Polizeiphilosophie

Polizeiliche Traditionspflege?

Von Dr. Alfred Stümper, Landespolizeipräsident i.R., Waldenbuch

Dr. Alfred Stümper


Das Landespolizeipräsidium Baden-Württemberg hat einen Arbeitskreis eingesetzt, der sich mit Fragen einer polizeilichen Traditionspflege beschäftigt.Man mag sich spontan die Augen reiben: was soll das in unserer Zeit? Alte Zöpfe neu beleben? Natürlich nicht. Aber wir blicken nun schon auf eine eigene, über 50 Jahre alte gute demokratische Polizeiarbeit zurück, im Grunde auf eine „junge Vergangenheit“, in der sehr gute polizeiliche Arbeit geleistet wurde, in der Kolleginnen und Kollegen immer wieder auch in schwierigen Lagen volle Einsatzbereitschaft, Umsicht, Gesetzestreue und Fingerspitzengefühl gezeigt haben. Dennoch kann man sich allen Ernstes fragen, ob man sich angesichts der heutigen vielfältigen Belastung der Polizei für eine solche Aufarbeitung polizeilicher Vergangenheit überhaupt Zeit nehmen und dabei vielleicht sogar noch in nostalgisch, romantische Erinnerungen an die „gute alte Zeit“ verfallen darf .


Genau um das Gegenteil geht es jedoch – um die Zukunft!

Denn:

Angesichts der vielen, teils sprunghaften Entwicklungen in unserer Zeit muss man mit Sorgfalt, ja auch mit Sorgen in die polizeiliche Zukunft sehen: Es wird eine völlig andere Aufgabenkonstellation – man spricht heute von „Sicherheits-architektur“ – auf uns zukommen, die in besonderer Weise ein starkes inneres Gefüge und eine wertmäßige untermauerte berufliche Eigenpositionierung der Polizei erfordern wird. Die Unfriedlichkeiten und Gefahren für die Bevölkerung werden sich mehr und mehr von außen nach innen verlagern. Konventionelle Kriege im althergebrachten Sinne wird es immer weniger geben. Die Fronten werden immer mehr durch die Bevölkerung gehen – sozial, kulturell, ethnologisch, ideologisch und religiös (vgl. meine Abhandlung in Die Kriminalpolizei, Heft 3/5). Die bisherigen staatlichen Sicherheitsinstrumentarien werden weitgehend umgebaut, umstrukturiert und auftragsmäßig neu orientiert werden müssen. So orientiert sich derzeit auch die Bundeswehr völlig um, es ist nicht mehr der große Krieg an den eigenen Fronten, sondern es sind neue Lagen bei Konflikten im Ausland. Es werden „Battle Groups“ geschaffen. Die Ausbildung umfasst Checkpointsicherung, Objekt- und Personenschutz, Streifengänge, Knieschüsse usw. – also nicht mehr nach der alten Methode „Ich schieß, spring du!“ eines überkommenen Angriffs- oder Verteidigungskriegs.

II
Dadurch können einmal sehr ernst zu nehmende Überschneidungen in der Auftragserteilung und im Einsatz zwischen Polizei und Militär und damit auch neue Kompetenzkonfliktsfelder entstehen, die man nüchtern sehen und auf die man sich vorbereiten muss. Vor allem seien hier drei Problembereiche ange-sprochen:

Die Abgrenzung zur militärischen Zuständigkeit

Natürlich überwiegen im politischen Raum immer noch die Stimmen, die einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren ablehnen. Indes habe ich Zweifel, ob sich diese derzeit weitgehend theoretische Entscheidung dann, wenn es an allen Ecken und Enden brennt, durchhalten lässt – zumal die Bundeswehr derzeit schon in Auslandseinsätzen praktisch polizeiliche Aufgaben wahrnimmt, sich darauf auch insoweit vorbereitet und gewisse Erfahrungen sammelt. Zudem erlebt man weltweit in den verschiedensten Fallkonstellationen, dass letztlich im Ernstfall immer wieder auf das Militär zurückgegriffen wird, auch bei an sich auftrags- und ausbildungsmäßig fremden Aufgaben. Das Militär hat nun einmal in der allgemeinen Meinung den Nimbus des Stärkeren. Dazu kommt, dass das Militär in die alleinige Bundeskompetenz fällt, zentral organisiert ist und zentral geführt werden kann. Schließlich muss man sehen, dass politisch und publizis-tisch der Bund nicht nur der „Größere“ und von der Größenordnung her leis-tungsfähigere ist, sondern – und dieses Vorurteil ist politisch, publizistisch und auch in der Bevölkerung weit verbreitet – damit zugleich auch als der „Bessere“ gilt, dem man die schwierigeren Aufträge überlassen soll.

