Kriminalitäts- und Gewaltgefährdungen im höheren Lebensalter
Kriminalitätsgefährdung und höheres Lebensalter – über die Zusammenhänge bestehen sowohl in der allgemeinen Öffentlichkeit als auch unter Fachleuten zum Teil kontroverse Vorstellungen. Sind Menschen, wenn sie älter werden, in besonderem Maße durch Kriminalität bedroht, weil sie sich möglicherweise schlechter zur Wehr setzen können? Oder ist Kriminalität im Wesentlichen ein Problem, das sich – auf Täter- wie Opferseite – auf junge Menschen konzentriert? Fürchten sich ältere Menschen in besonderem Maße vor Kriminalität? Ist diese Furcht möglicherweise irrational, da ihr „objektives Risiko„ der gefühlten Bedrohung nicht entspricht?
Solchen Fragen ist die durch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte Studie „Kriminalität und Gewalt im Leben alter Menschen„ nachgegangen. Sie hat Kriminalitäts- und Gewaltgefährdungen ab dem vollendeten 60. Lebensjahr analysiert und sich in diesem Zusammenhang besonders auch der Problematik der Misshandlung und Vernachlässigung älterer Menschen zugewandt, die zu Hause gepflegt werden. Die Studie wurde von einer Wissenschaftlergruppe unter Leitung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (Hannover) durchgeführt. Der Forschungsbericht liegt als Buch (GÖRGEN, 2010) sowie in einer gekürzten Fassung als Broschüre (GÖRGEN, HERBST, KOTLENGA, NÄGELE & RABOLD, 2009) vor.
Prof. Dr. Thomas Görgen
Deutsche Hochschule
der Polizei Münster
Methodisches Vorgehen
Der komplexen Thematik entsprechend, wurde ein Untersuchungsansatz gewählt, der mehrere methodische Zugänge und unterschiedliche Perspektiven miteinander kombiniert. Zum Einsatz kamen standardisierte Befragungen, leitfadenorientierte Interviews, Auswertungen von Akten, von Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik sowie aus polizeilichen Vorgangsverwaltungssystemen. Die folgende Tabelle stellt die wesentlichen methodischen Zugänge und die Datensätze der Studie „Kriminalität und Gewalt im Leben alter Menschen„ dar.
Zentrale Befunde
Der positive grundsätzliche Befund der Studie besteht zunächst in der Erkenntnis, dass die subjektive wie objektive Sicherheitslage für die Mehrheit der über 60-Jährigen relativ gut ist. Polizeilichen Daten wie solchen aus Dunkelfeldstudien zufolge weist diese Altersgruppe im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen eine reduzierte Gefährdung durch Kriminalität auf. Zudem wurde deutlich, dass ältere Menschen sich insgesamt nicht in stärkerem Maße als jüngere Erwachsene vor Kriminalität fürchten, jedoch in ihrem Verhalten mehr Vorsicht walten lassen und – auch im Kontext sich im Alter verändernder Lebensstile – weniger Risiken eingehen. Auf einige Befunde wird nachstehend detaillierter eingegangen.
Tab. 1: Methodische Zugänge und Datensätze der Studie „Kriminalität und Gewalt im Leben alter Menschen“
Auswertungen der Polizeilichen Kriminalstatistik: Nach dem auf die Daten der PKS gestützten Kenntnisstand sind Menschen jenseits des 60. Lebensjahres insgesamt deutlich weniger gefährdet, Opfer eines polizeilich registrierten Gewaltdelikts zu werden als jüngere Erwachsene, Heranwachsende oder Jugendliche. In vielen Deliktsbereichen liegen die Viktimisierungsrisiken älterer Menschen sogar unter denen von Kindern. Abbildung 1 stellt Daten der PKS für vollendete Gewaltdelikte und für die Gruppen der 21-59-jährigen sowie der 60-jährigen und älteren Frauen und Männer dar. Ausgewiesen ist die jährliche Zahl der polizeilich registrierten Opfer je 100.000 Personen der jeweiligen Bevölkerungsgruppe.
