Polizeigeschichte

Ordnungs- und Wirtschaftspolitik im Wandel:

Der Landrat in Preußen und Heute

Der Bundeshaushalt 2011 ist kaum im Entwurf vorgestellt, als klar ist, dass er wenig Neues bringt. Zwar wird er als „Spar-Haushalt„ bezeichnet, doch ist lediglich eine Reduzierung der Neuverschuldung vorgesehen, die aber nach wie vor in einem Bereich historischer Höchststände verharrt. Sieht Sparen so aus? An den strukturellen Defiziten der Bundes-, Länder- und Kommunalhaushalte ändern kosmetische „Einsparungen„ nach dem bisherigen Muster jedenfalls nichts. Das Hin und Her zwischen punktueller Streichung von Sanktionen und globalen Kosten-Kürzungen in den einzelnen Ressorts nach der „Rasenmäher-Methode„, die insbesondere die personalintensiven, oft unterdimensionierten Aufgaben vor Ort trifft, erinnert an ein lange einstudiertes Ritual und soll wohl vor allem die vielfach vorhandene Konzeptlosigkeit kaschieren. Im Kern geht es doch darum, eine effiziente und bürgernahe Verwaltung zu gestalten, welche die Wahrnehmung von hoheitlichen Anforderungen und Dienstleistungen für die Bürger gleichermaßen gewährleistet. Dabei mangelt es nicht an historischen Beispielen, die bei unvoreingenommener Betrachtung Ideen und Anregungen auch für die Bewältigung der heutigen Staats-Finanz-Krise liefern können.

Dr. Thomas Nern, Berlin
Diplom-Kaufmann und
Geschäftsführender
Gesellschafter


Diese Überlegungen lieferten die Idee für ein Forschungsvorhaben, einige Landkreise in Brandenburg vergleichend im Hinblick auf ihre Entwicklung in Preußen und im Deutschen Kaiserreich zu untersuchen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der preußische Landrat als kleinste Verwaltungseinheit und Repräsentanz des Staates vor Ort, dessen ureigenste Aufgabe es unter anderem war, zwischen den lokal herrschenden Eliten und Unternehmern sowie der Staatsregierung zu moderieren. An der herausragenden Stellung der preußischen Landräte änderte sich zwischen dem 18. Jahrhundert und 1945 nur wenig. Die Quellen- und Archivrecherchen für das Forschungsprojekt gestalteten sich dennoch aufwändig, denn Verluste durch Krieg und Brand in den Archivbeständen sowie die sprichwörtliche Effizienz der preußischen Landräte, die oft Korrespondenz nur in wichtigen Teilen aufhoben oder „alte„ Akten als Altpapier verkauften, bedingten, dass sich verwertbare Quellen relativ rar machen.

Preußen war für viele außen stehende Betrachter nach seinem fast kometenhaften Aufstieg im 18. Jahrhundert der Inbegriff eines modernen, aufgeklärten und effektiven Staates. Es vereinigte Attribute wie Disziplin, militärische Leistungsfähigkeit, unbestechliche Justiz und Verwaltung, Arbeits- und Leistungswille, Verzicht zugunsten übergeordneter Ziele, Weltoffenheit (auch gegenüber Einwanderern) und Toleranz, Ordnung und Pflichtgefühl, religiöse Toleranz, sowie (Volks-)Bildung und Wissenschaft auf sich wie kaum ein anderer Staat. Sicher glaubten sich viele deutsche und europäische Zeitgenossen von der „preußischen Militärmaschinerie„ bedroht und es mangelte auch nicht an Kritikern, die den Obrigkeitsglauben der Bevölkerung und Beamtenschaft kritisierten.1 Tatsächlich lag am Ende des Friderizianismus vieles im Argen, vor allem gelang es der hochbesteuerten, merkantilistischen Wirtschaft kaum in Friedenszeiten, die Mittel für den aufwändigen Militärapparat zu erwirtschaften. Der preußische Staat hatte also, kurz gesagt, in dieser Epoche – ähnlich wie heute – ein strukturelles Defizit und häufte Schulden an. Das rächte sich in Krisenzeiten, wie der französisch-preußische Krieg 1806/07 demonstrierte. Die Niederlage der preußischen Armee in Jena und Auerstedt, die folgende französische Besatzung, die großen Gebiets- und Bevölkerungsverluste sowie die gewaltige Kriegsentschädigung, die Frankreich forderte, trieben Preußen, das vorher bereits an der Grenze seiner finanziellen Leistungsfähigkeit agierte, in den Bankrott: 1808 konnte die Regierung weder Pensionen und Gehälter noch Schuldzinsen zahlen.2 Was nun?