Bei der Bereinigung innerer Spannungen und eventuell auch größerer Unruhen kommt es nun letztlich nicht etwa darauf an, wer welche Einzelaufgaben im taktischen Bereich zu übernehmen hätte, sondern ganz entscheidend darauf, welche Gesamtstrategie verfolgt wird.
Diese indes muss unbedingt der obersten polizeilichen Maxime einer Befriedung folgen und solange, wie nur irgendwie möglich, durchgehalten werden. Die generelle militärische Behauptungs- und Durchsetzungsstrategie des „Siegens“ darf immer nur die ultima ratio sein.


Auftragsverteilung zwischen Länderpolizei und Bundespolizei

Auch hier ist die Meinung, dass der „Größere“ zwangsläufig der „Bessere“ sei, weitgehend verbreitet. So ist immer wieder in kritischeren Lagen aus der Bevölkerung der Ruf nach dem Bund zu vernehmen, von der GSG 9 über das BKA bis zu neuen zentralen Sicherheitseinrichtungen unter Bundeskompetenz. Ich will hier keineswegs – vor allem nicht in unserer zunehmend sich internationalisierenden Welt – einer polizeilichen Kirchturmspolitik das Wort reden. Mankann eine Polizei zentral und dezentral organisieren. Beides hat Vor- und Nachteile. Um diese Frage geht es hier letztlich jedoch nicht. Es geht vielmehr um klare Verhältnisse, klare Aufgabenzuweisungen und vor allem klar und einfach geregelte Befehlsstrukturen. Seit Jahren wird nun die Zuständigkeit der Länderpolizeien mehr und mehr, gewissermaßen schleichend, ausgehöhlt – was von den Finanzministern der Länder gar nicht so ungern gesehen wird. Mehr und mehr entstehen so konkurrierende Zuständigkeiten. Angesicht dieser Entwicklung, die auch an den Artikeln 30, 91 und 87 a des Grundgesetzes völlig vorbei läuft, muss man operativ ganz besonders darauf achten, dass dadurch kein planerischer und insbesondere auch kein einsatzmäßiger Durcheinander entsteht.

Bei all dem ist in psychologischer und motivationsmäßiger Hinsicht von aus-schlaggebender Bedeutung, dass die Polizei in der Bevölkerung nicht als Fremdkörper empfunden wird, dass also in besonders kritischen Lagen nicht „fremde“ Einheiten „einmarschieren“, sondern diese Lagen möglichst durch die „eigenen Schutzleute“ bereinigt werden. Das Verhalten der Bevölkerung, ihre Unterstützungsbereitschaft und eine von grundsätzlicher Sympathie getragene Grundeinstellung sind gerade in kritischen Situationen entscheidend. Als mehrjähriger Polizeipräsident einer kommunalen Polizei habe ich das sprunghafte Ansteigen der inneren Spannung in heiklen Lagen miterlebt, wenn plötzlich Einheiten „von außen“ zum Einsatz kamen.


Verstärkter politischer und publizistischer Druck

Schließlich wird der politische und vor allem auch der publizistische Druck immer größer je schwieriger und brisanter eine Lage ist. Es werden Wunder erwartet, es wird nach Pannen gesucht, es werden Patentrezepte angeboten, es werden echte oder nur vermeintliche Fehlleistungen aufgewärmt, es wird verun-sichert, es wird kritisiert, beschimpft – was alles durchaus in den Kompetenzbereich einer freien Medienlandschaft gehört und zu respektieren ist. Und immer wieder werden auch Maßnahmen, beispielsweise im Informationsbereich, angemahnt, die oftmals zuvor von der gleichen Seite her mit Nachdruck verurteilt und verhindert wurden. Die Polizei darf sich aber gerade in solch schwierigen Lagen von all den Quereinflüssen nicht irritieren lassen, sondern muss unbeirrt, mit Umsicht und Entschlossenheit handeln – selbst wenn der einzelne Kollege nach einem schweren Einsatz dann auch noch zu Hause von der eigenen Familie und den Nachbarn kritisch abgefragt wird.