Abb. 1: Polizeilich registrierte Opfer vollendeter Gewaltdelikte je 100.000 der Gruppe, Bundesrepublik Deutschland 1994-2008 (PKS-Summenschlüssel Gewaltkriminalität - 8920)
Im Unterschied zu Jugendlichen, Heranwachsenden und Erwachsenen vor dem 60. Lebensjahr weisen die polizeilichen Daten im Zeitraum 1993-2008 für Ältere nicht oder nur in geringerem Maße auf einen Anstieg von Opfergefährdungen hin. Vor allem aufgrund der immer noch vergleichsweise hohen – in den letzten Jahren allerdings erfreulicherweise gesunkenen – Belastung älterer Frauen durch Fälle des Handtaschenraubs sind die Geschlechterunterschiede in den polizeilichen Gefährdungsindikatoren insgesamt bei älteren Menschen geringer als in jüngeren Gruppen, wo jeweils – mit Ausnahme der Sexualdelikte – Männer deutlich höhere Viktimisierungsrisiken aufweisen als Frauen. In der PKS dokumentierte Ausnahmen von dem generellen Befund einer geringen Gefährdung im Alter sind neben dem Handtaschenraub die Deliktsbereiche der Misshandlung von Schutzbefohlenen, des Mordes in Verbindung mit Raubdelikten sowie der fahrlässigen Tötung. Die bislang recht grobe Altersdifferenzierung (21-59 J. / 60 J.+) und die Beschränkung von Opferdaten auf Gewaltdelikte begrenzen zugleich die Aussagekraft der PKS-Daten.
Analysen polizeilicher Daten zu auf Täuschungen basierenden Eigentums- und Vermögensdelikten an älteren Menschen: Diesem allgemeinen Trend zu einem Rückgang der Gefährdung mit dem Alter entgegenstehend, gibt es im Bereich der Eigentums- und Vermögenskriminalität Deliktsfelder, in denen gezielt ältere Menschen als Opfer „angesteuert„ werden. Beispiele hierfür sind der so genannte „Enkeltrick„, bei dem eine Verwandtschaftsbeziehung und eine finanzielle Notlage vorgetäuscht und vielfach beträchtliche Summen betrügerisch erbeutet werden sowie zahlreiche Varianten von Trickdiebstählen (etwa „Stadtwerketrick„), bei denen die Täter unter dem Deckmantel einer fingierten beruflichen Identität Zutritt zur Wohnung des Opfers erlangen und dieses ablenken, während in der Regel mindestens ein weiterer Täter die Wohnung nach Bargeld und Wertgegenständen durchsucht.
Zur Analyse dieses spezifischen Deliktsbereiches wurden – in Zusammenarbeit mit der Polizei des Bundeslandes Bremen – polizeiliche Akten sowie Daten aus einem Vorgangsverwaltungssystem analysiert, ferner Interviews mit einigen älteren Opfern geführt. Die erhobenen Daten zeigen, dass im Bereich der Trickdiebstähle ein steiler Anstieg des Viktimisierungsrisikos im höheren Alter und zwar insbesondere jenseits des 80. Lebensjahres zu verzeichnen ist. Betroffen sind vor allem alleinlebende hochaltrige Frauen. Abbildung 2 zeigt das jährliche Opferwerdungsrisiko (Opfer pro 1.000 Einwohner) im Bereich des Trickdiebstahls nach Alter und Geschlecht.
