Polizei und Justiz

Auf den Spuren des irren Axtmanns

Dartmoor Prison ist das berüchtigste Gefängnis Englands. Nur wenigen Ausbrechern gelang jemals die Flucht aus seinen hohen Mauern. Im Dezember 1966 hielt Frank Mitchell die ganze Nation in Atem.

Martin Glauert
Kassel

Im Westen zeigt sich das Dartmoor von seiner rauen Seite. Das Land ist karg, nur einzelne knorrige Bäume stemmen sich gegen den Wind, der unablässig über die braunen Hügel weht. Kilometerweit fährt man über die enge Landstraße, ohne einem einzigen Auto zu begegnen. Der Tag ist verhangen und regnerisch. Mitten in der Einsamkeit taucht ein kleiner Ort auf. Er besteht im Wesentlichen aus einer Straßenkreuzung, zwei Kneipen und niedrigen grauen Reihenhäusern. Princetown heißt der Flecken. „Mit seinem Klima von Nebel, Schnee, Wind und kaltem Regen ist dies der am wenigsten geeignete Ort, den man überhaupt für eine Stadt auswählen könnte„, schrieb ein Schriftsteller in den 50er Jahren. Die „grimmige kleine Stadt„ ist abgelegen und ohne Auto kaum zu erreichen. Die Eisenbahnlinie wurde bereits vor 50 Jahren stillgelegt, abends fahren auch keine Busse mehr. Princetown könnte in der Bedeutungslosigkeit eines kleinen Straßendorfes versinken, und doch ist sein Name verbunden mit Furcht und einem gewissen Grusel. Denn hier befindet sich das berüchtigste Gefängnis Großbritanniens: Dartmoor Prison.
Die Gefängnismauer öffnet sich nur an einer einzigen Stelle zu einem schmalen Steinportal. Wer durch dieses Tor mit seiner berühmten Glocke ging, ließ die normale menschliche Welt für lange Zeit hinter sich zurück, oft auch für immer. Die Blocks aus grauem Granit mit den nassgeregneten Schieferdächern wirken düster und einschüchternd, durch die kleinen vergitterten Fenster ist kein Blick möglich. Der Eintritt ist streng verboten. Wenn man wissen möchte, wie es wohl hinter den Gefängnismauern aussieht, besucht man das kleine Museum auf der anderen Straßenseite.
Der Museumswärter ist ein Bär von einem Mann, groß und breit, mit langen Haaren und einem wildem Bart, seine Unterarme sind dicht tätowiert. Auf einem Fernsehschirm läuft ein Video mit aktuellen Bildern aus dem Knastalltag. Der Strafvollzug ist heute so modern und sachlich wie in anderen Haftanstalten auch. Teppichboden und Teetassen, Sitzungen und Sozialarbeiter bestimmen den Tagesablauf. Das Mittagessen wird auf Wunsch vegetarisch oder veganisch, koscher oder muslimisch gereicht. In den niedrigen Museumsräumen aber lebt das alte Dartmoor Prison auf. Sehr schnell wird dem Besucher klar, warum das Gefängnis im Moor noch vor 50 Jahren als Hölle auf Erden galt.