Es gilt also bei aufkommenden, beson-ders brisanten Lagen besonders – modern gesprochen – cool zu bleiben. Dazu muss und kann man sich Kraft aus der Vergangenheit holen, aus vielen heiklen Einsätzen und Vorkommnissen, die Kolleginnen und Kollegen vor einem in ebenfalls schwierigen Einsätzen und heiklen Lagen gemeistert und die sie durchgehalten und unbeirrt durchgestanden haben. In den unterschiedlichsten Situationen, in denen sich die immer noch gültigen und vielleicht eines Tages noch wichtiger werdenden polizeilichen Tugenden wie Einsatzbereitschaft, Zuverlässigkeit, Gesetzestreue, Pflichtbewusstsein, Eigenverantwortung, Unbestechlichkeit, politische Neutralität, Menschlichkeit, Bürgernähe, Durchhaltevermögen, Geduld, Mut und noch viele mehr bewährt haben. Das daraus resultierende Bewusstsein einer Eingebun-
denheit in die Generation einer guten und belastbaren demokratischen Polizei gibt beruflich eigenständige Kraft, man ist – historisch gesehen – nicht allein, sondern in einer guten, einen selbst verpflichtenden, aber auch tragenden Tradition eingebunden. Gerade dies macht die Polizei – dies ist von eminenter Bedeutung für die Sicherheit unserer Bevölkerung in schwierigen Zeiten – trittsicher auf dem Weg in die Zukunft.

III

Noch ein Wort zum Thema äußere Zeichen traditioneller Eingebundenheit

In der Bundesrepublik ist – wohl als Reaktion auf eine Zeit, in der entsprechende Rituale weit überzogen und missbraucht worden sind – eine besonders hohe Sensibilität gegenüber entsprechenden traditionellen Äußerlichkeiten festzustellen. Man hat dem Rechnung zu tragen. Es würde dem Anliegen einer zeitgemäßen Traditionspflege nur schaden, wollte man verstaubte Rituale konservieren oder gar restaurieren. Jedoch sollte man entsprechende Vorbehalte auf ein vernünftiges Maß zurückführen. Man muss erkennen, dass hinter entsprechenden äußeren Zeichen sich sehr viel verbergen kann, und dass es bei weitem hier nicht um bloße wirtschaftliche Werbemethoden geht, um Logos, Slogans und was hier sonst sich noch auf dem Markt befindet. Es geht vielmehr um ein oft weit in die Geschichte zurückreichendes und nur von daher zu deutendes und verstehendes Geschehen. Als Beispiel sei hier an die Standarte erinnert. Diese war nicht nur eine Fahne, mit der man aufmarschiert ist und sich geschmückt hat, sondern sie bedeutete viel mehr. In früheren Zeiten eines Schlachtgetümmels kam es darauf an, den Kämpfenden zu zeigen, wo die eigenen Leute stehen. Standarte kommt nämlich etymologisch von Standort. In unsere moderne Zeit übersetzt bedeutet dies, dass wir unseren inneren beruflichen Standort wieder deutlich machen sollen – vielleicht auch einmal mit einem Zeichen, das nicht etwa Werbewirkung entfalten soll, sondern eine innere, ja verpflichtende Aussagekraft hat.
Ich will nun bei Gott nicht etwa der Polizei von heute eine Standarte verpassen. So etwas darf nie etwas Aufgesetztes sein. Es muss einfach einmal von unten, aus der Beamtenschaft, aus Erlebtem und Erlittenem heraus wachsen. Am Rande sei gesagt: ich könnte mir vorstellen, dass die nun neu als Bundespolizei in Erscheinung tretenden Kolleginnen und Kollegen eher das Bedürfnis zu einer auch äußeren Darstellung ihres inneren Selbst- und Berufsverständnisses haben werden – vielleicht mit einer Flagge in den Farben der Bundesrepublik mit einem polizeilichen Signum – , als Länderpolizeien. Jedenfalls gilt, dass zunächst ein echtes Traditionsverständnis und daraus resultierend auch ein echtes Traditionsbedürfnis entstehen muss, bevor man auch äußere Zeichen, gleich wie sie sind, schafft; so etwas muss im Herzen des einzelnen Beamten wachsen und ihm innerlich etwas sagen und auch mitgeben. Dafür ist für uns die Zeit noch nicht gekommen.

Demgegenüber ist es jedoch absolut zeitgemäß, im Auftreten und im äußeren Erscheinungsbild dem beruflichen Anspruch – ich würde auch sagen Ethos – gerecht zu werden und so in die Öffentlichkeit und auch in die Herzen unserer Beamtinnen und Beamten das Signum, sprich: das Bild, einer jungen, modernen demokratischen Polizei zu tragen. Mit dieser Frage sollte man sich deshalb auch schon jetzt befassen und sie nicht etwa als vermeintlich heikel immer wieder ängstlich vor sich herschieben.