Abb. 2: Opfer von Trickdiebstählen p.a. pro 1.000 Einwohner der jeweiligen Alters- und Geschlechtergruppe (Bremen, 01/2004 – 05/2006; polizeiliche Daten)
Bundesweite Opferwerdungsbefragung in der Altersgruppe 40-85 Jahre: Um über das polizeiliche Hellfeld hinaus Daten zur Altersabhängigkeit von Opferrisiken zu gewinnen, wurde eine bundesweite Opferwerdungsbefragung (Viktimisierungssurvey) in Angriff genommen. Sie richtete sich an Personen der Altersgruppe 40 bis 85 Jahre und wurde Anfang des Jahres 2005 als kombiniert persönlich- mündliche und schriftliche Befragung durchgeführt. Befragt wurden 3.030 Personen, davon 1.464 Männer (48.3%) und 1.566 Frauen (51.7%). 69.5% der Befragten waren 60 Jahre und älter; das Durchschnittsalter aller Befragten lag bei 63.4 Jahren. Die Teilnahmequote der persönlich-mündlichen Interviews betrug 42%; 86% der mündlich Befragten (n=2.602) füllten darüber hinaus einen Fragebogen zu Erfahrungen von Kriminalität und Gewalt durch Familien- und Haushaltsmitglieder aus. Die Daten der bundesweiten Opferwerdungsbefragung ergeben in Bezug auf Menschen zwischen dem 60. und 85. Lebensjahr – hierin in der Tendenz den Daten der PKS vergleichbar – insgesamt ein eher undramatisches Bild.
Opfererfahrungen im Bereich allgemeiner Kriminalität: Die hierzu gestellten Fragen bezogen sich auf 16 Delikte aus dem Bereich der Eigentums-, Vermögens-, Gewalt- und Sexualdelikte und in zeitlicher Hinsicht auf Perioden von 12 Monaten (in diesem Fall das Kalenderjahr 2004), 5 Jahren (den Zeitraum 2000 bis 2004) sowie auf die gesamte bisherige Lebensspanne der Befragten. Der Anteil derjenigen, die innerhalb der letzten 12 Monate von mindestens einem der 16 erfragten Deliktsmuster betroffen waren (12-Monats-Prävalenz), liegt bei Männern wie Frauen in der Gruppe der 40-59-Jährigen etwa doppelt so hoch wie bei den 60-Jährigen und Älteren; Abbildung 3 stellt diesbezügliche Ergebnisse dar.
Abb. 3: Bundesweite Opferwerdungsbefragung zu Gewalt-, Sexual-, Vermögensstraftaten: Opferanteile 2004 (in %) nach Alter und Geschlecht
Handtaschenraub ist das einzige in der Studie erfragte Delikt, von dem Frauen der Altersgruppe 60+ im Vergleich zu Frauen der Altersgruppe 40-59 Jahre deutlich stärker betroffen sind (12-Monats-Prävalenzen 1.1% vs. 0.6%). Auch die aufgrund der Angaben der Befragten ermittelten 5-Jahres-Prävalenzen zeigen insgesamt eine geringere Gefährdung der Älteren. Während 31.8% der Frauen und 30.9% der Männer unter 60 Jahren mindestens eine Opfererfahrung im Verlauf der letzten fünf Jahre berichteten, liegen die entsprechenden Anteile in der Altersgruppe 60+ bei 16.6% (Frauen) bzw. 17.8% (Männer). Abbildung 4 stellt für jeweils fünf Altersjahrgänge die 5-Jahres-Prävalenzen für die Gesamtheit der 16 erfragten Straftaten dar. Es wird deutlich, dass es bei einer solchen querschnittlichen Betrachtung einen nahezu linearen Rückgang des Risikos der Opferwerdung mit dem Alter gibt.
Kriminalitätsfurcht, Sicherheitsgefühl, Vorsichts- und Vermeideverhalten:Die Studie belegt ferner, dass ältere Menschen nicht – wie vielfach angenommen – einfach kriminalitätsängstlicher sind als jüngere Erwachsene. Wie Abb. 5 zeigt, fürchten ältere Menschen sich nicht häufiger, sondern seltener als Jüngere, Opfer einer Straftat zu werden – mit Ausnahme des Handtaschenraubs, wo eine solche Befürchtung jedoch keineswegs als Zeichen von Irrationalität interpretiert werden kann.
Abb. 4: Bundesweite Opferwerdungsbefragung: Gewalt-, Sexual-, Vermögensstraftaten:
5-Jahres-Prävalenzen (2000-2004) nach Alter und Geschlecht
In der Befragung wurde auch erhoben, in welcher Weise Menschen sich vor Kriminalität zu schützen versuchen. Dabei wurde deutlich, dass Befragte jenseits des 60. Lebensjahres deutlich häufiger als Jüngere angeben, Vermeideverhalten zu zeigen, etwa bei Dunkelheit lieber im Haus zu bleiben, als gefährlich empfundene Orte nach Möglichkeit zu meiden, abends keine öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen und nur wenig Bargeld bei sich zu führen.
