Aus der Rechtsprechung
WICHTIGE BGH- ENTSCHEIDUNG
Wolfgang Jörg
Der polizeiliche Schusswaffengebrauch in Notwehr
1. Vorbemerkung
Die Voraussetzungen des polizeilichen Schusswaffengebrauchs sind in den Polizeigesetzen der Länder sehr detailliert beschrieben. Als ultima ratio des unmittelbaren Zwangs ist der Gebrauch der Schusswaffe naturgemäß an sehr enge Voraussetzungen geknüpft.
Im Zusammenhang mit den ersten Geiselnahmen, die unter Einsatz von Schusswaffen beendet wurden (u.a. Fall „Rammelmeier“), stellte sich die Frage nach der Legitimation dieses Vorgehens. Mangels spezieller Regelungen in den Polizeigesetzen stellten die Staatsanwaltschaften die Verfahren über die Vorschrift der Nothilfe (geleistet zugunsten der Geiseln) ein. Bei den Vorarbeiten zu einem einheitlichen Polizeigesetz der Länder, die in den siebziger Jahren zum „Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes“ führten, wurde insbesondere auch die Frage diskutiert, ob für den im Dienst befindlichen und hoheitlich handelnden Polizeibeamten ein Rückgriff auf die straf- und zivilrechtlichen Notwehrrechte überhaupt zulässig sei. Eine breite Meinung im Schrifttum verneinte dies, u.a. mit der Begründung, dies führe zu einer nicht vertretbaren Erweiterung der Befugnis zum Schusswaffengebrauch. So könne der Polizeibeamte, der einen Einbrecher oder Dieb auf frischer Tat antreffe, den flüchtenden Täter mit der Schusswaffe zum Anhalten zwingen, wenn er dies damit begründe, dass er in Nothilfe für das bestohlene Opfer handeln wollte, um diesem das Stehlgut wieder zu beschaffen. Nach den öffentlich-rechtlichen Schusswaffengebrauchsbestimmungen wäre der Schusswaffengebrauch unzulässig gewesen. Die Verfasser des „Musterentwurfs“ sahen diese Problematik sehr wohl, nahmen aber in § 35 Abs. 2 trotzdem den Notrechtsvorbehalt auf. In der Begründung wird darauf hingewiesen, dass Sinn dieser Regelung vor allem sein soll, dem Polizeibeamten bei Überschreitung der Grenzen der Befugnisse nach Polizeirecht den Schutz z.B. des § 32 StGB zu erhalten, was allerdings eine evtl. disziplinarrechtliche Ahndung nicht ausschließt. In der Folgezeit wurde der „Musterentwurf“ mindestens in Teilen in die neuen Landespolizeigesetze übernommen. Der nachfolgend besprochene Fall ereignete sich im Lande Thüringen, wo in § 58 Abs. 2 Polizeiaufgabengesetz die Formulierung des „Musterentwurfs“ übernommen wurde: „Die zivil- und strafrechtlichen Wirkungen nach den Vorschriften über Notwehr und Notstand bleiben unberührt.“
Es wäre auch völlig unverständlich, wenn man dem Polizeibeamten im Dienst das Recht, sein Leben und seine Gesundheit zu verteidigen, nur im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Schusswaffengebrauchsvorschriften zubilligen würde.
2. Die BGH-Entscheidung
BGH, Urteil vom 30. Juni 2004 – 2 StR 82/04 (LG Mühlhausen), veröffentlicht u.a. in NStZ 2005, 31
2.1 Der Sachverhalt:
Nach den Feststellungen hielt sich der später getötete B am Abend des 27.8.2002 im Klubhaus in N. auf. Im Verlaufe des Abends nahm er Alkohol und Kokain zu sich, wobei ihm der Alkoholkonsum äußerlich so gut wie nicht anzumerken war. B. verließ das Klubhaus am frühen Morgen des 28.7.2002 gemeinsam mit M. An der Ecke T-Straße/A. warfen sie Geld in einen Zigarettenautomaten, der jedoch keine Zigaretten ausgab. Verärgert schlugen beide jeweils mit einer lose herumliegenden Gehwegplatte auf den Automaten ein. Wegen des dadurch entstandenen Lärms riefen unabhängig voneinander zwei Zeugen um 04.27 Uhr bei der Polizei an und meldeten, dass Personen dabei seien, einen Automaten aufzubrechen.