Die Unwirtlichkeit des Moores bedeutete manchmal den Tod

Die Gefangenen lebten in ihren Einzelzellen in ständiger Finsternis, die einzige Belüftung bestand aus einem Schlitz unter der Tür, eine Schüssel diente als Toilette und wurde jeden Morgen in Fässer geleert. Zunächst schliefen sie in Hängematten, später auf hölzernen Pritschen mit zwei Decken und einem Kissen. Die Steinzellen waren feucht, das Wasser sammelte sich auf dem Boden, im Winter fror es zu Eis. Bestrafungen waren hart und grausam. Die „neunschwänzige Katze“ ist eine Peitsche mit einem kurzen Handgriff aus Leder und neun schmalen Seilen, die am Ende Knoten haben, um Schmerzen und Verletzungen zu verstärken. Im Museum steht das hölzerne Gestell, auf das die Männer gefesselt wurden. Hände und Füße wurden mit Ledermanschetten festgeschnallt, so dass der Delinquent hilflos und bewegungslos den Schlägen ausgeliefert war. Die dunklen Flecken auf dem Gestell verraten, wo Angstschweiß und Blut auf das Holz tropften.
„Hierher kamen die bösartigsten und unverbesserlichsten Verbrecher, mit denen man in anderen Gefängnissen nicht fertig wurde„, erklärt der Museumswärter. „Hier saßen die echten bad boys!„ Einer dieser schweren Jungs war Frank Mitchell, besser bekannt als der „irre Axtmann„. Vor 45 Jahren, im Dezember 1966, gelang dem gefährlichsten Verbrecher Englands der Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis Ihrer Majestät. Es folgte eine der größten Verfolgungsjagden in der Polizeigeschichte des Landes, seine Flucht hielt eine Woche lang die ganze Nation in Atem.
Frank Mitchell war ungewöhnlich stark, jähzornig und gewalttätig. Mehrfach hatte er Mitgefangene und auch Wachen mit selbstgebastelten Waffen angegriffen und verletzt. „Er war ein sanfter Riese mit dem Gemüt eines Kindes, aber er konnte sich in einen rasenden Bullen verwandeln, wenn ihm etwas nicht passte!„, erinnert sich ein ehemaliger Gefängniswärter. Die Wachen hielten ihn deshalb mit Scherzen und Gefälligkeiten bei Laune. Dazu gehörten offenbar auch schon einmal Kneipenbesuche und der Kauf eines Wellensittichs in der Stadt, wie Augenzeugen später zu Protokoll gaben. Mitchell hatte schon als Jugendlicher mehrfach hinter Gittern gesessen, zuletzt wurde er wegen bewaffneten und gewalttätigen Raubes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Die Gefängnisinsassen mussten das sumpfige Dartmoor entwässern. Die Männer gruben unter strengster Bewachung die Moore aus, mit lediglich einem Spaten in der Hand, dabei standen sie manchmal bis zu ihren Knien im kalten Wasser. Zusätzlich wurde aus Amerika die Schweigeregel übernommen, nach der jedes Sprechen, Flüstern und sogar Kopfnicken strengstens verboten war. Das restliche Leben würde für Frank Mitchell aus harter Arbeit und einer kleinen, kalten Zelle bestehen, den einzigen Weg aus dem Gefängnis hinaus würde er in einem hölzernen Sarg antreten. Ein solches Schicksal vor Augen, entschloss sich Mitchell zur Flucht. An einem Wintermorgen im Dezember 1966 war er mit einer Arbeitsgruppe draußen im Moor. Es war ein ungewöhnlich kalter, nebliger und windiger Tag. Die Mannschaft unterbrach ihre Arbeit und suchte Schutz in einem Unterstand. Unter einem Vorwand entfernte Mitchell sich kurz und verschwand dann auf Nimmerwiedersehen. Da es keine Funkgeräte gab, musste einer der Bewacher erst zum Dorf zurücklaufen und über einen öffentlichen Fernsprecher die Polizei alarmieren.
Die ehemalige Polizeistation ist heute ein Bistro, knallgelb gestrichen und nicht zu übersehen. Drinnen stehen einfache Holztische, ein warmer Pommesdunst weht dem Eintretenden entgegen. Junge blasse Schülerinnen bringen britische Kost an den Tisch, „chips and fish„, „steak and kidney pie„, zerkochte Erbsen und Möhren. An der Wand hängen Souvenirs und kitschige Ölgemälde zum Kauf, im Hintergrund dudelt ein Radio.