Die Bemühungen, die Einnahmeseite zu verbessern, schlugen kurzfristig fehl. Es war ein grundlegendes Umdenken erforderlich – und das in einem feudalistisch geprägten Land. Die von der Regierung eingeleiteten Stein-Hardenberg-Humboldtschen Reformen grenzten an eine Revolution von oben, auch wenn vieles nicht umgesetzt wurde, am Widerstand des Adels oder Königs scheiterte oder einfach unvollendet blieb. Die wesentlichen Eckpunkte waren die Bauernbefreiung, Selbstverwaltung der Kommunen, die Öffnung des Offizierskorps für Bürgerliche, rechtliche Gleichstellung von Adel und Bürgertum, Emanzipation der Juden, die Neugründung und Reform der Hochschulen, die Abschaffung der Binnenzölle, die Gewerbefreiheit, der Freihandel respektive eine reformierte Zollpolitik und nicht zuletzt damit die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets. Hardenbergs Steueredikt von 1810 war eine verfassungspolitische Konzeption mit Weitblick, das ein transparentes System von wenigen Steuern vorsah, die nun im Sinne der bürgerlichen Gleichberechtigung personengebunden waren.3

Der Adel musste zwar unter anderem mit der Abschaffung der bäuerlichen Leibeigenschaft einen tiefen Einschnitt in seine tradierten Rechte hinnehmen – doch wurde dies schon dadurch relativiert, dass sich die Abgeordneten in den Provinziallandtagen bzw. Provinzialstände und die Landräte nach wie vor bevorzugt aus adeligen Schichten respektive (Groß-)Grundbesitzern rekrutierten bzw. gewählt wurden. Gewissermaßen teilte der Adel mit dem aufstrebenden Bürgertum die Macht, um seine Stellung in der beginnenden Industriegesellschaft zu sichern und am wirtschaftlichen Aufschwung zu partizipieren.4 Strukturell war der preußische Staat nach den Reformen jedoch für einige Jahrzehnte durchaus fortschrittlich: In der Forschung gilt die preußische Verwaltungsstruktur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielen als besonders effektiv, also kostengünstig und leistungsstark im europäischen Vergleich.5 Die Staatsausgaben stiegen in dieser Zeit kaum, verteilt auf die Köpfe der Bevölkerung blieben sie sogar weitgehend konstant. Die Ausgaben für neue staatliche Tätigkeitsfelder, wie Bildung, Gesundheit, Handel, Gewerbe und Verkehr wuchsen deutlich, während die für allgemeine Verwaltung, Militär und Hofhaltung sanken.6 Erst nach der Reichsgründung kam es dann zu einer Expansion des preußischen Verwaltungsapparats, was sicherlich nicht zuletzt aus den wachsenden Aktivitäten der Reichsregierung im sozialen Bereich und der Entfaltung der sogenannten Leistungsverwaltung der Kommunen resultierte.7 Doch was waren die Ursachen für diesen „schlanken„ preußischen Staat?

Im Zentrum der Reformanstrengungen seit 1808 stand zunächst die Abschaffung des willkürlichen Kabinettsystems und die Einführung einer „rationalen„ Staatsverwaltung, deren Regierung mit persönlich verantwortlichen Ministern arbeitete. Zudem sollte das tradierte ständische System in das modernisierte Staatswesen eingebunden und zumindest teilweise entmachtet werden. Ziel der Reformen war erklärter Maßen die Umwandlung der feudalistischen Gesellschaft und die wirtschaftliche Entwicklung des Landes, insbesondere die Gründung von Gewerbe- und Industriebetrieben sowie der Ausbau von Verkehrswegen, um damit die preußischen Großmachtansprüche respektive militärische Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Später traten als Reformmotiv sicher auch die Verbesserung der desolaten sozio-ökonomischen Lage großer Teile der Landbevölkerung hinzu, denn Preußen wies einen immensen Zuwachs der Bevölkerung auf, die versorgt und der Perspektiven gestiftet werden musste(n). Zwar blieb der von Hardenberg und anderen erhoffte, liberale Verfassungsstaat politisch unerreicht, doch zeigte die weitere Entwicklung, dass durch die Reformen der preußische Staat seine Kosten stark senkte bzw. konstant hielt und dadurch im investiven Bereich an finanzieller Leistungsfähigkeit stark gewann.8