Der Angeklagte, Polizeiobermeister bei der Polizeiinspektion N., und die Polizeiobermeisterin L wurden daraufhin mit ihrem Streifenwagen zum Tatort geschickt. B und M versuchten, sich hinter einem Bierwagen zu verstecken. Der Angeklagte und POM’in L näherten sich dem Bierwagen von der anderen Seite, wobei POM’in L laut rief „Halt, stehen bleiben, Polizei!“ Während M hinter dem Bierwagen von POM’ in L festgenommen wurde, entwand sich B dem Griff des Angeklagten und schlug in Kopfhöhe auf ihn ein. Der Angeklagte wich wegen der Schläge etwas zurück und forderte B auf, sich hinzulegen. B lief indes über eine Terrasse zwischen Tischen und Stühlen in Richtung T-Straße davon, wobei er an einem der angeketteten Stühle zerrte. Der Angeklagte glaubte, B wolle mit dem Stuhl gegen ihn vorgehen und zog sein Pfefferspray aus dem Koppel. B fragte, „Willst Du mich erschießen?“.
Wegen des Abstandes und der Bewegung, in der sich beide befanden, hatte das eingesetzte Pfefferspray keine nennenswerte Wirkung.
Am Ende der Terrasse lagerte eine Palette Pflastersteine, links davon lag ein ungeordneter Haufen dieser Pflastersteine mit einem Gewicht von jeweils etwa drei Kilogramm. B nahm mindestens einen dieser Pflastersteine auf und warf ihn in Richtung des Kopfes des Angeklagten, der ihm in einer Entfernung von drei bis vier Metern gegenüberstand. Aufgrund dieses Wurfes zog der Angeklagte seine Dienstwaffe und führte sie nach oben, um einen Warnschuss abzugeben. B warf in diesem Augenblick mit großer Wucht einen zweiten Stein nach dem Angeklagten, der seinen Kopf nur knapp verfehlte, und drehte sich erneut nach hinten, um einen dritten Stein aufzuheben. Der Angeklagte erkannte, dass ihm durch die Würfe eine erhebliche Gefahr drohte, zog die Waffe nach unten, um B in die Beine zu schießen und betätigte den Abzug der nicht vorgespannten Waffe. Der Schuss traf den sich gerade bückenden B 81 cm über dem Boden in den Rücken und eröffnete die Aorta vollständig, so dass B innerhalb kurzer Zeit verblutete. Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen. Die Revisionen der Nebenkläger und die der Staatsanwaltschaft blieben ohne Erfolg.
2.2 Der LeitsatzIm Falle eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Polizeibeamten hängt die Frage, inwieweit dieser sich verteidigen
darf, insbesondere nicht davon ab, welches Rechtsgut zuvor von dem Angreifer verletzt worden ist. Das zulässige Maß der erforderlichen Verteidigung i.S. des § 32 StGB wird auch hier durch die konkreten Umstände des Angriffs bestimmt, insbe-sondere durch die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und durch die dem Angegriffenen zur Verfügung stehenden Abwehrmittel.