Von diesem Raum aus wurde eine der größten Verfolgungsjagden der englischen Polizeigeschichte geleitet. Die Gefängnisglocke läutete Sturm, Sirenen heulten durch den Nebel. Die Polizei errichtete Straßensperren und durchsuchte Bauernhöfe, einzeln stehende Gebäude, Scheunen und Viehställe. Mit Rudeln von Bluthunden durchkämmten die Verfolger jeden Quadratmeter des Moores, galt Mitchell doch als „der gefährlichste Verbrecher in England“. Bei einer früheren Flucht hatte er ein Ehepaar mit einer Axt in ihrem Haus überfallen, seither hieß er nur noch „der irre Axtmann“. Soldaten und Marineinfanteristen wurden angefordert, sogar ein Hubschrauber der Royal Air Force kam zum Einsatz. Mitchell aber blieb wie vom Erdboden verschluckt. War ihm etwas zugestoßen?
Auf den Touristen wirkt das Dartmoor reizvoll, aber für den Flüchtigen birgt es tödliche Gefahren: im Herbst und im Winter fällt am Nachmittag unvermittelt ein dichter Nebel, der die Sicht raubt und jede Orientierung unmöglich macht. Bizarre Steinformationen werden zu Hindernissen, über die man stolpern und sich den Fuß brechen kann. Alte Steinbrüche und verlassene Bleiminen verbergen unterirdische Schächte, die nicht abgesperrt sind und in die der ahnungslose Wanderer einbricht. Zwischen den Hügeln liegen tückische Schlammtümpel, die bis zu 2,70 Meter tief sind, noch heute findet man darin immer wieder die Skelette unglücklicher Wildponies, die vom Moor verschluckt wurden. Man stelle sich vor, durch eine solche Landschaft zu fliehen, in dichtem Sturmregen, schlecht gekleidet, vielleicht noch in der Nacht, mit einem beißend kalten Gegenwind und völlig ohne Schutz. Dutzende Flüchtlinge beendeten ihre Flucht in Scheunen, Heuhaufen und sogar in Schweineställen. Sie waren am Ende ihrer Kraft, hungrig, durchnässt und am Ende heilfroh, von Polizisten entdeckt zu werden. Frank Mitchell aber war längst nicht mehr im lebensfeindlichen Moor unterwegs, sondern saß bereits am Abend seines Fluchttages in einer warmen Wohnung im East Ham in London. Denn offenbar gab es da mysteriöse Helfer bei seiner Flucht.
Etwa 20 Minuten Fußmarsch vom „Combstone Tor„ entfernt fällt die Straße steil ins Tal ab. Genau in einer scharfen Haarnadelkurve liegt am linken Wegrand ein Haus aus grauem Feldstein mit mehreren Schornsteinen: das „Forrest Inn“. Man tritt in einen niedrigen Schankraum, die Luft ist abgestanden und muffig. An der Wand hängt die zerlöcherte Dartscheibe, der Musikautomat hält Hits aus den 80er Jahren bereit. An den Holztischen und auf den Bänken entlang der Wand sitzen abends die Bewohner der Umgebung, nicht sehr viele, denn die Wege sind weit und im Dunkeln unübersichtlich. Jeder kennt hier jeden. Da fällt ein Fremder sofort auf. An einem Dezembertag 1966 traten zwei Herren in den Wirtsraum und lenkten die Blicke auf sich. Die eleganten Anzüge passten nicht so recht zu den breiten Schultern und den groben Gesichtern. Mit unüberhörbar Londoner Akzent erkundigten sie sich nach dem Weg zum Dartmoor Prison. Zuletzt wurde ihre große graue Limousine in Postbridge gesehen, neben der alten Steinbrücke. Im Gemischtwarenladen mit der Benzinpumpe vor der Tür wollten sie Straßenkarten kaufen, die es von der Gegend jedoch gar nicht gab. Wahrscheinlich nahmen sie hier am verabredeten Treffpunkt Mitchell auf und fuhren nach Osten, vorbei an frühgeschichtlichen Steinkreisen und Kultstätten, für die sie kein Auge hatten. Von da an verliert sich ihre Spur.
Seine Freiheit aber konnte Frank Mitchell nur kurz genießen. Die eigenen Kumpane, die ihn aus dem Knast geholt hatten, brachten ihn 11 Tage später um. Seine Leiche wurde nie gefunden. Einige wollen wissen, dass er in einem Betonpfeiler einer großen Autobahnbrücke eingegossen wurde. Andere behaupten steif und fest, seine Mörder hätten die Todesanzeigen gelesen und ihn nachts auf dem Friedhof unter einem frisch beerdigten, unbescholtenen Bürger eingegraben. Auf jeden Fall blieb er bis heute verschwunden.