Die wesentlichen Merkmale des neuen Staatswesens waren neben der fachlich geordneten Ministerialbürokratie, die Einführung von Provinzen mit einem Oberpräsidenten an der Spitze, die Etablierung von Regierungsbezirken als Mittelinstanz mit einem Regierungspräsidenten sowie die Konstitution von Kreise mit einem leitenden Landrat als kleinste Einheit der Staatsverwaltung vor Ort. Neben dem Effizienzgedanken war für die Gestaltung dieser Verwaltungsstruktur, die übrigens wegen königlicher Vorbehalte erst 1848/50 in einer nationalen Verfassung mündete, die Idee entscheidend, einerseits die effektive Umsetzung von Beschlüssen der Regierung zu gewährleisten und andererseits die Stände und Regionen wirksam einzubinden. Dabei erhielt die regionale Verwaltung und Entwicklung trotz geringer Haushaltsmittel relativ große Kompetenzen, während die Mitsprache der überkommenen Stände in den Provinziallandtagen eng begrenzt wurde.9 Im Ergebnis erhielt das aufstrebende Bürgertum kaum politische Partizipationsmöglichkeiten, fand jedoch in der vergleichsweise liberalen Marktordnung ein Betätigungs- und Entfaltungsfeld, das nicht nur integraler Bestandteil des preußischen Systems wurde sondern umgekehrt auch politisch integrativ wirkte.

Kernstück der preußischen Verwaltung war der Landrat, der als Bindeglied zwischen Regierung bzw. Monarch und Bevölkerung, vor allem zu bürgerlichen Kaufleuten, Unternehmern und anderen Gruppen fungierte. Der Landrat vereinigte eine Reihe von Funktionen auf sich. Zunächst standen im 18. Jahrhundert noch militärische und polizeiliche Aufgaben im Mittelpunkt, wie etwa Truppenaushebungen, Sicherung und Herstellung von militärischen Transportwegen, aber auch Brandschutz, Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral, Wohlfahrt und Steuereintreibung. Zu diesen Aufgaben gehörte auch schon seit 1766 die Überwachung des wirtschaftlichen Geschehens im Kreis.10 Diese Aufgabenstruktur entsprach durchaus noch dem tradierten Verständnis der inneren Verwaltung, die alle entsprechenden Aufgaben – auch die der Kontrolle und Förderung der Wirtschaft – unter dem Begriff „Polizei„ subsumierte.11 Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahmen die Aufgaben des Landrats sogar noch zu, so kam vor allem die Funktion der politischen Polizei (Überwachung von Parteien, politischen Vereinen und Gruppierungen), die Leitung der kommunalen Selbstverwaltung und der Kreispolizeibehörde, Ausbau und Instandhaltung der Verkehrswege sowie die Förderung der regionalen Wirtschaft (Landwirtschaft, Gewerbe und Industrie) hinzu.12 In der Forschung gilt der Landrat einigen als Mediator zwischen den Interessen der kreisansässigen Bevölkerung oder genauer den lokalen Obrigkeiten, also vor allem Unternehmern und Grundbesitzern, und der Staatsregierung bzw. dem König.13 Andere Wissenschaftler sehen im Landrat einen paternalistischen Herrscher, der im Stile „kleiner Könige„ den Landkreis regierte und nach Gutdünken agierte.14