2.3 Die Begründung
2.3.1 Bewertung des Geschehens
Der BGH: „Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung stand. Die Würdigung der erhobenen Beweise ist Sache des Tatrichters. Sie ist vom Revisionsgericht grundsätzlich hinzunehmen, auch wenn auf der Grundlage des Beweisergebnisses eine abweichende Überzeugungsbildung möglich gewesen wäre oder sogar näher gelegen hätte. Das Revisionsgericht kann nur dann eingreifen, wenn die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft ist, etwa weil sie gegen Denkgesetze oder gesichertes Erfahrungswissen verstößt oder in sich widersprüchlich oder lückenhaft ist. Ein derartiger Rechtsfehler wird von den Beschwerdeführern nicht aufgezeigt und ist auch sonst nicht ersichtlich. Der von der Nebenklägerin behauptete Widerspruch zwischen den Zeugenaussagen und der Einlassung des Angeklagten besteht nicht. Die Zeugen E und K haben ein schnelles Ziehen, Zielen und Schießen bekundet, wobei sie ein Zielen mit ausgestrecktem Arm als Gegensatz zu einem Schießen aus der Hüfte bejaht haben. Diese Bekundung lässt sich mit der Einlassung des Angeklagten, er habe die Waffe zunächst nach oben geführt, um einen Warnschuss abzugeben, durchaus vereinbaren. Auch hinsichtlich der Würdigung des Landgerichts, B habe sich im Momet der Schussabgabe gebückt, zeigt die Revision keinen Fehler der Beweiswürdigung auf. Die im Urteil in Bezug genommenen Lichtbilder Nr. 7 und 8 weisen im Gegensatz zum Revisionsvorbringen aus, dass die Leiche des B mit den Füßen unmittelbar neben losen Pflastersteinen lag.“
2.3.2 Bewertung des Verteidigungsmittels
Der BGH weiter:
„Nicht zu beanstanden ist auch die Wertung des Tatrichters, dem Angeklagten habe im Moment des rechtswidrigen Angriffs kein erfolgversprechendes milderes Mittel zur Abwehr der Gefahr zur Verfügung gestanden. Angesichts der lebensgefährlichen Steinwürfe brauchte sich der Angeklagte auf das Risiko eines Warnschusses oder einfachen körperlichen Zwangs nicht einzulassen. Er durfte sich vielmehr so wehren, dass die Gefahr sofort und endgültig gebannt war und zu diesem Zweck auch die Schusswaffe einsetzen, wenn auch nur in einer Art und Weise, die Intensität und Gefährlichkeit des Angriffs nicht unnötig überbot.
Nach allgemeinen notwehrrechtlichen Grundsätzen ist der Angegriffene berechtigt, dasjenige Abwehrmittel zu wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet; unter mehreren Abwehrmöglichkeiten ist er auf die für den Angreifer minder einschneidende nur dann verwiesen, wenn ihm Zeit zur Auswahl sowie zur Abschätzung der Gefährlichkeit zur Verfügung steht und die für den Angreifer weniger gefährliche Abwehr geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig auszuräumen. Diese Voraussetzungen hat das Landgericht hier mit fehlerfreier Begründung verneint. Soweit die Staatsanwaltschaft in ihrer Revisionsbegründung bemängelt, der Tatrichter habe sich insoweit nur auf Vermutungen gestützt, zeigt auch sie keine Tatsachen auf, die belegen, dass ein Warnschuss und ein Zurückweichen des Angeklagten um einige Schritte den Angriff beendet hätten.“
2.3.3 Flucht vor dem Angriff?
„Dem Angeklagten konnte auch nicht angesonnen werden, vor dem Angriff des B zurückzuweichen. Das Gesetz verlangt von einem rechtswidrig Angegriffenen nur dann, dass er die Flucht ergreift oder auf andere Weise dem Angriff ausweicht, wenn besondere Umstände sein Notwehrrecht einschränken, beispielsweise wenn er selbst den Angriff leichtfertig oder vorsätzlich provoziert hat. Etwas anderes gilt auch nicht für Polizeibeamte. Die hier einschlägigen Bestimmungen des thüringischen Polizeiaufgabengesetzes schränken das individuelle Notwehrrecht nicht ein (§ 58 II). Im Falle eines gegenwärtigen rechtswidrigen Angriffs auf Leib und Leben eines Polizeibeamten hängt die Frage, inwieweit dieser sich verteidigen darf, insbesondere nicht davon ab, welches Rechtsgut zuvor von dem Angreifer verletzt worden ist. Das zulässige Maß der erforderlichen Verteidigung i.S. § 32 II StGB wird auch hier durch die konkreten Umstände des Angriffs bestimmt, insbesondere durch die Stärke und Gefährlichkeit des Angreifers und durch die dem Angegriffenen zur Verfügung stehenden Abwehrmittel. Das Notwehrrecht einschränkende besondere Umstände lagen hier nicht vor. Der Angeklagte durfte deshalb einen Schuss auf die Beine des sich nach einem weiteren Pflasterstein bückenden Angreifers richten, um diesen kampfunfähig zu machen. Die durch das Verreißen der Waffe bewirkte, an sich geringfügige Abweichung des Schusses vom gewollten Ziel, welche durch die Bewegung des Geschädigten zu einer tödlichen Verletzung geführt hat, verwirklicht das mit der Notwehrhandlung verbundene typische Risiko und ist daher von der Rechtfertigung umfasst.