Ältere Menschen fürchten sich nicht mehr vor Kriminalität als Jüngere. Sie verhalten sich jedoch – auch vor dem Hintergrund mit dem Alter sich verändernder Verhaltensmuster, Lebensstile und Handlungsmöglichkeiten – vorsichtiger und minimieren hierdurch ihr Risiko zumindest im Bereich außerhalb des persönlichen Nahraums.
Abb. 5: Bundesweite Opferwerdungsbefragung: Häufigkeit viktimisierungsbezogener Befürchtungen nach Alter der Befragten
(1 = nie, 3 = manchmal, 5 = sehr häufig)
Opfererfahrungen im sozialen Nahraum: Auch im Hinblick auf – mittels Fragebogen erfasste – Viktimisierungen durch Familien- und Haushaltsmitglieder zeigt sich in der Studie, dass alle erfragten Formen von Opfererfahrungen im Bereich häuslicher Gewalt bei 40-59-Jährigen weiter verbreitet sind als in der Altersgruppe 60+.
Wie Abbildung 6 zeigt, liegen die 12-Monats-Prävalenzen für physische Gewalt durch Familien- und Haushaltsmitglieder in der Altersgruppe 40-59 Jahre mehr als 2.5-mal so hoch wie bei den Älteren. Das Bild wird quantitativ dominiert von psychischer und verbaler Aggression. Während in der Altersgruppe der 60-85-Jährigen etwa jede vierte befragte Person angibt, innerhalb der letzten 12 Monate verbal aggressives Verhalten und andere nicht körperliche Formen von Aggression durch nahe stehende Personen erlebt zu haben, berichten nur relativ wenige ältere Befragte auch über körperliche Gewalt.
Abb. 6: Bundesweite Opferwerdungsbefragung: 12-Monats-Prävalenz psychischer Aggression/physischer Gewalt durch Familien- und Haushaltsmitglieder (in % der Befragten)
Das – insgesamt wenig dramatische - Bild der Opferwerdung im höheren Lebensalter muss auch nach Einbeziehung der Daten dieser großen Dunkelfeldbefragung insofern unvollständig bleiben, als einige besonders verletzbare Teilpopulationen der älteren Generation über derartige standardisierte Surveys kaum erreicht werden. Hierzu gehören insbesondere pflegebedürftige alte Menschen. Die im Folgenden dargestellten Untersuchungskomponenten zielten – zumindest für den Bereich häuslicher Pflegebedürftigkeit – darauf ab, auch Opferrisiken dieser sonst leicht übersehenen Gruppe zu beleuchten.
Interviewstudie in häuslichen Pflegearrangements:
Im Rahmen einer in drei deutschen Regionen durchgeführten qualitativen Interviewstudie wurden in 178 Interviews und 4 Gruppengesprächen 201 Gesprächspartnerinnen und –partner erreicht (32 Pflegebedürftige, 97 pflegende Angehörige, 53 ambulante Pflegekräfte, 19 sonstige Gesprächspartner). Die Interviews bezogen sich auf insgesamt 90 häusliche Pflegearrangements. Im Hinblick auf Handlungsweisen, Motive, Auslöser, Folgen und Kontexte von Fällen der Misshandlung und Vernachlässigung Pflegebedürftiger wurde in den Interviews ein vielschichtiges und heterogenes Geschehen sichtbar. Es wurde deutlich, dass es – mit Blick auf die Entstehungsbedingungen wie auch auf Präventions- und Interventionsmaßnahmen – erforderlich ist, Typen der Viktimisierung Pflegebedürftiger zu unterscheiden. Dabei führen die gebräuchlichen Unterscheidungen zwischen körperlichen und psychischen Formen der Viktimisierung sowie zwischen Misshandlung (d.h. aktivem Tun) und Vernachlässigung (d.h. Nicht-Handeln) nur begrenzt weiter. Eine Aufgliederung von Vorkommnissen lässt sich vornehmen anhand zweier miteinander verknüpfter Merkmale:
(1) Gibt es eine Intention des Täters oder der Täterin, die pflegebedürftige Person zu schädigen?
