufgegeben haben und der Logik der Mafia folgen.
  8. Mit Rattenfängerformeln („Leistung muss sich wieder lohnen“) wurde eine infame Täuschungskultur aufgebaut, in der Märkte auf einmal als Ort sozialer Gerechtigkeit erschienen, obschon die Behauptung, dass Märkte nach Maßgabe der Staatsfreiheit segensreich wirken, tatsächlich nur die gemeinwohlschädliche Lebenslüge neoliberaler Wirtschaftskreise und komplementärer Politzirkel ist.
  9. Die Finanzmärkte haben durch ihr eigenes Versagen ganze Staaten unterworfen; ihr Fehlverhalten wurde belohnt und Leistungen der Staaten wurden bestraft.
  10. Zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in Europa muss der besonderen Art von Kriegstreiberei einiger Machtcliquen in Politik und Wirtschaft so schnell, so effizient und so nachhaltig wie irgend möglich ein Ende bereitet werden.


Anmerkungen
Zu den Zahlenangaben: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7. Juli 2012, S. 19 („Die Zinsmanipulation trifft auch Baukredite“).
Das Institut wird als „Schurkenbank“ bezeichnet: Hans-Jürgen Jakobs/Alexander Mühlhauer, Die Schurkenbank, in Süddeutsche Zeitung vom 8. August 2012, S. 16.
Zitiert nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. August 2012, S. 16 („Londoner City wird zur Bonanza für Anwälte“).Zu weiteren Einzelheiten: Alexander Hagelüken/Nikolaus Piper, Banken und Schurken, in: Süddeutsche Zeitung vom 20. August 2012, S. 15.