3. Schlussbetrachtung
Wieder mal eine der BGH-Entscheidungen, die zeigen, dass auch im höchsten deutschen Strafgericht der gesunde Menschenverstand in der Rechtsfindung nicht außen vorbleibt. Über Situationen zu richten, die in der Praxis in Sekunden entschieden werden müssen, ist sicherlich nicht ganz einfach. Dass mit der Rechtfertigung eines solchen Schusswaffengebrauchs durch Notwehr nun eine Vielzahl von Polizeibeamten dazu verleitet werden könnten, den vom Gesetz vorgegebenen Rahmen für den Schusswaffengebrauch beliebig zu erweitern, ist wohl kaum zu erwarten. Dass aber in Extremfällen auch der Polizeibeamte das Recht hat, sein Leben und seine Gesundheit wie jeder andere Bürger notfalls auch mit der Schusswaffe zu verteidigen, wurde in erfreulicher Deutlichkeit klargestellt.
Geradezu absurd wäre es, den Rahmen der zulässigen Verteidigung an der Schwere der Vortat zu messen. Dann wäre wohl Notwehr ausgeschlossen, wenn ein wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit angehaltener Fahrzeugführer „ausrastet“ und z.B. mit dem Messer oder einer anderen Waffe auf den Kontrollbeamten losgeht.
Gut, dass auch hier der BGH eine deutliche Aussage getroffen hat.
Wolfgang JörgPolizeidirektor a.D.
I. STRAFRECHT
Sexuelle Nötigung unter Ausnutzung einer schutzlosen Lage
GG Art. 103 II; StGB §§ 177 I Nr. 3, 240 I
Die Auslegung der Vorschrift des § 177 I Nr. 3 StGB dahin, dass sich die Nötigung in der Vornahme der sexuellen Handlung gegen den Willen des Opfers erschöpfe, wenn sich dieses in einer schutzlosen Lage befinde und der Täter dies zur Tat ausnutze, verstößt nicht gegen das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 II GG (Leits. d. Schriftltg.)
BVerfG – 3. Kammer des 2. Senats, Beschl. v. 1.7.2004 – 2 BvR 568/04
Zum Sachverhalt:
Die Verfassungsbeschwerde gegen die Urteile des BGH vom 28.1.2004 (2 StR 351/03) und des Landgerichts Bonn vom 11.4.2003 (22 H 1/03) betraf die Auslegung des Tatbestandes der sexuellen Nötigung in der Begehungsalternative des Ausnutzens einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist (§ 177 I Nr. 3 StGB). Die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.
NStZ 2005, 30
Anmerkung des Bearbeiters:
Die vor dem BVerfG angefochtene BGH-Entscheidung ist in DIE KRIMINALPOLIZEI, Heft IV/2004 auf Seite 130 dargestellt.
Sexuelle Nötigung gegenüber einer Prostituierten; schwerer Menschenhandel
StGB §§ 177, 181 I Nr. 1
1. Die Strafvorschrift des § 177 StGB kann auch gegenüber einer Prostituierten erfüllt werden, wenn bestimmte einzelne sexuelle Handlungen als Folge der Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben festgestellt werden.
2. Wird die Prostitution – freiwillig – ausgeübt, ist es nach der Rechtsprechung des BGH für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 181 I Nr. 1 StGB erforderlich und ausreichend, dass das Opfer durch die Einwirkung des Täters zu einer qualitativ andersartigen, von ihm nicht gewollten Form der Prostitution bestimmt wird (Leits. d. Schriftltg.)