„Bloß weg hier!„ – Ausbrüche und Fluchtversuche

Die ersten Häftlinge wurden am 2. November 1850 in Dartmoor Prison eingeliefert. Keine fünf Wochen später ereignete sich schon der erste Ausbruch. Wohl jeder Insasse dachte ständig darüber nach, wie er dem harten Leben hinter Zuchthausmauern entkommen könnte. Dabei gab es die kuriosesten Einfälle. Im Gefängnismuseum ist eine Sammlung von Schlüsseln zu sehen, die Gefangene heimlich angefertigt haben. Dabei verwendeten sie Holz, Knochen, Plastik oder auch Metallreste aus dem Müll. Ein Schlüssel wurde aus dem Griff einer Zahnbürste angefertigt, ein anderer lediglich aus einem Stück dicken Karton. Dabei konnten die Häftlinge keinen Abdruck machen, sondern fertigten die Schlüssel alleine aus der Erinnerung an, wenn sie den Schlüssel lange genug im Gebrauch gesehen hatten.
Am 25. August 1856 bastelte der Gefangene James Lake ein Duplikat seines Zellenschlüssels aus einem Knochen, den er von seiner Fleischmahlzeit zurückbehalten hatte. Er befestigte den Schlüssel auf einem kleinen Stock, steckte ihn durch den Lüftungsschlitz neben der Zellentür, und es gelang ihm tatsächlich, den Schlüssel von außen in das Schloss zu manövrieren und die Tür zu öffnen. Nachdem er aus seiner Zelle heraus gekommen war, benutzte den Schlüssel wieder, um einen weiteren Häftling zu befreien, und zusammen überwältigten sie die Nachtwache. Deren Hilferufe aber hatten die Besatzung alarmiert, und so wurde nichts aus dem schlauen Fluchtversuch.
Die meisten Ausbrüche aber geschahen, wenn die Gefangenen in einer Arbeitsgruppe außerhalb des Gefängnisses unterwegs waren. Dabei nutzten sie den dichten Nebel aus, der so häufig auf dem Moor liegt. Die Flüchtlinge wurden dann von Wärtern und Polizisten mit Bluthunden über das Moor verfolgt. Zu diesem Zweck hatte die Polizei eine spezielle Vereinbarung mit einer alten Dame, die diese Bluthunde züchtete. Ein bestimmter Constabler war dazu eingeteilt, ein oder zwei dieser Hunde bei ihr abzuholen, sobald ein Ausbruch gemeldet wurde. Früher wurde der Alarm durch einen Gewehrschuss ausgelöst, später läutete die Glocke über dem Haupteingang Sturm. Zuletzt wurde eine Sirene installiert. Heute wird ein Fluchtalarm über Funkspruch ausgelöst.