De facto übten Landräte eine Doppelfunktion aus: Sie fungierten einmal im Auftrag der Staatsverwaltung und zum anderen als kommunale Selbstverwaltung, die relativ große Entscheidungsfreiräume hatte. Landräten boten sich nicht nur durch die Fülle der dargestellten Aufgabenfelder große Gestaltungsmöglichkeiten. Es gehört zu den zentralen Merkmalen des Amtes, dass der Inhaber – trotz der großen Machtfülle, die zwischen 1815 und 1918 nahezu unverändert blieb – relativ wenigen Vorschriften unterlag, wie er das Amt zu führen hatte.15 Mit anderen Worten war die genaue Stellung in den staatlichen Diensthierarchien nicht eindeutig definiert und es gab nur wenige Dienstvorschriften, wie welche Aufgaben erledigt oder dokumentiert werden mussten. Übereinstimmend wurde in den spärlichen Instruktionen zum Amt, die gewissermaßen einen groben Rahmen formulierten, die Aufforderung genannt, möglichst viel mit der Bevölkerung zu kommunizieren, Amtsgeschäfte mündlich abzuwickeln und, so das Ideal, dadurch ein Vertrauensverhältnis mit den Einwohnern aufzubauen respektive zu deren „Ratgeber„ zu werden.16 Je besser ein Landrat dies realisierte und je konsequenter er die lokalen Interessen vertrat, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass Spannungen mit übergeordneten Behörden auftraten. Konflikte entstanden auch dann, wenn die vorgesetzte Behörde konkrete Vorgaben etwa bei den periodisch zu erstattenden Berichten durchzusetzen versuchte, was viele Landräte unter anderem mit Standardantworten, „verlorener„ Post, dauernden Anträgen zur Fristverlängerung oder mitunter auch mit offener Renitenz unterliefen. Umgekehrt proportional zur großzügig auszugestaltenden Amtsführung der Landräte war die dürftige Mittelausstattung. Die Landräte waren auf eigenes Vermögen angewiesen, um ihr Amt auszuüben, die staatliche Alimentierung war jedenfalls spartanisch und deckte oft kaum die Kosten der Amtsführung, was ebenfalls Anlass für häufige Streitereien geboten hat.17 Die staatliche Mittelausstattung war also der Bedeutung des Amts kaum angemessen, was zur Kernfrage führt, wer die Landräte waren und wie ihre Arbeit einzuordnen ist.

Der Landrat war ursprünglich ein von Adeligen ausgeübtes Ehrenamt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde er zwar zu einem staatlichen Beamten, der jedoch noch immer von den Provinziallandtagen gewählt wurde. Ein Kandidat musste weniger über Verwaltungskenntnisse sondern vielmehr im Landkreis über Grundbesitz und ein hinreichendes Vermögen verfügen, das sein Auskommen sicherte. Lagen diese Voraussetzung vor und war der Kandidat eine respektable Persönlichkeit, die eine Mehrheit auf dem Proviniziallandtag erhielt, wurde er für eine mehrjährige Amtsperiode gewählt. Die Kombination dieser Faktoren sicherte dem Adel lange die Vormachtstellung unter den Landräten, was im Verhältnis zu seiner sinkenden ökonomischen Bedeutung eine überproportionale Machtstellung in vielen Regionen bedeutete. Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts nahm die Zahl von Landräten bürgerlicher Herkunft deutlich zu, die um 1900 rund 40 Prozent repräsentierten.18 Doch griffe es nicht nur wegen der Landräte bürgerlicher Herkunft zu kurz, Landräte allein als „Erfüllungsgehilfen„ der Interessen der ortsansässigen Adelsfamilien zu begreifen. Ihrer täglichen Arbeit und regionalen Bedeutung wird dies nicht gerecht.