BGH, Urt. v. 27.05.2004 – 3 StR 500/03 (LG Oldenburg)
Zum Sachverhalt:
Die Nebenklägerin ging in Bordellbetrieben für den Angeklagten der Prostitution nach. Dieser beutete sie planmäßig aus und überwachte ihre Tätigkeit im Einzelnen. Als er erfuhr, dass die Nebenklägerin es abgelehnt hatte, mit Freiern den Geschlechtsverkehr auszuüben, die übergewichtig waren bzw. nach ihrem Eindruck an einer Geschlechtskrankheit litten, schlug er ihr mehrfach auf den Hinterkopf und trat ihr mit beschuhten Füßen in den Bauch. Er verlangte von ihr, künftig alle Freier ohne Ausnahme zu akzeptieren und mit ihnen ungeschützten Geschlechtsverkehr auszuüben. Weiterhin erklärte er ihr, sie könne ihr „eigenes Grab schaufeln“, wenn sie nicht mehr verdiene. Aufgrund der vorangegangenen Schläge und Drohungen kam die Nebenklägerin in der folgenden Zeit der Weisung des Angeklagten aus Angst nach und übte den Geschlechtsverkehr in einer Mehrzahl von Fällen mit übergewichtigen Freiern aus, die sie ohne die vorherige und fortwirkende Einschüchterung als Kunden abgelehnt hätte. Das Landgericht hat den Angeklagten – unter Freisprechung im Übrigen – wegen „ausbeuterischer und dirigistischer Zuhälterei in Tateinheit mit sexueller Nötigung, mit gefährlicher Körperverletzung und mit räuberischer Erpressung in vier Fällen, davon in zwei Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung“, wegen Nötigung und wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und eine Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis verhängt. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen. Seine Revision hatte teilweise Erfolg.
NStZ 2004, 682
Sexueller Missbrauch eines Jugendlichen gegen Entgelt
StGB §§ 182 I Nr. 1 Alt. 2, 11 I Nr. 9
Für die Verwirklichung des Tatbestandes des § 182 I Nr. 1 Alt. 2 StGB ist es ausreichend, dass sich Täter und Opfer vor oder spätestens während des sexuellen Kontaktes darüber einig sind, dass der Vermögensvorteil die Gegenleistung für das Sexualverhalten des Jugendlichen sein soll. Es genügt, wenn der Jugendliche zur Duldung oder Vornahme der sexuellen Handlung durch die Entgeltvereinbarung wenigstens motiviert wird. (Leits. d. Schriftltg.)
BGH, Beschl. v. 1.7.2004 – 4 StR 5/04 (LG Rostock)
Zum Sachverhalt:
Der Angeklagte gab sich dem 14-jährigen Martin Sch gegenüber wahrheitswidrig als Produzent pornografischer Filme aus und bot ihm an, für eine Gage von 10.000 Euro als Darsteller in einem solchen Film mitzuwirken. Unter dem Vorwand, die Geeignetheit als Darsteller feststellen zu müssen, führte der Angeklagte an dem Jugendlichen den Oralverkehr durch und sagte ihm im Anschluss daran die Teilnahme am „Casting“ zu. Martin Sch ließ die sexuelle Handlung im Hinblick auf die ihm vom Angeklagten in Aussicht gestellte Gage über sich ergehen. Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Jugendlichen unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus einem früheren Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen Führerschein eingezogen und bestimmt, dass ihm vor Ablauf von 12 Monaten keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf.
Seine Revision hatte hinsichtlich des Maßregelausspruchs Erfolg; im Übrigen war sie unbegründet.
NStZ 2004, 683
Erpressung durch Kaufhausdetektiv – „Fallen lassen der Anzeige“
StGB §§ 253, 299; StPO n. F. § 354 I Lit a S. 2; EMRK Art. 6
1. Eine Epressung und nicht nur eine für Angestellte straflose Bestechung liegt vor, wenn ein Kaufhausdetektiv zwar auf das Angebot von ergriffenen Ladendieben auf „Fallen lassen der Anzeige“ eingeht, sich jedoch nicht auf die bloße Entgegennahme eines angebotenen Vorteils beschränkt, sondern von sich aus eine bestimmte Gegenleistung fordert.
2. Auch nach In-Kraft-Treten der Vorschrift des § 354 I lit. a S. 2 StPO ist dem Revisionsgericht eine eigene Sachentscheidung durch Ermäßigung des Strafausspruchs möglich, wenn die Verfahrensverzögerung erst nach Erlass des letzten tatrichterlichen Urteils eingetreten ist.
3. Stellt die Staatsanwaltschaft einen Antrag nach § 354 lit. a S. 2 StPO, ist das Revisionsgericht an einen zugleich unterbreiteten Strafvorschlag nicht gebunden.