(2) Wenn eine solche Intention vorhanden ist: Ist sie eng an eine spezifische situative Bedingungskonstellation gebunden oder geht sie hierüber hinaus und ist bei dem Täter / der Täterin auch über Situationen hinweg vorhanden?
Beispiele für Fälle ohne Schädigungsabsicht auf Seiten des Täters oder der Täterin sind die Vernachlässigung einer pflegebedürftigen Person aus Unwissen oder aus völliger Überforderung (teils gepaart mit motivationalen Hemmnissen, Hilfe von Dritten anzunehmen), die Zufügung körperlicher Schmerzen, um den Widerstand einer pflegebedürftigen Person gegen als notwendig erachtete Pflegehandlungen zu überwinden oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit mit dem Ziel, die pflegebedürftige Person dadurch vor Selbst- oder auch Fremdgefährdungen zu schützen. Im Ergebnis handelt es sich hierbei zum Teil um für die Pflegebedürftigen in hohem Maße unangenehme, schädliche oder gefährdende Verhaltensweisen. Ihre Gemeinsamkeit liegt darin, dass das Handeln des jeweiligen Akteurs frei ist von dem Bestreben, der pflegebedürftigen Person Schaden zuzufügen, sie zu verletzen oder in ihrer Integrität zu beeinträchtigen. Das Problematische dieser Verhaltensweisen liegt daher vor allem in ihrem Ergebnis (Beeinträchtigung oder Gefährdung), nicht in dem die Handlung leitenden Motiv.
Abzugrenzen hiervon sind Fälle, in denen in einer emotional aufgeladenen Situation der Wunsch entsteht, die pflegebedürftige Person zu verletzen, zu demütigen, ihr Schmerzen zuzufügen, sie im extremen Fall sogar zu töten. Hierzu gehört etwa der pflegende Ehemann, der von seiner demenzkranken Frau zum wiederholten Male körperlich attackiert wird und sie in einer Art von „überschießender Reaktion„ schlägt oder die Tochter, die sich durch eine Äußerung des pflegebedürftigen Vaters provoziert und gekränkt fühlt und mit Beschimpfungen reagiert. Hier ist im Moment des Handelns tatsächlich eine Schädigungsabsicht vorhanden; diese entsteht aber erst in der konkreten Situation und besteht nicht fort, nachdem die Situation vorüber (und gewissermaßen „abgekühlt„) ist.
Strafrechtlich von besonderer Bedeutung sind jene Fälle, in denen das Handeln des Täters nicht nur situativ, sondern auch darüber hinaus von dem Bestreben geleitet ist, die pflegebedürftige Person zu schädigen, ihr Schmerzen zuzufügen, sie in ihrer Würde, ihrer Identität, ihrem Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen oder sich auf ihre Kosten zu bereichern. Die konkreten Fallgestaltungen sind hier sehr unterschiedlich. Sie umfassen die ambulante Pflegekraft, die sich gezielt ein besonders wehrloses Opfer für eine Gewalttat aussucht ebenso wie die pflegende Angehörige, die vor dem Hintergrund eines langjährigen Beziehungskonfliktes dazu übergeht, die pflegebedürftige Person nicht mehr adäquat zu versorgen.