Die Landräte waren zum Beispiel seit 1859 (seit 1838 war dies bereits als Dienstaufgabe empfohlen) für die Beschaffung von statistischen Daten zur Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung zuständig.19 Die damit verbundene Aufgabe war, das Wachstum von Handel, Gewerbe und (später) Industrie zu fördern. Diese wirklichkeitsnahe Tätigkeit eröffnete der Verwaltung überhaupt erst ein rudimentäres Verständnis für wirtschaftliche Vorgänge in den Kreisen, das den meisten Beamten bis dahin vollständig mangelte. Die Landräte zeichneten seit den 1890er Jahren in regelmäßiger Berichterstattung an die Regierungspräsidenten auch ein Bild der wirtschaftlichen Lage von Industrie und Gewerbe in der Region, das überwiegend auf den Rückmeldungen der befragten Unternehmer und Gewerbetreibenden beruhte und somit einen großen empirischen Gehalt besitzt, aber dennoch subjektiv von der Wahrnehmung des jeweiligen Landrats geprägt ist. Dieser gewichtete oder selektierte Informationen nach seinen Interessen, etwa um die Belange seiner Klientel in den Vordergrund zu stellen. Dieser Gestaltungsfreiheit wurden durch die (Ober-)Regierungspräsidien Grenzen gesetzt, die wiederholt vor allem eine bessere zahlenmäßige bzw. empirische Fundierung verlangten20, was allerdings nicht oft erreicht wurde. Insgesamt zeigt das Berichtswesen über die wirtschaftliche Lage im Landkreis, dass die Landräte trotz zweifellos vorhandener parteilicher Perspektive versuchten, die Interessen der verschiedenen Wirtschaftsakteure bzw. Gruppen auszugleichen, so wurden etwa zollpolitische Maßnahmen im zwischenstaatlichen Handel bzw. Vorschläge zur Neufestsetzung von Zöllen sehr differenziert für die verschiedenen Wirtschaftssektoren diskutiert, es konnten also durchaus Zolltarife abgesenkt werden, auch wenn dann etwa die verstärkt einsetzende Konkurrenz für landwirtschaftliche Produkte die einheimischen Produzenten schädigten, wenn andere Unternehmen zuvor stark beeinträchtigt oder in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht waren.21



Sicherlich war dieses System nicht frei von Fehlern oder einseitiger Interessenpolitik, aber im Gegensatz zu dem Kompetenzwirrwarr, das sich den heutigen Akteuren bietet, war es in Preußen zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts und 1945 eindeutig und bekannt, wer der maßgebliche Ansprechpartner vor Ort war. Der Landrat konnte somit gerade wegen seiner großen Gestaltungsspielräume in der Amtsführung effektiv regionale Belange transportieren und durchsetzen bzw. zentralistische Vorgaben modifiziert umsetzen. Die gesamtstaatlichen Aufgaben waren so ebenso zur Geltung zu bringen, wie die Besonderheiten in der örtlichen Wirtschaftsstruktur berücksichtigt werden konnten, ohne dabei in den heutigen „föderalen Flickenteppich„ zu verfallen. Die Gegensätze zwischen adeligen und bürgerlichen Wirtschaftsakteuren sowie Staatsverwaltung waren so zwar nicht aufgehoben, jedoch war in dieser Konstruktion des Landratsamtes zumindest eine graduelle Annäherung konstitutiv verankert. Der Pardigmenwechsel von der beschränkten kameralistischen Perspektive, lediglich ein sektorales Wirtschaftswachstum zu befördern, hin zu einer modernen Marktwirtschaft, die das Wachstum der arbeitsteilig organisierten Unternehmen im freien Wettbewerb zum Leitmotiv erhob, spiegelte sich in den liberalen Reformen wieder. Im Mittelpunkt stand nun der Gedanke der Wirtschaftsförderung; der staatliche Interventionismus und Dirigismus, zu dem preußische Staat noch im 18. Jahrhundert tendierte und den die späteren Deutschen Staaten insbesondere in Kriegszeiten auf die Spitze trieben, war bereits durch die geringe Personal- und Mittelausstattung der preußischen Behörden limitiert. Das Ministerium für Handel und Gewerbe von 1890–1896 bündelte seit seiner dauerhaften Etablierung im Jahre 1848 die Kompetenzen der preußischen Wirtschaftsverwaltung und entwickelte umfangreiche Aktivitäten zur Förderung von Wirtschaft und Technik.22 Den gewissermaßen halb-staatlichen, weil ständisch rück-gekoppelten Gegenpol zum staatlich erwünschten „freien Spiel der Märkte„ bildete der preußische Landrat, der den überkommenen Wirtschafts- und Gesellschaftsgruppen die Möglichkeit gab, an der neuen, dynamischen kapitalistischen Entwicklung besser zu partizipieren.