Alte Bergwerksschächte wurden für manchen Ausbrecher zur tödlichen Falle

Jeder Ausbrecher war den Gefahren auf dem Moor ausgesetzt, einem riesigen freien Gelände, in dem lediglich wenige dürre Sträucher und Felsen Schutz gewährten. Im Winter konnte die schreckliche Kälte einen Menschen töten, der ohne entsprechende Schutzkleidung im Freien unterwegs war. Manch einer der Ausbrecher verlor seine Zehen durch Erfrierungen, und das hatte einen besonderen Grund: als erstes warf ein Ausbrecher seine Stiefel weg, denn auf den Sohlen war mit Nägeln ein breiter Pfeil eingenagelt, das Kennzeichen von Dartmoor Prison. Die Fußabdrücke im weichen Moorboden verrieten so jedermann, dass hier ein Flüchtling unterwegs war und wohin er lief. Die Gefängniskleidung war ebenfalls mit den typischen breiten Pfeilen bedruckt, so dass die Ausbrecher häufig in Wohnungen einbrachen, um sich Zivilkleidung zu verschaffen.
Trotzdem wurden die Ausbrecher nach ihrer Flucht oft in einem jämmerlichen Zustand aufgefunden, der häufig das Mitleid in ihren Verfolgern erweckte. Nicht selten brachten die Polizisten die eingefangenen Flüchtlinge als erstes in ein nahe gelegenes Cafe oder eine Pommesbude, um ihnen eine warme Mahlzeit zu kaufen. Andere wurden mit Sandwiches und vielen Tassen Tee versorgt. Ein ehemaliger Gefangener namens Rubber Bones schilderte lange nach seiner Entlassung in einer Zeitung, wie er damals nahe Okehampton wieder eingefangen wurde, bis auf die Haut durchnässt, hungrig und erschöpft, nachdem er drei Tage im eisigen Novemberwetter auf der Flucht gewesen war: „Nach meiner Festnahme fiel ich in die freundlichen Arme der Polizei von Devon. ‚Armer Teufel!‘, sagte einer. ‚Er muss ja fast tot sein!‘, sagte ein anderer. Dann fand ich eine Papiertüte voller Kekse in meiner einen Hand und eine Apfelsine in der anderen Hand, während eine Zigarette in meinen Mund gesteckt wurde und jemand sie anzündete. Ich werde diese großartigen, feinen Polizisten niemals vergessen!„
Ein anderer Gefangener, der an einem nebligen Tag von seiner Arbeitsgruppe geflohen war, hatte unverhofftes Glück, weil er an einer alten Vogelscheuche vorbei kam. Er zog sich ihre Kleider an und marschierte weiter, bis er in seiner Heimatstadt Islington ankam. Zu Hause, als er an die Tür klopfte, empfing ihn jedoch kein warmes Willkommen und kein gutes warmes Essen. Vielmehr weigerte sich seine Ehefrau, ihn herein zu lassen und jagte ihn einfach wieder fort!
Am Weihnachtsabend 1896 gelang es Ralph Goodwin, der fünf Jahre wegen Diebstahl verbüßte, zu fliehen. Er warf ein paar Handvoll Erde in die Gesichter seiner Bewacher und nutzte die Sekunden der Verblüffung, um davonzurennen. Er verschwand im Nebel und verbrachte den Rest des Tages und der Nacht damit, ziellos über das Moor zu irren, um so weit wie möglich vom Gefängnis weg zu sein, bevor es wieder hell würde. Er watete durch Flüsse, sank zeitweise bis zu seiner Hüfte im Sumpf ein, doch er ging immer weiter, bis er im Morgengrauen die verschwommene Silhouette einiger Gebäude sah. Er nahm an, dass er in der Nähe der Hafenstadt Plymouth wäre. Aber leider hatte er Pech, er war im Nebel einen großen Kreis gewandert und erkannte mit Entsetzen, dass er direkt vor dem Gefängnis stand.