Schriftliche Befragungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ambulanter Pflegedienste sowie von pflegenden Familienangehörigen: In zwei weiteren Teilstudien wurden insgesamt 503 ambulante Pflegekräfte und 254 pflegende Familienangehörige schriftlich befragt. Beide Befragungen zeigen, dass problematisches Verhalten gegenüber älteren Pflegebedürftigen nicht auf Einzelfälle beschränkt bleibt. So berichteten 39.7% der befragten Pflegekräfte für den Zeitraum der letzten 12 Monate wenigstens eine Form kritischen Verhaltens gegenüber Pflegebedürftigen. Formen verbaler Aggression und psychischer Misshandlung wurden am häufigsten angegeben (21.4% der Befragten). Weit verbreitet waren auch pflegerische (18.8%) bzw. psychosoziale Vernachlässigung (16.0%). Problematische Formen mechanischer bzw. medikamentöser Freiheitseinschränkung wurden von 9.6 bzw. 3.8% der Befragten berichtet. 8.5% aller Befragten haben nach eigenen Angaben mindestens einmal in den vergangenen zwölf Monaten eine pflegebedürftige Person in einer Weise behandelt, die – zumindest bei weiter Interpretation des Begriffs – als körperliche Misshandlung betrachtet werden kann. Dabei handelt es sich überwiegend um „grobes Anfassen„, also eher nicht um massive Formen physischer Gewalt. In der Gruppe befragter pflegender Angehöriger war psychische Misshandlung Pflegebedürftiger und verbale Aggression ihnen gegenüber mit einer 12-Monats-Prävalenz von 47.6% am weitesten verbreitet. Formen physischer Misshandlung berichten für einen Zeitraum von 12 Monaten 19.4% der befragten Angehörigen.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Die hier nur in Auszügen darstellbare Studie hat gezeigt, dass – nach allen vorliegenden Informationen – die objektive wie subjektive Sicherheitslage der Mehrheit der älteren Generation gut ist. Ältere Menschen werden seltener Opfer von Straftaten als jüngere, verhalten sich vorsichtiger und fühlen sich durch Kriminalität nicht übermäßig bedroht.
Zugleich ist deutlich geworden, dass es Bereiche besonderer Gefährdung gibt. Hierzu zählen insbesondere mit Täuschungen verknüpfte Eigentums- und Vermögensdelikte, bei denen die Täter es gezielt auf ältere Menschen abgesehen haben. Prävention kann in diesem Bereich in erster Linie durch Beseitigung bzw. Einschränkung von Tatgelegenheiten erfolgen. Gefährdete Personen können durch gezielte Aufklärung geschützt werden. Prävention sollte – soweit sie sich direkt an die potenziellen Opfer richtet – frühzeitig, jedenfalls vor dem Erreichen des hohen Alters einsetzen, um Ansprechbarkeit und Erreichbarkeit zu optimieren. Prävention bedarf zudem der Einbeziehung von Personen und Institutionen, die im Hinblick auf Gefährdungen Älterer Schutzfunktionen übernehmen können (z.B. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Banken). Sie sollte neben Kriminalität im engeren Sinne auch systematisch auf Ältere ausgerichtete unseriöse Geschäftspraktiken in den Blick nehmen; als Akteure kommen hier neben der Polizei vor allem Ordnungsbehörden und Verbraucherschutzeinrichtungen in Betracht.
Zu den Bereichen besonderer Gefährdung zählt auch der Komplex der Misshandlung und Vernachlässigung pflege- und hilfebedürftiger älterer Menschen. Hier zeigen sich im Hinblick auf Erkennbarkeit und Interventionsmöglichkeiten besondere Problemlagen. Während sich Gefährdungen im so genannten „dritten Lebensalter„ (d.h. etwa bei den 60-80-Jährigen, die heute ganz überwiegend nicht auf Pflege angewiesen sind) auf der Basis der vorhandenen Dunkel- wie Hellfelddaten inzwischen recht verlässlich quantifizieren lassen, bestehen in Bezug auf Hochaltrige und Pflegebedürftige Unschärfen. Hohes Lebensalter, Krankheit, Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit gehen tendenziell mit erhöhter Anfälligkeit gegenüber etwaigen Viktimisierungsversuchen einher, ferner mit einer reduzierten Fähigkeit, im Falle der Opferwerdung Anzeige zu erstatten oder sich in anderer Weise selbst um Hilfe und Abhilfe zu bemühen. Da hochaltrige und pflegebedürftige Menschen außerdem eher selten in große sozialwissenschaftliche Bevölkerungsbefragungen einbezogen werden, ist davon auszugehen, dass sowohl die PKS als auch einschlägige Studien die realen Viktimisierungsrisiken in dieser Lebensphase nur sehr beschränkt abbilden können. Abbildung 7 stellt die Zusammenhänge schematisch dar.