Die Grenze der Integrations- bzw. Moderationsfähigkeit von Interessengegensätzen durch die Landräte war erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erreicht, als sich die soziale Frage der unteren Bevölkerungsschichten, nämlich der (Land-)Arbeiter, (Klein-)Bauern und Besitzlosen immer drängender stellte. Hier erwiesen sich die meisten Landräte unfähig, sich auf die Probleme dieser prekären Bevölkerungsgruppen einzulassen. Die Berichte über die soziale und politische Situation in den Kreisen wurden so zu Stellungnahmen aus Sicht der Unternehmer – Lohnforderungen oder Streiks wurden entsprechend negativ kommentiert. Eine moderierende oder gar ausgleichende Rolle war so selbstredend hier nicht möglich, zumindest wurden bei der bisherigen Untersuchung von Archivmaterial noch keine entsprechenden Hinweise gefunden. Allerdings gab es auf dieser Ebene etwa durch die Förderung der Gründung von Genossenschaften zumindest Ansätze, zur Abmilderung der sozialen Fragen beizutragen.

Trotz aller Mängel und berechtigter Kritik am landrätlichen System bleibt aus heutiger Sicht festzuhalten, dass gerade die Verpflichtung zum Ausgleich widerstreitender Interessen auf regionaler Ebene besser funktionierte, als die aktuelle Gestaltung des Amtes: Der Landrat wird zwar gewählt, jedoch fehlt ihm die Einbindung in die Staatsverwaltung, die sich ja durch ein äußerst komplexes, föderales, bundesstaatliches und europäisches Kompetenzgeflecht auszeichnet. Der Landrat degeneriert so schnell zu einem „Dienstleister„, dessen Haupttätigkeit darin besteht, den lokalen Interessengruppen bei der Antragstellung von nationalen und europäischen Fördermitteln zu helfen. Davon unterscheidet sich die Konstruktion des Amtes in Preußen deutlich: Da staatliche Mittel zur Amtsführung oder Distribution von vornherein kaum oder gar nicht bereit standen, beruhte die Macht des Landrats zu einem ganz wesentlichen Teil auf Kommunikation. D.h. Geschwindigkeit und Grad der Umsetzung von staatlichen Gesetze oder Verordnungen in den Regionen hing direkt von der Reputation der Landräte ab, wie auch sein Handlungsspielraum in der Region von seinen kommunikativen Fähigkeiten mit bestimmt wurde. Umgekehrt nutzten die Landräte die direkte Kommunikation mit dem Zentrum, um die Interessen der Region zu vertreten und die Wirkung gesamtstaatlicher Maßnahmen wie etwa der Zollpolitik vor Ort rückzukoppeln. Sie trugen so zur Nivellierung des Informationsungleichgewichts zwischen Peripherie und Zentrum bei, was mit zu der wirtschaftlichen Dynamik beitrug, die letztlich Deutschland zu einer führenden Industrienation machte. Die Schwäche des landrätlichen Systems in Preußen aus heutiger Sicht war sicherlich die mangelnde demokratische Legitimation des Landrats, was mit ursächlich für die weit verbreitete Ignoranz der Amtsträger gegenüber der sozialen Frage der (Land-)Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Dennoch besteht kein Zweifel, dass deutlich größere Kompetenzen für die Regionen und Kommunen bei gleichzeitiger Stärkung der Kommunikation und Partizipation (mit) der ansässigen Bevölkerung auch heute große Gestaltungs- und Einsparpotentiale nicht nur in der unteren Staatsverwaltung bieten.