„Die endgültige Entlassung„: Friedhöfe für die Gefangenen

Allein in den ersten sechs Jahren starben insgesamt 1500 Gefangene, die meisten an Masern, Pocken, Typhus und Lungenentzündung. Mehrere wurden bei Ausbruchversuchen von den Wachen erschossen oder starben im Streit untereinander. Manche begingen aus Verzweiflung Selbstmord.
Die Toten wurden direkt vor den Gefängnismauern in billigen Holzkisten oder auch nur in einer Decke begraben, ohne eine religiöse Zeremonie oder Trauergäste. Nach 50 Jahren bot sich ein grausiges Bild: überall in der Gegend lagen Skelette verstreut, da der Wind die Leichen freigelegt oder wilde Tiere die Knochen ausgegraben hatten. Deshalb ordnete der Gefängnisleiter schließlich im Jahre 1866 an, dass die Knochen gesammelt und in zwei große Haufen sortiert werden sollten, die dann als französische und amerikanische Überreste bezeichnet wurden. Diese wurden dann auf zwei unterschiedlichen Feldern in einem Massengrab begraben.
Nur in Begleitung eines Wachpersonals kann man heute die Friedhöfe besuchen, denn sie befinden sich auf dem Gefängnisgelände. Der französische Friedhof ist so groß wie ein halbes Fußballfeld, umstanden von großen Buchen und umrahmt von einer niedrigen, moosüberwachsenen Mauer aus handgefügten grauen Steinen. Unsere Füße laufen über weichen, holperigen Rasen. In der Mitte des Feldes steht auf einem Steinhügel ein Obelisk inmitten blühender Osterglocken. Auf der Steinsäule ist in Lateinisch eingraviert: „Süß ist es und ehrenhaft, fürs Vaterland zu sterben.„ Ob der Tod für die Gefangenen im Dartmoor süß war, ist allerdings fraglich.
Der amerikanische Friedhof liegt direkt nebenan. Durch ein eisernes Tor, das in der Gefängnisschmiede gefertigt worden ist, betritt man das Gräberfeld. Durch eine Spende aus Amerika ist der Friedhof kürzlich renoviert worden. Auch hier steht ein Obelisk, auch hier die gleiche fragwürdige Inschrift. Farbiger Granit in rosa und grau ist in einem Kreismuster ausgelegt. Neben dem Obelisk hat man zwei große Tafeln aus Metall aufgestellt, darauf zu erkennen sind die farbige amerikanische Flagge, ein großes Kriegssegelschiff, zeitgenössische Soldaten in Dreispitz und mit Seemannspistolen. Auf den zwei Tafeln sind die Namen aller amerikanischen Kriegsgefangenen aufgeschrieben, die in Dartmoor Prison inhaftiert waren. Durch das Geld aus Amerika haben die Toten ihre Namen zurückbekommen, während die französischen Leidensgenossen weiterhin anonym und vergessen in der Erde ruhen.
Zurück in den Ort Princetown: das schmiedeeiserne Friedhofstor ist rostig und quietscht in den Angeln. An den Gitterstäben hängt ein Holzschild, auf dem mit ungelenken Buchstaben geschrieben steht, dass die Kirche geschlossen ist und keine Gottesdienste mehr stattfinden. Dabei ist „St. Michael and All Angels„ einzigartig: wir stehen vor der einzigen Kirche in ganz Großbritannien, die von Häftlingen gebaut wurde. Die Kirche ist aus grauem Stein gebaut und hat einen mächtigen, großen Kirchturm, der fast an eine Burg erinnert. Auf dem Friedhof neben der Kirche sind offensichtlich lange keine Beerdigungen mehr durchgeführt worden. Manche Gräberfelder sind von Gras überwachsen. Die Grabsteine sind vom ständigen Wind, der von den Hügeln herüber weht, teilweise unleserlich geworden. Moos hat sich auf den Grabplatten festgesetzt und Schutz gesucht in den Inschriften. Ganz hinten, in der äußersten Ecke des Friedhofes stehen im Gras mehrere Reihen kniehoher, einfacher grauer Steine. Man würde sie leicht übersehen, wüsste man nicht, dass es sich hier um die Gräber von Gefangenen aus dem Dartmoor Prison handelt. In Reih und Glied sind sie aufgestellt, wie beim Appell. Kein Grabspruch ziert sie, keine Inschrift. Lediglich die Anfangsbuchstaben des Namens und der Sterbetag sind eingeritzt. Diese unscheinbaren Steine verraten nichts über das Schicksal der darunter Begrabenen. Manch eine abenteuerliche Lebensgeschichte hat hier ihr Ende gefunden. In einem Gedicht über diese Grabsteine heißt es: „Abgeschnitten von allem, was das Leben süß macht, war es ein Glück, zu sterben. Betrau’re einen Bruder, denn nur das Schicksal hat es Dir erspart, an seiner Stelle hier zu liegen.„