Abb. 7: Bedeutsamkeit von Pflegebedürftigkeit/Gebrechlichkeit für Tatfolgen, Tatentdeckungswahrscheinlichkeit und Erreichbarkeit für opferbezogene Forschung
Im Hinblick auf Opferwerdungen Pflegebedürftiger stehen Wissenschaftler wie Strafverfolger somit vor ähnlichen Erkenntnisproblemen. Das Deliktsfeld kann polizeilich sinnvoll nur in Kooperation mit anderen Professionen und Institutionen bearbeitet werden.
Die Diskussion der Ergebnisse der Interviewstudie hat deutlich gemacht, dass etwa im familiären Umfeld in vielen Fällen eine strafrechtliche Intervention dem Unrechtsgehalt der Tat kaum angemessen wäre – und zudem unmittelbar die Frage einer stationären pflegerischen Versorgung nach sich ziehen könnte. Im Hinblick auf die Gestaltung von Prävention und Intervention ist sehr deutlich zwischen unterstützenden, entlastenden, beratenden Maßnahmen auf der einen Seite (im Hinblick auf Fälle der Viktimisierung durch „prinzipiell gutwillige„ Pflegende) und kontrollierenden und sichernden Maßnahmen auf der anderen Seite zu differenzieren. Pflegende sind in vielfacher Hinsicht belastet, Be- und Überlastung können risikoerhöhende Faktoren sein. Ein Ansatz, der – wie es auch in der fachöffentlichen Diskussion oft getan wird – „Gewalt in der Pflege„ in erster Linie oder gar ausschließlich auf Belastungen zurückführt und dementsprechend Entlastung als den zentralen (oder gar alleine hinreichenden) Mechanismus der Prävention sieht, greift zu kurz. Aufgrund der in der Regel stark eingeschränkten Hilfesuchmöglichkeiten von Pflegebedürftigen sollte die Option proaktiver, zugehender Elemente in der Gestaltung von Hilfeangeboten stets vorrangig geprüft werden. Einer Optimierung der Zusammenarbeit zwischen relevanten Berufsgruppen, Institutionen und Organisationen kommt große Bedeutung zu. Hierzu gehört insbesondere eine intensivere Kooperation zwischen Akteuren des Gesundheits-, Pflege- und Altenhilfesystems, kommunalen und freigemeinnützigen Beratungs- und Kriseninterventionsstrukturen sowie Polizei und Justiz.
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Studie fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend derzeit ein von der Deutschen Hochschule der Polizei (Münster) koordiniertes Aktionsprogramm „Sicher leben im Alter„. Ausgehend von der Position, dass Prävention sich auf spezifische „Gefahrenzonen„ des höheren Lebensalters konzentrieren sollte, werden im Rahmen des Aktionsprogramms u.a. Schulungen mit ambulanten Pflegekräften und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von Banken durchgeführt, um sie zu befähigen, Gefährdungslagen älterer Menschen besser zu erkennen und professionell darauf zu reagieren. Eine aus dem Programm erwachsene Broschüre (GÖRGEN, 2009) informiert Seniorinnen und Senioren und deren Angehörige über Gefährdungen im Bereich betrügerischer Delikte.
Literatur
Görgen, T. (2009). „Rate mal, wer dran ist?„ So schützen Sie sich vor Betrügern und Trickdieben. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
GÖRGEN, T. (Hrsg.) (2010). Sicherer Hafen oder gefahrvolle Zone? Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben alter Menschen. Frankfurt a.M.: Verlag für Polizeiwissenschaft.GÖRGEN, T., HERBST, S., KOTLENGA, S., NÄGELE, B. & RABOLD, S. (2009). Kriminalitäts- und Gewaltgefährdungen im Leben älterer Menschen - Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse einer Studie zu Gefährdungen älterer und pflegebedürftiger Menschen. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
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