OLG Karlsruhe, Beschl. v. 20.10.2004 – 1 Ss 76/03
Zum Sachverhalt:
Die Zeugen P und S hatten den Angeklagten zunächst bei der Personalienfeststellung unmittelbar nach dem Ladendiebstahl, bei einem späteren Anruf im Büro des Angeklagten und schließlich bei einem Treffen in einer Gaststätte bedrängt, „ob man mit der Anzeige nicht etwas machen könne“. Hierbei wurde auch die Zahlung eines Geldbetrages besprochen. Die Grenze zur Strafbarkeit überschritt der Angeklagte in Abgrenzung zu einer straflosen bloßen Entgegennahme von Geld aber spätestens zu dem Zeitpunkt, als er von den Zeugen in der Gaststätte für das erstrebte „Fallen lassen der Anzeige“ einen Geldbetrag von zunächst „1.000 DM und nach Verhandlungen von 500 DM pro Dieb“ forderte.
Das Landgericht verurteilte den Angeklagten unter Verwerfung der Berufungen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen ein Urteil des Amtsgerichts mit Strafaussetzung zur Bewährung zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten, weil er am 7.9.2001 und in den darauf folgenden Tagen als bei der Firma B tätiger Kaufhausdetektiv gegen Zahlung eines Geldbetrages von insgesamt 1.000 DM von der Erstattung bzw. Weiterleitung von Strafanzeigen gegen die beim Ladendiebstahl am 7.9.2001 ergriffenen Zeugen P und S abgesehen hatte. Hiergegen wandte sich die Revision des Angeklagten, mit welcher dieser die Verletzung materiellen Rechts beanstandete. Das Rechtsmittel führte zur Änderung des Strafausspruchs und zur Herabsetzung der Strafe durch den Senat.
NJW 2004, 3724
II. STRAFVERFAHRENSRECHT
Wohnungsdurchsuchung bei Verdacht der Steuerhinterziehung
GG Art. 13 I, II; StPO §§ 103, 152 II, 160 I
1. Mängel bei der ermittlungsrichterlich zu verantwortenden, verfassungsrechtlich unabdingbaren Umschreibung des Tatvorwurfs und der zu suchenden Beweismittel in einer durch Vollzug erledigten Durchsuchungsanordnung können im Beschwerdeverfahren nicht geheilt werden. Hiervon zu trennen ist die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme von bei der Durchsuchung gefundenen Beweismitteln.
2. Einen erhöhten Verdachtsgrad, wie sie die akustische Wohnraumüberwachung nach Art. 13 III GG voraussetzt (vgl. BVerfG, NJW 2004, 999) verlangt die Wohnungsdurchsuchung gem. Art. 13 II GG nicht. (Leits. d. Schriftltg.)
BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschl. v. 20.4.2004 – 2 BvR 2043/03 u.a.
Zum Sachverhalt:
Anlässlich einer Untersuchungsmaßnahme der Steuerfahndung wurden bei einer Durchsuchung der Geschäftsräume mehrerer Sparkassen Zinscoupons sichergestellt. Die Coupons waren im Ausland eingelöst worden. Die Ermittlungen ergaben, dass sie zu einer Inhaberschuldverschreibung einer steuerlich nicht registrierten Person M gehörten. M ist der Mädchenname der Beschwerdeführerin. Die Ermittlungsbehörden erwirkten beim zuständigen Ermittlungsrichter einen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss für die Wohnung der verheirateten Beschwerdeführerin. Die Durchsuchung wurde vollzogen. Dabei wurde umfängliches Beweismaterial gefunden, das die Beschwerdeführer nach Belehrung freiwillig herausgaben. Nach einem Teilgeständnis der Beschwerdeführer und der Auswertung der Unterlagen kam es zu weiteren Durchsuchungs- und Beschlagnahmeanordnungen für die Wohnung und die Geschäftsräume von Banken, um Kontounterlagen der Beschwerdeführer zu beschlagnahmen. Der Antrag der Beschwerdeführer auf Aufhebung der Anordnungen wurde abgelehnt.
Die hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerden wurden nicht zur Entscheidung angenommen.
NJW 2004, 3171
Sperrung eines verdeckten Ermittlers
StPO §§ 244 II, 247; MRK Art. 6 III d
In Fällen, in denen selbst eine audiovisuelle Vernehmung unter optischer und akustischer Abschirmung nach Maßgabe der heutigen technischen Möglichkeiten die Gefährdung eines verdeckten Ermittlers an Leib oder Leben oder die Gefährdung seiner notwendigen weiteren Verwendung nicht verhindern können, muss es zwar bei der Sperrerklärung bleiben. An diese sind unter solchen Umständen aber strenge Anforderungen zu stellen; sie muss deshalb auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben. (Leits. d. Schriftltg.)