„Aus den Augen, aus dem Sinn!„ – Die lange Tradition als Gefängnis

Princetown wäre als kleines Straßendorf wahrscheinlich in der Bedeutungslosigkeit versunken, wenn nicht 1803 der Krieg mit Frankreich begonnen hätte. Dabei fielen den Engländern viele tausend Franzosen als Kriegsgefangene in die Hände. Wohin damit? Die Gefängnisse waren schnell überfüllt. Deshalb kam man zunächst auf die Idee mit den berüchtigten Wracks. Das waren ausgemusterte Kriegsschiffe, die seit Jahren in irgendwelchen abgelegenen Buchten vor sich hin rotteten. Die Zustände auf diesen Wracks waren haarsträubend. Schlechte Verpflegung, fehlende sanitäre Einrichtungen, die stickige Atmosphäre in den unteren Decks und der Mangel an Bewegung führten dazu, dass die Gefangenen starben wie die Fliegen. Zudem drängte der Schatzkanzler Seiner Majestät darauf, die Ausgaben für die Gefangenen zu verringern. Da kam man auf die Idee, neue Gefängnisse zu bauen.
Das Dartmoor bot sich an, weil es einsam und abgelegen ist. Zudem gibt es reichlich Steinbrüche und Wasser. So wurde das Gefängnis in dieser unwirtlichen Gegend gebaut, fünf Gefängnisblocks, ein Krankenhaus und ein separates Gefängnis für Offiziere. Am 24. Mai 1809 trafen die ersten Gefangenen ein. Die Schlafsäle waren offen und erstreckten sich ohne Abtrennung über ein ganzes Stockwerk. Dort standen lediglich Eisenpfähle, an die die Gefangenen ihre Hängematten binden konnten. In jedem Stockwerk wurden 500 Gefangene untergebracht. Hier lebten, aßen, schliefen, kämpften, spielten und starben die Männer jahrelang nebeneinander in engster Nähe. Es gab keine Heizung, die Fenster waren einfache Öffnungen in der Mauer ohne Glas, so dass allein ihre Körperwärme sie in den Wintermonaten am Leben hielt, wenn die Kälte ihren Atem zu Eisschichten an den Wänden gefrieren ließ. Das Gefängnis war für 1500 Männer vorgesehen, bald war es überfüllt mit fast 10.000 Gefangenen. Die meisten Offiziere dagegen hatten die Möglichkeit, als freie Männer in den Nachbardörfern in „Rufbereitschaft„ zu leben, unter einer Bedingung: sie mussten ihr Ehrenwort geben, nicht zu fliehen.


Die grimmigen Mauern des Dartmoor Prison

Im April 1814 endete der Krieg mit Frankreich und die französischen Kriegsgefangenen wurden in ihr Heimatland entlassen. Nun kamen die amerikanischen Kriegsgefangenen und nahmen ihren Platz ein. Der Krieg mit Amerika endete im Friedensvertrag von Genf, der am Weihnachtsabend 1814 unterzeichnet wurde. Die Rückführung der Gefangenen zog sich jedoch hin und im April 1815 kam es zu einem Aufstand der ungeduldigen Gefangenen, bei dem neun von ihnen getötet und eine unbekannte Zahl verwundet wurden. Der Vorfall ging als „Princetown Massaker„ in die Geschichte ein. Besonders pikant war die Tatsache, dass die Amerikaner zu diesem Zeitpunkt keine Kriegsgefangen, sondern offiziell bereits freie Menschen waren.
Der letzte amerikanische Kriegsgefangene verließ Dartmoor Prison im Februar 1816. Das Gefängnis lag danach verlassen da, der Ort Princetown verfiel. Erst im Jahr 1850 öffnete das Gefängnis seine Tore wieder, nun aber als eine Einrichtung für Kriminelle. Die Kolonien in Übersee, die lange Zeit als Endlager für Englands Straffällige benutzt worden waren, weigerten sich, weiterhin als gesellschaftliche Müllkippe zu dienen. Im Jahre 1853 wurden die Deportationen offiziell beendet. Nach kurzer Zeit hatte Dartmoor Prison sich den Ruf als sicherstes und härtestes Gefängnis des Königreiches erworben. Deshalb wurden die gefährlichsten Verbrecher Englands dorthin verlegt, mit denen andere Anstalten nicht mehr fertig wurden. Hier im Moor waren sie „aus den Augen und aus dem Sinn„.