Anmerkungen:

1 Vgl. u.a. Christopher Clark: Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, München 2008 u. Sebastian Haffner: Preußen ohne Legende, 3. Aufl., Hamburg 1998
2 Vgl. u.a. Wilhelm Treue: Wirtschaft- und Technikgeschichte Preußens (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56). Berlin/New York 1984,
S. 225-233
3 Vgl. u.a. Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, 3. Aufl., München 1989, S. 58-60 u. 68-71 u. Rudolf Boch: Staat und Wirtschaft im 19. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 70), München 2004, S. 10f.
4 Vgl. Koselleck 1989, S. 81-190 u. Herbert Obenaus: Anfänge des Parlamentarismus in Preußen, Düsseldorf 1984
5 Vgl. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte 1700-1914, Bd. 2, München, 2. Aufl., 1995, S. 305
6 Vgl. Boch 2004, S.14
7 Vgl. Wolfram Fischer, Deutschland 1850-1914, in: Ders. (u.a. Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5, Stuttgart 1985, S. 357-442 u. Dieter Langewiesche, „Staat„ und „Kommune„. Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, Bd. 248, 1989, S. 621-635;

Zur seit der Reichsgründung wachsenden Leistungsverwaltung, die sich in der allgemeinen „Daseinsvorsorge„ begründete, zählten etwa soziale und kulturelle Einrichtungen, Kranken- und Sozialverischerungen, Post, Eisenbahnen, Wasser- und Energieversorgungsunternehmen, Kläranlagen und Müllabfuhr, öffentliche Verkehrsmittel usw.
8 Vgl. Koselleck 1989, S. 164ff.
9 Vgl. Ebenda, insbesondere S. 237f.
10 Vgl. Christiane Eifert: Paternalismus und Politik. Preußische Landräte im 19. Jahrhundert (Theorie und Geschichte der Bürgerlichen Gesellschaft, Bd. 20), Münster 2003, S. 39-44
11 Vgl. Olaf Wirth: Das preußische Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten. Ein Beitrag zu seiner Entstehungsgeschichte, Diss., München 1962, S. 2f. u. Margun Schmitz: Der Landrat, Mittler zwischen Staatsverwaltung und kommunaler Selbstverwaltung. Der Wandel der funktionalen Stellung des Landrats vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert, Diss., Baden-Baden 1991, S. 41f.

Für alle Wirtschaftsfragen war noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die sogenannte „Wohlfahrtspolizei„ zuständig.
12 Vgl. Eifert 2003, S. 55-95
13 Vgl. u.a. Schmitz 1991 u. Georg Christoph von Unruh: Der Landrat. Mittler zwischen Staatsverwaltung und kommunaler Selbstverwaltung, Köln/Berlin 1966
14 Vgl. Eifert 2003. Erwähnenswert ist, dass bereits die ältere Forschung die Rolle des Landrats als „Vater des Kreises„ diskutierte (vgl. u.a. Unruh 1966, S. 55ff.)
15 Vgl. Eifert 2003, S. 56-58
16 Vgl. von Unruh 1966, S. 49-51 u. Schmitz 1991, S. 51-57
17 Vgl. Eifert 2003, S. 69-91 u. von Unruh 1966, S. 57ff.
18 Vgl. Eifert 2003, S. 97ff.
19 Vgl. Ebenda, S. 64f. u. Koselleck 1989, S. 669f.
20 Vgl. exemplarisch Erlass des Oberpräsidenten von Brandenburg, Heinrich von Achenbach an den Regierungspräsidenten in Potsdam, Graf Robert Hue de Grais (1835-1922, von 1889 bis 1900 Regierungspräsident Potsdam) vom 16. Januar 1895 sowie die Verfügung des letzteren an die Landräte und lokale Behörden vom
30. Januar 1895, Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Rep. 2A, Regierung Potsdam, IHG, Nr. 51, fol. 2 u. 3f.
21 Dies ergab eine Auswertung einer Reihe von Landratsberichten aus den Jahren 1893-1907 in den brandenburgischen Kreisen Westhavelland und Ruppin.22
Vgl. Wirth 1962, S. 69-93; Hans-Heinrich Borchard: 50 Jahre Preussisches Ministerium für Handel und Gewerbe 1879-1929. Berlin 1929, S. 39-45 u. Ministerium für Handel und Gewerbe, Spezialinventar, bearbeitet von Herbert Buck, Nachtrag Bd. 1 und 2, hg. v. Christiane Brandt-Salloum. Berlin 2004. Die Geschichte des Ministeriums ist bisher nur in kleinen Ausschnitten erforscht, zumal es sich bei der Arbeit von Borchard (zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung Regierungsrat im Preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe) um eine Selbstdarstellung des Ministeriums in dessen offiziellen Auftrag handelt.