BGH, Beschl. v. 17.8.2004 – 1 StR 315/04 (LG Stuttgart)
Zum Sachverhalt:
Die Angeklagten sind wegen bewaffneten bandenmäßigen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge verurteilt worden. Ihre Revisionen bleiben ohne Erfolg. Die Angeklagten Ö und K rügen die Verletzung der Aufklärungspflicht und des fair-trial-Grundsatzes wegen Ablehnung der Vernehmung der Verdeckten Ermittler in der Hauptverhandlung.
Die Revision macht geltend, die Vernehmung der Verdeckten Ermittler hätte ergeben, dass der Mitangeklagte D, der von ihnen die Betäubungsmittel bezogen hatte, von den Verdeckten Ermittlern zu den Betäubungsmittelgeschäften provoziert worden sei. Für die Verdeckten Ermittler bestand eine Sperrerklärung des Innenministeriums Baden-Württemberg, die auch eine audiovisuelle Vernehmung unter optischer und akustischer Abschirmung umfasste. Seine Überzeugung davon, dass die Betäubungsmittelgeschäfte nicht von den Verdeckten Ermittlern provoziert worden, sondern auf Initiativen des D zu Stande gekommen seien, hat das Landgericht in erster Linie auf die Aussagen des D im Ermittlungsverfahren, auf umfangreiche Erkenntnisse aus der Telekommunikationsüberwachung sowie auf die Vernehmung des Führungsbeamten der Verdeckten Ermittler gestützt. Die Angeklagten und ihre Verteidiger hatten Gelegenheit, durch Vermittlung des Führungsbeamten konkrete Fragen an die Verdeckten Ermittler zu stellen.
NStZ 2005, 41
Verbotene Vernehmungsmethoden
StPO § 136a
Die rechtswidrige Drohung mit der Invollzugsetzung eines Haftbefehls kann dazu führen, dass das Geständnis des Angeklagten nicht verwertbar (§ 136a III S. 2 StPO) und der nach Verkündung des Urteils erklärte Rechtsmittelverzicht unwirksam ist (Leits. d. Schriftltg.)
BGH, Urt. v. 16.9.2004 – 4 StR 84/04 (LG Paderborn)
Zum Sachverhalt:
Josef N und Bernhard F flogen in der Zeit vom 3. bis zum 17. Mai 2002 in die Dominikanische Republik. Zweck der Reise war es, dass N und F – gegen Geldzahlungen des Angeklagten – jeweils eine junge dominikanische Frau heiraten und diesen so ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland ermöglichen sollten. Dabei hatte der Angeklagte von vornherein vor, beide Frauen hier für sich als Prostituierte arbeiten zu lassen. Durch Vermittlung des zu dieser Zeit in der Dominikanischen Republik lebenden Ehepaares Martin B und Anna Maria Christina G kam es zur Heirat zwischen Josef N und Elvida Monzanilla Fo sowie zwischen Bernhard F und Mariela S.R. Den beiden Frauen hatte der Angeklagte noch in ihrer Heimat mit Hilfe des als Dolmetscher fungierenden Martin B in Deutschland eine „ordentliche Arbeit“ in einem Restaurant oder Schönheitssalon versprochen. Nachdem sie in Deutschland eingetroffen und vom Ehepaar B und dem Angeklagten am Flughafen in Düsseldorf abgeholt worden waren, zwang sie Martin B, für ihn der Prostitution nachzugehen. Am 26.8.2002 ließ sie der Angeklagte ein notarielles Schuldanerkenntnis unterschreiben, in dem beide anerkannten, der Firma B.-S. GmbH, die kurz darauf vom Sohn des Angeklagten erworben wurde, jeweils 7.500 Euro zu schulden. Der Angeklagte bot den Frauen an, ihre Schulden entweder langfristig als Reinigungskräfte oder „zügig“ als Prostituierte „abzuarbeiten“. Beide entschlossen sich, die Schulden schnellstmöglich durch Prostitution abzutragen. Sie gingen sodann für den Angeklagten der Prostitution nach, der ihnen einen Großteil des dadurch verdienten Geldes abnahm.
Nachdem der Angeklagte die Vorwürfe zunächst bestritt, räumte er in der abschließenden Beweisaufnahme den Anklagevorwurf ein.
Gegen den Angeklagten war am 16.12.2002 wegen der zu erwartenden „erheblichen Freiheitsstrafe“, seiner guten Auslandskontakte und dadurch bestehender Fluchtgefahr Haftbefehl erlassen worden, der mit Beschluss
vom 28.1.2003 außer Vollzug gesetzt wurde.
In der Hauptverhandlung stellte der Verteidiger den Antrag auf Vernehmung des in der Dominikanischen Republik lebenden Ehepaares B, falls die Beweisaufnahme für seinen Mandanten „ungünstig ausgehe“. Der Vorsitzende äußerte daraufhin zu dem Verteidiger, dass durch diese Vernehmung im Ergebnis nichts zugunsten des Angeklagten zu erwarten sei und im Falle einer Aussetzung des Verfahrens vom Gericht die Außervollzugsetzung des Haftbefehls „überdacht“ werden müsse; denn der Angeklagte müsse nach der Einschätzung des Gerichts „klar erkannt haben…, dass seine Behauptungen widerlegt und bei einer Aussetzung bei vernünftiger Betrachtungsweise kein anderes Beweisergebnis zu erwarten sei, so dass damit die Fluchtgefahr des Angeklagten, der über umfangreiche Auslandskontakte… (verfüge), in einem anderen Licht betrachtet werden müsse.
Wenn der Angeklagte allerdings keinen Beweisantrag stelle, sondern ein Geständnis ablege, würde sich das Gericht mit einer Strafe von zwei Jahren und neun Monaten „zufrieden geben“.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren Menschenhandels zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Revision beanstandet er das Verfahren und rügt die Verletzung materiellen Rechts.
wistra 2004, 472
III. Andere Rechtsgebiete
Heranziehung zum Schadenersatz wegen falsch betanktem Dienstfahrzeug
LBG § 96 I 1
Der Beamte, der vorsätzlich oder grob fahrlässig die ihm obliegenden Pflichten verletzt, hat dem Dienstherrn den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen.
Der Beamte hat die ihm obliegende Verpflichtung zur Schadensabwendung da-durch verletzt, dass er ein Dienstfahrzeug des Landes mit dem falschen Kraftstoff – Superbenzin statt Diesel – betankt hat. (Leits. des Bearbeiters)
VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 22.9.2004 – 4 S 2258/03
Zum Sachverhalt:
Der Kläger steht als Polizeioberkommissar im Dienste des Beklagten. Am 7.8.2001 betankte er ein Dieselfahrzeug (Mercedes-Benz E 270 T CDI) der Beklagten mit Superbenzin statt mit Diesel und fuhr danach mit dem Fahrzeug zur Dienststelle. Bei der anschließenden Reparatur des Dienstfahrzeuges wurden u.a. fünf Düsen, der Kraftstoffbehälter, der Kraftstoffverteiler sowie die Hochdruckpumpe erneuert bzw. ausgetauscht. Gemäß Reparaturrechnung der DaimlerChrysler AG – Niederlassung Freiburg – vom 10.9.2001 fielen hierfür 4.477,38 EUR an, zu deren Erstattung der Kläger von dem Beklagten herangezogen wurde. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit folgender Begründung ab: Der Kläger hätte sich vor dem Tankvorgang darüber informieren müssen, mit welchem Kraftstoff das Dienstfahrzeug zu betanken sei. Der besonders schwerwiegende Pflichtverstoß liege darin, dass er dieses Fahrzeug zuvor noch nie betankt habe, daher nicht habe wissen können, ob es sich um ein Diesel- oder Benzinfahrzeug handele, trotzdem aber ohne einen – ohne weiteres möglichen – Blick auf die entsprechenden Hinweise auf dem Tankdeckel und der Betriebsanleitung Superbenzin getankt habe. Auch ohne spezielle Einweisung durch den Dienstherrn hätte dem Kläger klar sein müssen, dass er den PKW nur betanken dürfe, nachdem er sich zuvor über den richtigen Kraftstoff informiert habe.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückgewiesen.
(Beschl. in der Fachpresse noch nicht veröffentlicht)
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